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Keine Juden, kein Segen

Die Bevölkerung Israels setzt sich aus orientalischen und europäischen Juden zusammen. An vielen Stellen gleichen Kultur, Sprache und Gewohnheiten der Orientalen denen der muslimischen Nachbarn, mit denen sie über Jahrhunderte zusammen lebten.
Das traditionelle Kubbe-Gericht gehört bei Familie Israel fest zum Freitagmittag
Es ist Freitagmittag, als Sarai ihre Großeltern Sara und Jona besucht. Der Jerusalemer Stadtteil Katamon hat seinen eigenen Charme; die Gebäude sehen aus, als sei die Zeit vor einigen Jahrzehnten stehengeblieben. Die sengende Mittagshitze hat sich über die geräumige Terrasse vor der gemütlichen Wohnung der Familie Israel gelegt. Diese ist mit Blumenbeeten umziert, und auch die in den meisten israelischen Haushalten vorhandenen Plastikstühle der Firma „Keter“ sind zahlreich vorhanden. Sarai geht durch die geöffnete Tür, direkt ins Wohnzimmer: „Warum kommst du erst jetzt? Wo warst du so lange? Warum bist du nicht öfter hier?“, wird Sarai von ihrer Großmutter in typisch irakischer Manier empfangen. Sarai grinst verständnisvoll und nimmt ihre Oma liebevoll in den Arm. Beim Betreten des Hauses fällt sofort der Haussegen an der Wand ins Auge. Sarais Großeltern sind religiöse Juden, was unter anderem durch die Kippa des Hausvaters sowie Perücke und Kleidungsstil der Dame des Hauses schnell ersichtlich ist.

Kubbe für Familie und Nachbarn

„Freitagmittag ist Kubbe-Zeit“, erklärt Sarai. Das ist der Treffpunkt für die ganze Familie. Auch Nachbarn und Freunde wissen sich eingeladen. Wer zwischen 11 und 14 Uhr kommt, kann sicher sein, dass er etwas Gutes zu essen bekommt. Kubbe ist ein Gericht aus der Levante, das sowohl von Juden als auch von Muslimen zubereitet wird. „Kubba“ heißt auf Arabisch Kuppel und tatsächlich – wie eine Kuppel sind die halbfaustgroßen Bällchen aus Bulgur, den grob zerriebenen Weizenkörnern, geformt. Es gibt unzählige Varianten. Allen gemein ist, dass sie mit Gehacktem oder Kochfleisch gefüllt sind. Wenn sie allein gegessen werden, sind sie häufig frittiert. Bei der jüdisch-kurdischen Variante werden die Bällchen mit verschiedenen Gemüsesorten und in Soßen serviert. Sellerie, rote Bete, Möhren und Kartoffeln als Zutaten – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auf einem hochgestellten Gaskocher köchelt ein Gericht für den anstehenden Schabbat vor sich hin. Die drei verschiedenen Kubbe-Sorten hat Sara die ganze Woche vorbereitet: „Ich friere sie ein und nehme sie dann nach Bedarf aus dem Gefrierfach.“ Saras Muttersprache ist Arabisch, und auch wenn sie dieses im Alltag kaum noch spricht – bis heute schaut sie die beliebten kitschigen Fernsehserien aus der Türkei, die ins Arabische synchronisiert und in den arabischen Fernsehsendern sehr beliebt sind. Auch moderne Kochsendungen schaut sie gerne an, doch über das Essen in Restaurants schüttelt Sara nur verständnislos den Kopf: „Pommes zum Beispiel schmecken bei mir am besten. Die Aschkenasen verstehen vom Kochen gar nichts.“ Die Wände hängen voller Familienfotos: Hochzeiten und Bar-Mitzva-Feiern der Kinder und Enkel. Saras Sohn hat Bilder ihrer Eltern auf zwei Leinwände drucken lassen. Die hängen nun über der Wohnzimmertür. Es sind Fotos aus dem Irak, zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Es sind Bilder aus einer anderen Welt, doch Jonas Augen leuchten, wenn er von seiner Kindheit im Irak erzählt: „1933 wurde ich als sechstes Kind und erster Sohn geboren. Kannst du dir vorstellen, was das in der arabischen Kultur bedeutet? Fünf Mädchen und dann plötzlich ein Junge! Wie ein Prinz wurde ich behandelt!“ Wer den rüstigen Mittachtziger erlebt, hat keinen Zweifel an dieser Aussage. Bis heute hat Jona sein sonniges Gemüt nicht verloren. Er scherzt mit der Nachbarin genauso wie mit den Freunden seiner Enkel: „Das Leben ist ernst genug“, erklärt er. „Da muss ich selber nicht auch noch ernst sein.“ „1950 sind wir aus dem Irak gekommen. Ich war damals ungefähr 17 Jahre alt.“ Sein genaues Geburtsdatum kennt Jona nicht, die Papiere sind bei der Flucht verloren gegangen. „Als mein Vater im Dorf erzählte, dass wir weggehen würden, weinte unser Nachbar Hussein. Mein Vater fragte: ‚Warum weinst du? Du bekommst unser Haus. Es hat acht Zimmer und einen Garten. Da hast du doch keinen Grund zu weinen.‘ Aber Hussein schaute ihn nur verwundert an: ‚Das alles ist doch nichts wert! Wo es keine Juden gibt, gibt es auch keinen Segen.‘“ Jona schaut nachdenklich, als er erzählt: „Damals gab es keinen Unterschied zwischen Juden und Muslimen. Und heute unterscheiden wir zwischen Juden und Muslimen. Und zwischen Misrachim, Juden aus der arabischen Welt, sowie Aschkenasim, europäischen Juden. Wir Misrachim sind doch den Muslimen in Kultur und Sprache sehr ähnlich und von den Aschkenasen unterscheiden wir uns stark. Und trotzdem sind wir alle Juden.“

Flucht aus dem Irak

Jona erzählt, wie seine Familie mit den sechs Kindern 1950 aus Dohok nach Mossul fuhr und von dort mit dem Zug nach Bagdad. Dort konnte sie in der jüdischen Gemeinde unterkommen, die ihnen nach ein bis zwei Monaten auch den Flug bezahlte. „Auf dem Flug nach Zypern nahmen uns die Iraker am Zoll alle Wertsachen ab.“ Als Jona das erzählt, fällt Sara ihm ins Wort: „Selbst die Eheringe haben sie meinen Eltern abgenommen.“ Auch Saras Familie kam 1950 nach Israel, sie selbst war damals 13 Jahre alt. Jona berichtet: „In Zypern haben wir auf dem Flughafen auf Matratzen geschlafen. Und dann kamen wir in Haifa an. Mein Vater fragte verwundert: ‚Das soll Jerusalem sein? Wo ist denn nur Jerusalem? Und warum rauchen die Menschen hier am Schabbat? Und weshalb fahren am Schabbat Autos auf der Straße?‘ Alles war neu und ungewohnt.“ Sara stammt aus Sundor und flog mit ihrer Familie von Bagdad direkt nach Israel. Bereits im Irak hatten sich Jona und Sara kennengelernt, doch angefreundet haben sie sich, als sie sich später in Jerusalem trafen. 1959 heirateten sie. Heute haben sie drei erwachsene Töchter und vier Söhne sowie 27 Enkel und neun Urenkel. Bis die Kinder groß waren, war Sara Hausfrau. Jona arbeitete lange auf dem Bau und später als Hausmeister im Premierministerbüro. Ein Sohn der Familie ist Diplomat und als solcher öfter für einige Jahre im Ausland unterwegs. Sara seufzt: „Eine Enkelin wohnt mit ihrer Familie in Amerika.“ Doch die meisten leben in Israel. Eine Tochter arbeitet an der Hebräischen Universität, ein Sohn ist Busfahrer, den Kindern geht es gut und Sara fasst zusammen: „Wir haben ein gutes Leben hier.“

Die tüchtige Frau

Inmitten der wohnzimmerlichen Fotowand hängt ein Bild, auf dem in Textform eine Frau gemalt ist, die neben zwei entzündeten Kerzen, zwei Hefezöpfen und einer Weinkaraffe einen Segen spricht. Frau und Text bilden die Eschet Chail ab, die „tüchtige Hausfrau“, wie sie im 31. Kapitel des biblischen Sprüchebuches beschrieben wird. Die Verse 10-31 sind im Hebräischen als Akrostichon geschrieben, jeder Vers fängt also in der Reihenfolge mit einem anderen Buchstaben des Alphabets an. Der jüdischen Überlieferung nach beschreibt Salomos Mutter Batscheva ihrem Sohn die idealen Eigenschaften einer tüchtigen Ehefrau: Klug soll sie sein, fleißig und den Herrn fürchtend. Daher wird in vielen jüdischen Familien am Freitagabend, zum Beginn des Schabbats, dieses Loblied auf die Frau des Hauses gesungen. Auf das Bild angesprochen, lächelt Jona verschmitzt seine Sara an: „Ja, so eine tüchtige Frau habe ich tatsächlich bekommen.“ Die Eschet Chail selbst möchte davon nicht viel hören und winkt ab: „Möchte noch jemand Kubbe essen?“ Stolz erzählt sie, dass vor einigen Jahren eine australische Familie an ihrem Haus vorbei gegangen sei. Diese habe neugierig auf die Terrasse geschaut und Sara habe sie schließlich zum Kubbe essen eingeladen. „Es hat ihnen so sehr gefallen. Später haben sie uns geschrieben und gestrickte Pullover geschickt.“ Das Telefon klingelt, Sara spricht mit ihrer Schwester. Währenddessen kommt die Nachbarin Sima zu Besuch und bedankt sich für die Dose Kubbe, die ihr Enkel zuvor abgeholt hat. Jona plaudert kurz mit ihr und zieht sich dann in sein Zimmer zurück: Er möchte Radio hören, eine Auslegung zur Paraschat HaSchavua, dem Wochenabschnitt. In einem Jahr lesen Juden am Schabbat in der Synagoge die gesamte Torah, die fünf Bücher Mose, durch. Als die Tochter später kommt, schaut sie zu Jona ins Zimmer. Leise kommt sie heraus und lacht: „Er schläft. Mama, bitte sag ihm, dass ich ihm Hallo gesagt hab‘.“ Auch Sarai verabschiedet sich für heute. Sie schließt das kleine Tor zur Terrasse und ruft ihrer Oma durch den Zaun zu: „Schabbat schalom, safta.“ Es ist still am Freitagnachmittag in Katamon. (mh)

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