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Eine Revolution sieht anders aus

Im Libanon rumort es gewaltig. Das Land, das halb so groß ist wie Hessen, erlebt eine Revolution. Der Nachbarstaat von Syrien und Israel ist seit mehr als 20 Tagen wie gelähmt. Das Fass zum Überlaufen brachte ein Vorschlag der Regierung, die Nutzung von WhatsApp zu besteuern. Ein Gastbeitrag von Lukas Reineck
Im Libanon ist die Situation durch die Revolution unklar. Das Land scheint gelähmt.

BEIRUT (inn) – Es ist Revolution im Libanon. Banken, Schulen und Universitäten sind vorübergehend geschlossen, die Hauptverkehrsstraßen blockiert, die Zufahrt zum Flughafen zeitweise komplett gesperrt. Es gibt wenige Ausnahmen: Für 100 Dollar können Menschen auf dem Rücksitz eines Motorrollers vom Flughafen nach Beirut fahren. Ein Schnäppchen versteht sich: bei drei Kilometern Entfernung.

Seit Beginn der Revolution Mitte Oktober demonstrierten eine Million Menschen friedlich auf den Straßen. Bei etwa sechs Millionen Einwohnern ist das eine beachtliche Zahl. Am 27. Oktober zog sich eine Menschenkette durch die Hauptstadt Beirut. Sie war ein klares Statement für friedliche Proteste. Für den Libanon ist das eine Sensation.

Politische Elite zum Abdanken bewegen

In den wichtigsten Städten waren die Menschen Tag und Nacht auf den Beinen. „Wir wollen, dass die Regierung uns eine Grundversorgung bietet. Wir brauchen eine funktionierende Müllentsorgung, verlässliche öffentliche Verkehrsmittel und eine durchgängige Elektrizität“, wünscht sich eine Beiruter Demonstrantin. Den Menschen geht es aber um mehr, viel mehr. Sie wollen das politisch-konfessionelle System im Zedernstaat verändern. Die politische Elite soll abdanken. Stattdessen soll es eine technokratische Regierung geben.

Die Regierung hat ihr Vorhaben zurückgenommen, die sozialen Medien mit 6 Dollar monatlich zu besteuern. An der miserablen Gesamtsituation des Landes ändert das wenig. Der Libanon hat enorme Schulden. Die Waldbrände in den Bergen zerstören die Umwelt, die syrischen Flüchtlinge sind eine weitere Herausforderung.

Solche und ähnliche Bilder sind in der Innenstadt der libanesischen Hauptstadt Beirut zu sehen Foto: Lukas Reineck
Solche und ähnliche Bilder sind in der Innenstadt der libanesischen Hauptstadt Beirut zu sehen

Der Staat ist seit seiner Gründung in den 1920er Jahren multi-konfessionell. Mehr als 18 Religionsgemeinschaften leben hier. Ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung sind Christen, darunter maronitische, griechisch-orthodoxe, armenische und protestantische Christen. Die Verfassung sieht vor, dass der Präsident maronitischer Christ, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit ist.

Präsident hat einen Drei-Punkte-Plan

Am 29. Oktober 2019 trat Sa’ad al-Hariri als Regierungschef zurück. Der Druck der landesweiten Proteste war ihm zu hoch. Al-Hariri produzierte Negativschlagzeilen, als bekannt wurde, dass er einem südafrikanischen Supermodel 16 Millionen Dollar aus seinem Privatvermögen überwies. Angeblich ohne Gegenleistung, sagte die Begünstigte.

Der libanesische Präsident Michel Aun sprach am 3.November während seiner Fernsehansprache von einem Drei-Punkte-Plan für den Zedernstaat. Der 84-Jährige möchte Korruption bekämpfen sowie eine libanesische Zivilgesellschaft und Wirtschaft aufbauen. „Das ist ein Witz. Jedem ist klar, dass die Fernsehansprache zusammengeschnitten war. Bei seiner Ansprache ist er mehrmals eingeschlafen. Unser Präsident ist nicht handlungsfähig“, belustigt sich ein Demonstrant in Beirut über den Fernsehauftritt.

Die islamisch-schiitische Hisbollah-Partei hielt sich bisher weitgehend zurück. Sie steht hinter der Regierung. Ihre Anhänger gingen nur einmal gewalttätig gegen die Demonstranten in der Beiruter Innenstadt vor. Die geistlichen Leiter der katholischen, orthodoxen und protestantischen Kirchen haben eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht: das „Bikri-Statement“. Es richtet sich an die Protestierenden, die Regierung und die internationale Gemeinschaft.

Preise für Grundnahrungsmittel haben sich verdoppelt

Auch auf dem Land demonstrieren die Menschen. Die Bekaa-Ebene im Grenzgebiet zwischen Syrien und Libanon konnte tagelang niemand bereisen. Mancherorts dienten brennende Autoreifen als Straßensperren. Mal sind die Straßen offen, mal gibt es kein Durchkommen. Nanor Kelenjian-Akbascharian leitet dort ein armenisch-evangelisches Internat. Sie schildert die Konsequenzen: „Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich verdoppelt. Wir hatten Probleme, mit unserem Budget für die Küche auszukommen. Die Schule ist seit Beginn der Revolution geschlossen. Die Internatskinder konnten keinen Unterricht besuchen. Wir mussten sie wieder zu ihren Eltern schicken, obwohl nicht immer klar war, ob die Straßen offen sind.“

Welche Richtung nimmt die Revolution, die bis heute keinen Namen oder einen Revolutionsführer hat, in den nächsten Wochen? Ihre Anhänger fordern Veränderungen. Doch wer aus dem Volk Verantwortung übernimmt, darauf kann keiner eine Antwort geben. Ein Abendspaziergang durch Beirut bietet ein unerwartetes Bild. Überall rauchen Menschen Wasserpfeife, verteilen kostenlos Essen und verschenken libanesische Flaggen an Passanten.

Demonstranten blockieren die Straßen mit Sofas. Darauf sitzen sie und lesen gemütlich Zeitung. Man sieht Stände von Umweltinitiativen, die über Recycling aufklären. Arabische Rap-Musik ist zu hören. Ein UN-Gebäude ist wegen des starken Straßenverkehrs von einer hohen Mauer umgeben. Jetzt ist diese zu einem Gesamtkunstwerk geworden. Streetart mit politischen Botschaften schmückt das ansonsten graue Bauwerk.

Konfessionelles System des Landes hat die Menschen getrennt

Die Menschen sind fröhlich, tanzen und flirten. Wer es nicht besser weiß, könnte denken, der Libanon habe die WM gewonnen oder feiere ein riesiges Volksfest. Eine Revolution sieht anders aus. „Die arabischen Worte für Party und Revolution klingen sehr ähnlich. Vielleicht ist das der Grund, warum die Revolution wie eine große Party wirkt oder wir Libanesen einfach gerne feiern“, sagt eine junge Frau über die Proteste und schmunzelt.

Doch noch ist nichts gewonnen. Der Premierminister ist zurückgetreten. Aber das heißt nichts. Al-Hariri hat während seiner Saudi-Arabien-Reise schon einmal den Rücktritt vom Rücktritt erklärt. „Das konfessionelle System hat die Menschen getrennt. Trotz der multi-konfessionellen Gesellschaft kennen sich die Menschen nicht. Beirut ist das beste Beispiel. Jede Konfession hat ihre eigenen Stadtteile und jeder lebte vor sich hin. Jetzt rücken die Menschen zusammen und lernen sich erstmals kennen“, erzählt eine palästinensische Ärztin in einer Bar. Sie lebt schon seit einigen Jahren im Libanon.

Bei der Fahrt durch Beirut fällt eines besonders auf: Es sind fast nur junge Menschen auf den Beinen. Obwohl die meisten älteren Menschen auch für die Revolution sind, halten sie sich bedeckt. Die Angst ist groß, wieder in einen blutigen Bürgerkrieg zu geraten. Die Erinnerung daran ist bei älteren Libanesen noch lebhaft im Gedächtnis. Für sie wäre es das schlimmste Szenario, was dem Libanon passieren könnte. Das kann niemand wollen.

Christen und Muslime stehen vor den gleichen Herausforderungen. Wie sollen sie mit dieser korrupten Regierung fertig werden? Zum ersten Mal in der modernen libanesischen Geschichte trennt sie nicht die konfessionelle Zugehörigkeit, sondern die libanesische Identität eint sie. Die libanesische Flagge ist dabei das wichtigste Symbol in diesen Tagen. Vielleicht ist das schon ein wichtiger Zwischenschritt hin zur Veränderung: Gemeinsam auf die Straße zu gehen und zu spüren, dass man gemeinsam meist mehr erreichen kann als getrennt.

Lukas Reineck arbeitet für die Hilfsorganisation Christlicher Hilfsbund im Orient e.V.

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