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Eine Familiengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg

Die Großeltern des französischen Juden Eitan Simanor sind kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gestorben, seine Eltern sprachen nie über die Zeit des Holocaust. Doch Eitan wollte das Schweigen brechen. In Kurzvideos und Fotos thematisiert der Fotograf die Geschichte seiner Familie und diese dunkle Epoche.
Die Fotografie ist Eitans Leidenschaft, die Kamera sein ständiger Begleiter. Unter anderem dokumentiert er damit Geschichten von Holocaustüberlebenden.

Sein Geburtsname ist Simmenauer, doch als Eitan in den 80er Jahren nach Israel auswandert, ändert er ihn: „Simanor klingt hebräischer. Außerdem ist es ein Wortspiel: Siman Or – Lichtzeichen, das ist doch auch in der Fotografie sehr wichtig.“

Eigentlich hält Eitan die Geschichte seiner Familie im Holocaust für uninteressant. „Sie ist eine von Millionen.“ Trotzdem ist es Eitan wichtig, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Inspiriert habe ihn ein Artikel des französischen Historikers Ivan Jablonka. „Er sagt, dass sechs Millionen tote Juden für den Außenstehenden nicht fassbar sind. Wenn der Zuhörer aber von sechs Einzelschicksalen hört, kann er sich damit identifizieren. Nach diesem Muster habe ich versucht, von meinen Großeltern zu erzählen. Ich suchte mir zwei Paare aus, die sich niemals begegnet sind, obwohl ihre Voraussetzungen so ähnlich waren. Ihre Schicksale sind so unterschiedlich, und doch miteinander verwoben.“ Als Ergebnis steht unter anderem der zehnminütige Film „Eine Scho‘ah und zwei Schicksale“, den Eitan auf seiner Website veröffentlicht hat.

Die Präsentation dokumentiert vor allem die Geschichte seiner Familie. Jeder einzelne habe seine eigene tragische Vergangenheit, doch niemand von ihnen sei im Konzentrationslager umgekommen, erklärt er. „Daher wurde ihr Leiden lange nicht als solches wahrgenommen.“

In dem Kurzfilm erzählt Eitan von Clara und Siegbert Simmenauer sowie von Erich und Helene Simons. Beide Paare hatten kurz nach dem Ersten Weltkrieg geheiratet. Eitan gibt jeweils die drei Namen und Geburtstage der Kinder an. An der Stelle, wo bei Familie Simmenauer Fotos zu sehen sind, sind bei Familie Simons nur graue Fragezeichen eingeblendet. Weitere Informationen gibt es nicht.

Kein Asyl in der Schweiz

Eitan erzählt: „Mein Großvater Siegbert leitete als Direktor die Foto-Firma ‚Leonar‘, er bekam ein gutes Gehalt, hatte aber wenig Eigentum. Er wohnte in schönen Häusern, aber immer nur zur Miete.“ Im Winter 1933 zog die fünfköpfige Familie Simmenauer in die Schweiz. Siegbert versuchte, einen Teil der Produktion dorthin auszulagern. Die Firma ließ ihm freie Hand. Siegbert suchte politisches Asyl und strebte die Staatsbürgerschaft an, doch die Schweiz gewährte ihm dies nicht. Die Nazis warnten die Schweizer, neutral zu bleiben, und so sah sich die Familie gezwungen, nach Hamburg zurückzukehren. Bis 1938 blieben sie dort.

Im April 1938 wurde Siegbert Simmenauer mitgeteilt, dass er die Rede zum 1. Mai nicht in der Firma halten durfte, weil dies „für einen Juden nicht angemessen“ sei. Stattdessen bestand der örtliche SS-Gauleiter darauf, die Rede zu halten. „Eine reine Provokation, dass der Direktor diese Rede nicht halten sollte. Mein Großvater war ärgerlich, er machte eine unpassende Bemerkung und bald war er im Visier der Gestapo. Er war gerade auf einer Dienstreise in London, meine Großmutter warnte ihn und wollte ihm hinterher reisen. Per Bahn war die Gefahr zu hoch, dass die Nazis sie geschnappt hätten. Deshalb buchte sie einen teuren Flug für sich und die drei Kinder. Einige Monate vor der Kristallnacht 1938 erlaubte Hitler einigen Juden, auszuwandern, um der Welt zu zeigen: ‚Geht doch, wohin ihr wollt – ihr werdet sehen, die Welt will euch nicht!‘. Darunter war auch meine Großmutter.“

Zuflucht in Südfrankreich

Die Familie fand kurze Zeit später in Paris wieder zusammen. Siegbert gab sein Wissen als Firmendirektor von „Leonar“ an die konkurrierende Firma „Lumière“ in Paris weiter. Diese sicherte ihm ein bescheidenes Einkommen bis Kriegsende zu, sodass er ein kleines Bauernhaus in Südfrankreich mieten konnte. Eitan bemerkt verwundert: „Tatsächlich hielt die Firma ihr Versprechen und zahlte bis zu seinem Verschwinden. Hätten sie nicht gezahlt, hätte mein Großvater nichts gegen sie in der Hand gehabt.“

Die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland wurden stärker, bis kurze Zeit später der Krieg ausbrach. Antijüdische Gesetze wurden nun auch vom Vichy-Regime vorangetrieben. Auf dem Polizeirevier bei Cahors, im Bezirk Lot County in Südfrankreich, wurden die Namen aller Juden alphabetisch aufgelistet. Als Eitan Jahrzehnte später im Stadtarchiv von Cahors nach Informationen über seine Großeltern sucht, stößt er auf eine Liste. Dort wird er auf den Namen Simons aufmerksam. Der Name steht direkt unter dem Namen Simmenauer.

Er stellt Nachforschungen an und findet Informationen: Erich und Helene Simons lebten bis 1933 in Rheidt bei Köln. Erich war Arzt und hatte sich auf Krebs spezialisiert. Mehrere Werke waren von ihm in der medizinischen Fachliteratur erschienen. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, verließ die Familie Nazideutschland und zog nach Luxemburg. Ende 1939 finden beide Familien Zuflucht in Südfrankreich, in Cahors, im Vichy-Regime. Wahrscheinlich hatte Erich Simons dort als Arzt weiter gearbeitet. Auch wenn die Kinder der Familien Simons und Simmenauer in Cahors in die gleiche Schule gingen, haben sich die Eltern wohl nie getroffen.

Als Erich krank wird und um Beobachtung im Krankenhaus Cahors bittet, ist die Anweisung des Vichy-Regimes: „Wenn er sich im Lot-County-Bezirk befindet, muss er umgehend in ein Konzentrationslager geschickt werden.“

Die Spur verliert sich

Im August 1942 wurden alle Mitglieder der Familie Simons von der Polizei inhaftiert. Dies war Teil einer Kampagne, die für alle ausländischen jüdischen Familien galt, die in Frankreich Zuflucht gefunden hatten. Familie Simmenauer gelang es, der Verhaftung zu entgehen. Mit falschen Ausweispapieren schafften sie es, die Scho‘ah zu überleben. Die Inhaftierten hingegen wurden direkt nach Auschwitz deportiert. Dort verliert sich ihre Spur. Ein Sohn wird nach zweieinhalb Jahren Arbeitslager exekutiert, zum Rest der Familie hat das Museum von Auschwitz keine Angaben.

Nur die Angaben von Überlebenden weisen darauf hin, dass auch Erich und ein Sohn in Arbeitslager gehen mussten. Erich wurde dort als Arzt eingesetzt. Ein holländischer Jude berichtet später in seinen Memoiren, dass Erich Simons dafür sorgte, eine Typhusepidemie einzudämmen. Er wurde dafür bestraft, einer Frau geholfen zu haben, ihre Schwangerschaft zu verstecken. Er schreibt: „Niemals werden wir vergessen, was Dr. Simons für uns getan hat. Immer wird er in unseren Herzen und Gedanken bleiben.“ Jahrzehnte später stößt Eitan auf Erichs Nichte in Jerusalem. Diese ist weit über 90 Jahre alt und hat keine Informationen über Erich.

Kein Groll gegen Deutsche

Eitan wollte das Schweigen seines Vaters nicht hinnehmen: „Es ist deine Pflicht, heute zu sprechen. Tu es für deine Enkel!“, sagte er ihm. „Du weißt, dass auch du für Auschwitz bestimmt warst!“ Er ergänzt: „Im Dezember 2009 fuhren mein Bruder, mein Vater und ich ins Konzentrationslager Auschwitz. Mein Vater, drittes Kind von Siegbert und Clara Simmenauer, stand dort, wo die Familie Simons in den Gaskammern der Nazis umgekommen waren.“ Im Bus zwischen Birkenau und Auschwitz liest Eitans Vater die Schilder mit deutscher Aufschrift vor.

Gegen die Deutschen hegt Eitan keinen Groll. „Meine Familie hat gelitten, ohne dass sie mit einem einzigen Nazi zu tun hatten!“ Doch das Verhalten der Deutschen erscheint ihm heuchlerisch. Er erwähnt die Prozesse der alten Nazis in Detmold und Neubrandenburg. „Diese Menschen hätten vor 70 Jahren verurteilt werden müssen. Doch damals wussten die Verantwortlichen nur zu gut, dass der Großteil der Deutschen schuldig war. Wenn heute zwei Menschen im Alter von 95 Jahren verurteilt werden, ist das eine Art zu zeigen: ‚Diese beiden sind Verbrecher – sie gehören nicht zu uns und stammen aus einer anderen Zeit.‘“

Eitan will das Schicksal der ausgelöschten und schon vergessenen Familie Simon in Erinnerung rufen. „Dass ich ihre Geschichte in Verbindung mit der meiner Großeltern erzähle, unterstreicht das Schicksal, wie es meiner Familie gelang, zu fliehen. Dass sie unter solchen Umständen überlebten, macht sie für mich zu wahren Helden.“ (mh)

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