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„Passt auf, dass der Antisemitismus nicht wiederkommt!“

Er ist dankbar für den jüdischen Staat Israel, der sein Zuhause ist: der Holocaust-Überlebende Zvi Likwornik. Im Interview erzählt er vom Verlust seines Vaters und von guten Kontakten zu Deutschen.
In diesem Massengrab vermutet Zvi Likwornik die sterblichen Überreste seines Vaters

Zvi Harry Likwornik, 1934 geboren, stammt aus bescheidenen, aber behüteten Verhältnissen. Er wuchs in der durch einen großen Anteil von deutschsprachigen Juden geprägten Stadt Czernowitz auf, der Hauptstadt der damals rumänischen Bukowina, die heute zur Ukraine gehört. Dort erlebte er zuerst die sowjetische, dann die deutsch-rumänische Besatzung.

Als Siebenjähriger kam er in das Ghetto Bérschad in Transnistrien, wo er tagtäglich mit Hunger und Tod konfrontiert war, und seinen eigenen Vater neben sich sterben sah. Nach der Befreiung durch sowjetische Soldaten im Sommer 1944 kehrte er zurück ins sowjetische Czernowitz. Nach Kriegsende und nach einem Aufenthalt in einem britischen Internierungslager in Zypern kam er mit seiner Mutter nach Israel, wo sie nach kurzem Aufenthalt in dem Einwandererlager zusammen in Pardes Hanna südlich von Haifa lebten. Inzwischen lebt er seit vielen Jahren in Holon.

Foto: Hartung-Gorre Verlag

Als heute 85-Jähriger, der genauso wie seine 78-jährige Frau Ruth erst vor kurzem eine schwere Krankheit durchmachte, reflektiert er über sein Leben und beantwortet uns einige Fragen. Er beschrieb sein Leben ausführlich in seiner Autobiografie „Als Siebenjähriger im Holocaust: Nach den Ghettos von Czernowitz und Bérschad in Transnistrien ein neues Leben in Israel 1934-1948-2012″, die von Galia Ben Tov aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt wurde und 2012 im Hartung-Gorre-Verlag Konstanz erschienen ist. Das Buch wurde von dem Historiker Erhard Roy Wiehn herausgegeben und ist mit vielen Anmerkungen und Hinweisen auf Literatur zum jüdischen Leben und dem Holocaust in Rumänien und der Ukraine, in Sibirien und Transnistrien versehen.

Israelnetz: Welche Erinnerungen hast du an deine Heimatstadt, Czernowitz?

Zvi Harry Likwornik: Czernowitz verfolgt mich fortwährend. Seitdem ich als Kind die Stadt verlassen musste, kann ich die Erinnerungen nicht mehr loslassen, sie begleiten mich das ganze Leben. Czernowitz war eine jüdische Stadt, circa 40 Prozent der Einwohner waren Juden. Und es wurde Deutsch gesprochen, in den Schulen hat man nur Rumänisch gelernt. Immer lebe ich in der Hoffnung, die Stadt noch einmal zu besuchen. Aber in meinem Alter ist das schon zu viel. Wir haben in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt, in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Küche, ohne Toilette und laufendes Wasser. In der Nähe vom Schillerpark, mit einer sehr schönen Aussicht auf die Vorstadt Rosch.

Die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem würdigt mit dieser Inschrift die jüdische Gemeinde in Czernowitz Foto: Nicolas Dreyer
Die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem würdigt mit dieser Inschrift die jüdische Gemeinde in Czernowitz

Wie gehst du mit den Schrecken der Vergangenheit um?

Die Erinnerungen an meine Vergangenheit sind immer da, eine solche Vergangenheit kann man niemals vergessen. Ich habe im Alter von siebeneinhalb Jahren meinen Vater im Konzentrationslager verloren, meinen Vater, der mir mein ganzes Leben gefehlt hat. Ich erinnere mich ganz genau an seinen Tod, und diese Erinnerungen verfolgen mich immer wieder. Aufzuwachsen als Kind ohne Vater, ganz besonders in jener schrecklichen Kriegszeit, war sehr schwer. Meine Kinder sind ohne Großvater aufgewachsen. Mein Vater fehlt mir noch heute, wo ich selbst schon 85 und Großvater bin.

Welche Lehre deines Lebens möchtest du mit uns teilen?

Ich habe gelernt, dass das Leben nicht leicht ist, und man kämpfen muss, um schlechte und schwierige Zeiten überleben zu können. Ich lebte in einer Epoche, die sehr, sehr schwierig für Juden war. Es war nicht leicht, diese Zeit zu überleben, es war mit vielen Schwierigkeiten verbunden. Es war eine Zeit, in der ich die ganze Zeit Hunger hatte, an Kälte litt und verlaust war. Der ganze Körper war von Läusen zerfressen. Es war eine Zeit, in der man fortwährend in Verbindung mit Mord war, mit toten Leuten. Wir haben in einem Stall geschlafen und in der Früh‘ lag neben mir ein Kadaver, ein Mensch, der tot war. Genauso ist mein Vater neben mir tot zusammengebrochen, nachdem er meiner Mutter zurief, er falle zusammen und sie müsse sich jetzt alleine um die Kinder kümmern. Erst spät, als sein Körper neben mir erkaltet war, verstand ich, dass mein Vater tot war. Ich frage mich heute, wie es möglich war, dass ich lebe und diese Zeit überlebt habe. In meiner ganzen Umgebung waren immer wieder Tote.

Gab es Hilfe für euch?

In jener Zeit hat uns niemand geholfen. Als die Russen uns befreit haben, wofür ich sehr dankbar bin, waren sie sehr hungrig und haben uns nicht helfen können. In anderen Teilen Europas, in denen die Konzentrationslager befreit wurden, bekamen die Überlebenden Hilfe von Engländern, Franzosen, Amerikanern. Aber die sowjetischen Soldaten hatten selbst keine Mittel, um uns zu helfen.

Wie war deine Jugend nach der Scho’ah?

Ich kam mit 14 1⁄2 Jahren nach Israel und bin sofort arbeiten gegangen. Ich war um sechs Uhr früh schon bei der Arbeit in einer Textilfabrik. Keine Schule, ich bin niemals im Leben in eine Schule gegangen. In der Anfangszeit lernte ich das Lesen auf der Straße, als ich Straßenschilder und Plakate entziffern musste, und durch die Hilfe von Mitmenschen. Damals war ich nicht der einzige, der so etwas erlebt hat. Ich arbeitete weiter als Verkäufer in einem Textilgeschäft und diente selbstverständlich in der israelischen Armee (zum Glück herrschte damals kein Krieg), so wie es danach meine Söhne getan haben und wie es heute meine Enkel tun.

Was war der schönste Moment in deinem Leben?

Die Geburten meiner Kinder waren die schönsten Momente!

Was freut dich heute am meisten?

Dass ich Nachkommen habe, zwei Kinder und sieben Enkelsöhne, als Überlebender ist das für mich sehr viel.

Wer ist die wichtigste Person in deinem Leben?

Die wichtigste Person in meinem Leben ist meine Frau für mich, Ruth. Sie ist meine Lebensgefährtin, sie ist für mich eine große Hilfe, ohne sie kann ich mir das Leben nicht vorstellen, und natürlich ist sie die Mutter meiner Kinder und Großmutter meiner Enkel. Wir sind seit fast 50 Jahren verheiratet – ich bin heute 85 Jahre alt, Ruth ist 78 Jahre alt. Sie ist gelernte Krankenschwester, arbeitete fast 40 Jahre im Ichilow-Krankenhaus in Tel Aviv. Meine Frau ist hier im Land geboren, ihre Eltern sind 1935 aus Italien gekommen, sie sind wegen der Faschisten ausgereist. Sie spricht perfekt Italienisch und kam aus einer bekannten italienischen, religiösen Familie, sie war die jüngste von sechs Kindern. Wir wohnen seit 22 Jahren in unserer Wohnung, im siebten Stock eines Hochhauses mit Blick auf das Mittelmeer und Tel Aviv.

Ist dankbar für seine Familie: Zvi Likwornik im November in Holon Foto: Nicolas Dreyer
Ist dankbar für seine Familie: Zvi Likwornik im November in Holon

Was bedeutet Israel für dich?

Israel, die Tatsache, dass Israel damals gegründet wurde, bedeutet für mich, dass ich ein Zuhause habe. Dies ist für mich, und ich glaube für viele Überlebende, sehr viel, dass wir eine eigene Heimat haben. Für mich ist selbstverständlich, dass Israel sich so entwickelt hat, dass wir Juden dazu fähig sind, das Land so zu entwickeln. Wir haben dazu beigesteuert, dass auch Europa und andere Länder sich entwickeln. Das war ein Teil unseres Seins und Schaffens. Als Überlebender bin ich glücklich, in Israel zu leben, in einem freien Land, einer freien eigenen Heimat, dass wir in Frieden leben, denn von Kriegen habe ich genug.

Was bedeutet das Judentum für dich?

Wir sind als Juden geboren und wir bleiben immer Juden – wie auch unsere Kinder und Eltern, und wir haben das ganze Leben gelitten als Juden. Ich bin nicht religiös. Der Grund dafür ist, dass ich ohne Vater aufgewachsen bin. Hätte mein Vater gelebt, wäre ich mit ihm in die Synagoge gegangen, und hätte den Glauben bewahrt. Es ist selbstverständlich für mich, dass ich Jude bin, und es war niemals ein Problem für mich, abgesehen von den Zeiten, in denen ich gelitten habe, weil ich Jude war. Aber in Israel zu leben, als Jude, ist etwas Selbstverständliches, und das ist problemlos.

„Als Überlebender bin ich glücklich, in Israel zu leben, in einem freien Land, einer freien eigenen Heimat, dass wir in Frieden leben, denn von Kriegen habe ich genug.“

Was denkst du über den israelisch-palästinensischen Konflikt?

Ich bin der Meinung, dass es gut für beide Teile wäre, Frieden zu schließen. Wir können daran teilnehmen, den arabischen Nachbarländern zu helfen, sich zu entwickeln. Für Israel wünsche ich mir Frieden und weitere gute Entwicklung, denn Kriege hatten wir genug.

Welchen Bezug hast du heute zu Deutschen?

Es war für mich eine ganz große Überraschung, dass ich, als ich in dem Jahr 2002 eine Hamburger Familie kennenlernte, sofort angenehmen und freundschaftlichen Kontakt hatte. Wir haben uns richtig verstanden, sie sind sehr liebe Menschen und wir sind richtig gute Freunde geworden. Mich als Überlebender mit deutschen Freunden verbunden zu wissen ist für mich sehr wichtig. Wir haben uns einige Male besucht, sie bei uns und wir bei ihnen. Es ist für mich ein ziemlich großes Wunder, dass ich mit einer deutschen Familie befreundet sein kann. Es war für mich sehr wichtig, zu einem deutschen Publikum, unter anderem in Hamburger Schulen und der Polizeischule, über meine Vergangenheit in jener schrecklichen Zeit zu sprechen. Ich bin auch in Berlin aufgetreten, vor einem Publikum mit mehr als 100 Leuten. Es war in der rumänischen Botschaft, wo ich geehrt wurde, auch für mein Buch mit meiner Lebensgeschichte, das kurz zuvor auf Deutsch herausgekommen war. Die Zuhörer waren sehr betroffen, als ich ihnen aus meinem bewegenden Leben berichtete. Etliche Bücher wurden damals verkauft. Ich finde es sehr wichtig, dass dieses Buch geschrieben und ins Deutsche übersetzt wurde, so dass besonders die Deutschen es lesen können.

War es dir möglich, in den vergangenen Jahren den Ort deines Leidens, wo du deinen Vater verloren hast, nochmals aufzusuchen?

Ja, im Jahr 2011 war es mir möglich, mit dem befreundeten Ehepaar aus Hamburg und mit Hilfe ihres Ukrainisch und Moldawisch sprechenden Freundes nach Bérschad in Transnistrien zu fahren. Diesmal nicht als ein Verfolgter der Nazis, sondern als ein freier Bürger des 1948 gegründeten Staates Israel. Es war einer der bewegendsten Augenblicke in meinem Leben.

Schließlich fanden wir das Massengrab mit einem großen Gedenkstein. Ich nahm an, dass auch mein Vater hier begraben liegt, sagte „Kaddisch“, das jüdische Totengebet, zu seinem Gedenken, und verstreute ein wenig Erde, die ich vom Grab meiner Mutter aus Israel mitgebracht hatte. Ich fühlte, dass ich mich endlich von der schweren Last befreit hatte, die Bérschad auf meiner Seele hinterlassen hatte, und dass ich nun nicht mehr hierher zurückkehren müsste.

Welchen Rat gibst du jungen Menschen, besonders in Deutschland?

Sich für den Holocaust zu interessieren, über ihn zu lernen, und alles zu tun, dass das niemals wieder geschehen kann; und aufzupassen, dass der Antisemitismus nicht wieder hochkommt. Als Deutsche müsst ihr schon sehr aufpassen, dass nicht noch einmal Antisemitismus hochkommt und so etwas wie der Holocaust sich ereignet.

Was ist dein letztes Wort an uns?

Hoffentlich wird alles gut!

Die Fragen stellte Nicolas Dreyer

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