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Die Siedler von Gaza

Für die Bewohner der 21 jüdischen Siedlungen im Gazastreifen ging Mitte August 2005 ein Traum zu Ende: Sie mussten zusehen, wie die eigene Armee ihre Häuser abriss. Zehn Jahre nach dem Abzug ist das Trauma der „Entwurzelten“ allgegenwärtig, doch sie blicken hoffnungsvoll in die Zukunft.
Rabbi Zvi Schwartz hat in israelischen Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel und im Gazastreifen gelebt.
Anlass für den israelischen Abzug war der im Dezember 2004 überraschend angekündigte Abkoppelungsplan von Premierminister Ariel Scharon. Die Siedlungen im Gazastreifen sowie vier Siedlungen im Westjordanland sollten geräumt und deren Bewohner ins israelische Kernland transferiert werden. Erklärtes Ziel war es, die Sicherheit Israels zu verbessern. Einer der etwa 8.600 umgesiedelten Bewohner ist Zvi Schwartz. 1950 als Sohn eines Holocaustüberlebenden aus Ungarn geboren, zog er im Alter von 27 Jahren nach Jamit, einer Siedlungs-Stadt im Sinai. Sieben Jahre später, im April 1982, löste Israel die Siedlungen auf der Halbinsel auf. Das entsprach den Bedingungen des Friedensvertrags mit Ägypten. Schwartz zog nach Netzer Hasani, einer von 21 Siedlungen im Gazastreifen. Der Siedlungsblock wurde Gusch Katif genannt. Später zog er in die größere Siedlung Neveh Dekalim. Bis zum Sommer 2005 fühlte er sich dort zu Hause. „Ich kenne alle Menschen aus dem Ort. Ihre Geschichten und alles, was ihnen passiert ist. Kennst du zum Beispiel David Chatuel? Dessen schwangere Frau und vier Kinder 2004 ermordet wurden? Er war mein Schüler.“ Zvi Schwartz ist Rabbi, doch kein Gemeinderabbi, sondern Lehrer, wie er betont. „Wir waren eine große Gemeinde mit unterschiedlichen Hintergründen. Dort, in Gusch Katif, hatten wir etwas aufgebaut, wovon wir dachten, dass es ein gutes Modell für das ganze Land Israel sein könne. Die Bevölkerung mischte sich dort komplett: Aschkenasen mit Sefarden, Akademiker mit einfachen Arbeitern. Es gab Einwanderer aus der ganzen Welt.“

Sehnsucht nach alten Bekannten

Schwartz spricht schnell, so als wäre er nicht sicher, ob die Zeit reiche, das Gespräch zu Ende zu führen. „Ich kenne die Leute hier gut. Rassismus empfinde ich nicht. Höchstens denen gegenüber, die uns töten wollen. Ansonsten sind wir sehr multikulturell. Als ich 1977 nach Jamit zog, lernte ich 1.000 oder 2.000 Wörter Arabisch, um die Schilder lesen zu können und Bus zu fahren. Vor den Osloer Verträgen (1993) lebten wir auch in Gusch Katif mit den Arabern in Frieden. Danach kam ein großer Wandel. Früher saß ich mit Fuad und Ahmad im Café, und wir stritten darüber, was in 20 oder 30 Jahren sein werde. Aggressives Vokabular wie heute gab es nicht. Wir haben bei ihnen eingekauft. Als Rabbi haben sie mich mit Respekt behandelt. Wenn ich kam, um Äste für meine Laubhütte zu kaufen, ließen sie mich an der Reihe der Wartenden vorbeigehen. Sie haben mich behandelt wie einen ihrer Scheichs. Wenn ich ohne Auto kam, gaben sie mir einen Pferdewagen mit, um das Gehölz zu transportieren. Gerade uns religiöse Juden schätzten sie sehr.“ Schwartz erzählt ohne Emotionen: „Araber wollen wissen, woran sie sind. Lange haben wir miteinander und füreinander gearbeitet. Araber sind ihrem Land sehr verbunden. Und sie schätzen uns, wenn wir klar mit ihnen sprechen. Doch in dem Moment, wo wir uns unklar verhalten, schauen sie auf uns herab.“ Der Gazastreifen gehört zum biblischen Stammesgebiet Juda. Doch Rabbi Schwartz sagt: „Es geht mir nicht darum, ob die Regierung nach der Bibel handelt oder ob alle Israelis die biblischen Gebote halten. Aber ich möchte, dass die Regierung das Nationalbewusstsein stärkt. In unserer Gemeinschaft gab es Soldaten und Offiziere. Für uns war es ein großer Schlag, als wir bemerkten, dass man unser Modell nicht wollte. Wir waren doch gerade wegen Gusch Katif dorthin gegangen. Und gerade wegen Gaza. Eben weil niemand dort wohnte. Am meisten fehlt mir heute die Gemeinschaft. Wir waren keine Extremisten, wie es sie in Hebron oder Nablus vielfach gibt.“ Viele Bewohner von Neveh Dekalim zogen nach der Umsiedlung nach Nitzan, einem kleinen Ort südlich von Aschdod, direkt am Mittelmeer. Dort hatte die Regierung Wohncontainer bereitgestellt.

Häuser mit Botschaft

Rabbi Schwartz zog mit seiner Familie für einige Monate in Hotels nach Jerusalem. Später mieteten sie sich dort eine Wohnung. „Ich wollte auf keinen Fall die ganze Zeit hören, wie schlecht die Regierung sei. Alle meckerten und waren so pessimistisch. Doch nach einigen Jahren sah ich, dass sie optimistisch nach vorne schauten und begannen, Dinge aufzubauen. Dann bin auch ich nach Nitzan gezogen. Wir heulen nicht über das, was uns passiert ist, sondern schauen auf das, was kommt, was wir verändern und bauen können. Deswegen sind wir aus den Wohncontainern in richtige Häuser gezogen. Wir wollen hierbleiben.“ Heute wohnen 80 Prozent der ehemaligen Bewohner von Neveh Dekalim in festen Häusern in Nitzan. In jedem Haus gibt es integrierte Bunker. Doch neben den Wohncontainern in Nitzan sind die „Betonschläuche“ auffällig, wie die Israelis die markanten Bunker zwischen zwei Häusern nennen. Manche sind bunt bemalt. Doch auf vielen stehen politische Botschaften. Sie drücken Verbitterung und Enttäuschung aus. Bewohner erzählen: „Früher wurden nur die Siedlungen Gazas beschossen, heute feuert die Hamas auf den ganzen Süden Israels Raketen. Wir lieben das Leben, sie den Tod.“ Viele der „Entwurzelten“ befinden sich in psychologischer Behandlung. Rabbi Schwartz berichtet: „Ich denke, es hat mit der Geschichte meines Vaters zu tun, dass ich kein Trauma erlitten habe. Er war im Konzentrationslager in Mauthausen. Da sind die Proportionen etwas anders. Hier stirbt man nicht. Trotzdem hat uns der Abzug in eine Krise gestürzt. Doch die ist mehr ideologisch.“

Der Abzug – eine ideologische Krise

Schwartz trägt eine große schwarze Kippa und einen grauen Bart. „Schlimm war es für die Familie. Ich habe sechs Kinder und 14 Enkelkinder, das 15. ist unterwegs. Für meine Kinder war es ihr Zuhause. Sie machten damals gerade Abitur oder waren in der Armee. Teilweise wollten sie nach der Evakuierung nicht zur Armee zurückkehren.“ Der Rabbi ergänzt: „Von unserer Regierung haben wir eine Ohrfeige bekommen. Wir sind religiös und unterstützen unser Land. Unsere Kinder glauben uns nicht mehr und gehen eigene Wege. Sie sagen: ‚Ihr habt uns versprochen, ihr habt geredet, ihr habt gesagt … Ihr wart zu leise.‘ Wir haben etwas von unserer Autorität eingebüßt.“ Rabbi Schwartz redet auch von einer „religiösen Krise“ der jungen Leute: „Sie legten ihre Kippa ab und begannen, in der Welt zu reisen. Sie hatten einen solchen Drang nach Freiheit. Ich ließ mich nicht gehen und erlaubte mir nicht, zu weinen. Ich sagte, ich bin stärker. Ich wollte alles halten. Ich glaube, alle Familien mussten durch so eine Krise gehen. Die Sache beeinflusst das Leben der Leute bis heute. Sie sind kritischer und halten nicht mehr alles für selbstverständlich. Wir waren immer so freundlich und haben uns alles gefallen lassen. Heute sind alle politisch und wollen auch politischen Einfluss nehmen.“

Araber als Vorbild

Er sei ein Mensch, der sich vor nichts fürchte. „Ich habe in mehreren Kriegen gekämpft, fürchte mich nicht vor Schlachten und auch vor sonst nichts. Doch einmal hatte ich Angst.“ In Neveh Dekalim gab es einen alten arabischen Arbeiter, den er schon lange kannte. Er hieß Ismail. Er teerte die Straße. Schwartz fragte ihn: „Ismail, was denkst du, was wird sein?“ Ohne ihn anzuschauen, murmelte er vor sich hin: „Die Türken waren hier und gingen, die Engländer waren da und sie gingen, die Juden waren hier und sie werden gehen. Wir sind 20, 200, 1.000 Jahre hier.“ Ismail habe seine Kinder gelehrt, so zu reden. „Ich möchte auch so reden wie er. Wir wollen immer alles schnell bekommen. Aber wir brauchen Geduld. Und unsere Kinder reden nicht so. Die Araber haben Zeit für den langen Weg. Vor der Jugend, die so redet, fürchte ich mich nicht. Aber vor diesem alten Mann, Ismail, hatte ich Angst. Er war knapp 80 Jahre. Er erinnerte sich an die Türken und an die Briten und er sah die Juden gehen. Sein Verhalten drückte aus: „Ihr könnt eure Häuser bauen, ich baue hier meins.“ Schwartz sagt: „Ich wünschte, ich könnte so reden und meine Schüler so lehren. Bei uns, hier in unserer Gemeinschaft, redet man so. Aber das Volk Israel spricht anders. Frieden zwischen Ländern und Völkern braucht 30 bis 40 Jahre. Wer wirklich Frieden will, muss zu einem langen Prozess bereit sein. Er braucht Zeit, das kommt nicht mit einem Mal. Ismail hatte Mut.“ Über das Gesicht von Rabbi Schwartz huscht ein Lächeln: „Ismail wurde gut unterrichtet. Es ging ihm um ein langfristiges Ziel. Sein Denken ist nicht auf die schnelle Befriedigung gerichtet. Der Pudding in Berlin ist ihm egal. Ich war neidisch auf ihn und verstand: Wer so redet, hat gewonnen.“ Was Rabbi Schwartz sich für die Zukunft wünscht? „Als Lehrer bilde ich aus. Der Weg zum Frieden ist ein langer Weg. Wir können viel ertragen. Ich war in der Armee und auch meine Kinder sind in der Armee. Nicht etwa wegen der jetzigen Situation. Sondern, damit wir in 20, 30 Jahren auch noch so leben können. Unseren jungen Leuten möchte ich mitgeben: ‚Konzentriert euch auf eure Stärken. Baut auf. Kümmert euch um Theater, Kino und euer Land. Kümmert euch nicht um den Iran, Indien und die USA. Geht mutig voran, so wie wir es in Gusch Katif getan haben. Das ist das Modell für die Zukunft.“ (mh)

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