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„Ben-Gurion suchte nach einem Judentum ohne Gott“

Der Historiker Tom Segev hat eine umfangreiche Biographie über den Staatsgründer David Ben-Gurion verfasst. Mit Israelnetz sprach er über den Glauben des Staatsmannes, dessen aktuelle Beliebtheit – und über eine eindrucksvolle Begegnung.
Entspannt beim Gespräch in Frankfurt am Main: Der Historiker Tom Segev

Israelnetz: Herr Segev, Sie haben schon viele bekannte und beliebte Bücher zur Geschichte Israels verfasst – etwa über den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal oder das Palästina vor der Staatsgründung. Nun haben Sie – zum 70. Geburtstag des Staates Israel – eine Biographie von David Ben-Gurion vorgelegt. Wie kam es dazu?

Tom Segev: Bei dem Buch über Simon Wiesenthal habe ich gemerkt, wie schön es ist, eine Biographie zu schreiben. Das hätte ich vorher nicht gedacht. Und für mich war klar: Wenn schon, dann muss ich eine über Ben-Gurion schreiben. Die wichtigsten Biographien sind vor 40 Jahren geschrieben worden. Seither ist ungeheuer viel Material zugänglich gemacht worden, zum Beispiel die Protokolle der Regierungssitzungen. Dazu kommt, dass es in Israel schon seit einigen Jahren ein sehr großes Interesse an Ben-Gurion gibt.

Woher rührt das Interesse?

Das ist Ausdruck einer Sehnsucht nach einem Staatsmann mit Visionen und Glaubwürdigkeit. Wir leben jetzt neun Jahre unter Benjamin Netanjahu. Es gibt viele Gründe, warum verschiedene Menschen ihn unterstützen. Aber ich habe noch niemanden getroffen, der ihm Glaubwürdigkeit zuschreibt. Ben-Gurion ist ein Symbol eines glaubwürdigen Politikers und Staatsmanns.

Was würde Ben-Gurion zu seiner neuen Beliebtheit sagen?

Er würde diese Beliebtheit wohl ausnutzen, um seine Vision umzusetzen. Er hätte sich gefragt, wie das seine Sache fördert – und nicht so sehr, was es für ihn persönlich bedeutet. Ben-Gurion war immer sehr umstritten. Er hat bei keiner Wahl mehr als ein Drittel der Stimmen bekommen; es gab also immer zwei Drittel der Wähler, die ihn nicht unterstützt haben. Aber er hat sich meistens bemüht, die umstrittenen Themen, etwa die Frage der Beziehungen zu Deutschland, nicht auf persönlicher Ebene anzugehen. Die Sache selbst war ihm wichtiger.

Sie sagen, Ben-Gurion habe erst im hohen Alter angefangen, an Gott zu glauben – weil er die Erfindung einer Maschine, die genaue Berechnungen vornehmen kann, einer höheren Macht zuschrieb. Meinte er das ernst mit Gott oder war das nur eine Schwärmerei?

Ben-Gurion hat lange nach einem säkularen Judentum gesucht. Aber er hat es niemals gefunden. Als Jugendlicher konnte er noch behaupten, dass nicht Gott das jüdische Volk auserwählt hat, sondern das jüdische Volk Gott auserwählt hat. Und er hat als Atheist gelebt: Er hat Schweinefleisch gegessen, er hat am Jom Kippur gearbeitet. Ihm hat auch der Buddhismus imponiert, weil das eine Religion ohne Gott ist. Aber je älter er wurde, desto weniger eindeutig erklärt er, dass er nicht an Gott glaubt. Am Ende seines Lebens hat er dann auf die Frage, ob er an Gott glaube, mit Ja geantwortet.

Er hat sich zeit seines Lebens sehr intensiv mit den Propheten befasst.

Das Alte Testament war für ihn ein nationales Dokument – und dabei gerade die Propheten. Die waren für ihn die Urväter des Zionismus. Er hat seinen Zionismus verstanden als eine moderne Form der Dinge, von denen die Propheten des Alten Testamentes gesprochen haben. Er kannte das Alte Testament ungeheuer gut. Es ist wirklich erstaunlich, was er alles zitieren konnte, und was er alles wusste – weil das für ihn wirklich das zionistische Testament war.

Ist es so auch zu erklären, dass er 1958 das Internationale Bibelquiz ins Leben gerufen hat?

Ganz genau. Er wollte, dass alle das Alte Testament lesen, dass Hebräisch gesprochen wird, dass die Kinder hebräische Namen tragen und alle die hebräische Kultur lernen. Damals war alles „hebräisch“. Auch zu Israel hat man manchmal „hebräischer Staat“ gesagt. Und diesen Eifer hatte er schon als Jugendlicher: Mit 14 Jahren hat er sich Hebräisch beigebracht. Als Premier hat er jeden Samstagabend eine Gruppe von Gelehrten zu sich nach Hause eingeladen. Die haben zusammen das Alte Testament gelesen.

Trotz dieses Eifers – zu Jerusalem hat Ben-Gurion ein kühles Verhältnis gehabt. Dennoch hat er 1949 gegen Widerstände durchgesetzt, dass Jerusalem zur Hauptstadt wird. Welche Motivation steckte dahinter?

Ausschlaggebend war ein UNO-Beschluss, demzufolge ganz Jerusalem nach dem Krieg unter internationale Verwaltung gestellt werden sollte – wie es schon die Resolution von 1947 vorgesehen hatte. Daraufhin hat Ben-Gurion gesagt, dass das nicht zu akzeptieren ist, zumal in Westjerusalem, das unter israelischer Kontrolle war, 100.000 Juden lebten. Da war auch viel Trotz im Spiel – und Symbolik. Mit dem Krieg hat Ben-Gurion die symbolische Bedeutung Jerusalems verstanden. In Jerusalem ist alles symbolisch. Aber persönlich hat ihn nichts zu Jerusalem gezogen. Für ihn lebten in Jerusalem viel zu viele orthodoxe Juden, und viel zu viele Araber. Er konnte weder die einen noch die anderen leiden.

Ebenfalls gegen massive Widerstände hat er die Beziehungen zu Deutschland entwickelt. Das führte mindestens dreimal (1957, 1959, 1963) zu einer Regierungskrise. Steckte dahinter mehr als nur Pragmatismus?

Das war ein vernünftiger Beschluss von einem Staatsmann mit weiter Sicht. Man kann diese Geschichte von hinten erzählen: Heute ist Deutschland das zweitwichtigste Land für Israel – und das hat Ben-Gurion damals schon gesehen. Auch dass es mit amerikanischer Hilfe ein sehr wichtiges Land auch in der NATO wird – Ben-Gurion spielte mit der Idee, dass Israel vielleicht in die NATO aufgenommen wird. Aber zuallererst spielte die wirtschaftliche Lage Israels eine Rolle. Die sogenannten Wiedergutmachungszahlungen waren ein Lebensretter für den Staat – da sind sich alle Wirtschaftshistoriker einig. Auch auf der persönlichen Ebene hat es zwischen Ben-Gurion und Bundeskanzler Adenauer funktioniert: Ben-Gurion verehrte Adenauer. Er sah ihn als einen Staatsmann, der das historische Schicksal seines Volkes neu gestaltet. Später verehrte er ihn auch, weil er so alt geworden ist. Irgendwo hat er gelesen, dass Adenauer eine Spritze bekommen hat, die ihm seine Jugend zurückgibt. Dann hat er den Hauptarzt der Armee nach Europa geschickt, um diese Spritze zu finden. Der kam zurück und sagte ihm, dass es so eine Spritze nicht gibt. Das war eine der exzentrischen Erscheinungen bei Ben-Gurion.

Sie haben Ben-Gurion 1968, nach seiner Zeit als Premier, interviewt. Welchen Eindruck hatten Sie damals von seiner Persönlichkeit?

Für mich war dieses Interview eines der tiefsten Erlebnisse, die ich jemals hatte. Ich hatte den Eindruck, mir sitzt jüdische Geschichte gegenüber. Auf mich hat er einen nachdenklichen Eindruck gemacht. Er war in der Vergangenheit versunken. Auch traurig, enttäuscht, und sehr, sehr einsam. Er hatte viel Zeit für uns. Er hat eine halbe Stunde für jede Frage verwendet. Auf einmal hat er angefangen, uns von seiner Frau Polla zu erzählen, die kurz zuvor verstorben war. Er sagte, er habe noch ein Kind haben wollen, Polla habe aber nicht gewollt. Wir waren erschüttert, dass er uns einen so intimen Einblick in sein Leben gewährte. Aber das war ein Ausdruck von Einsamkeit. Er hat uns auch weismachen wollen, dass er schon mit drei Jahren Zionist gewesen sei, auch auf Nachfrage beharrte er darauf. Ich habe mir damals gedacht, dass das schon eine Alterserscheinung war. Er war damals wohl nicht mehr ganz mit der Realität verbunden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Daniel Frick

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