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Impressionen aus dem Warschauer Ghetto

WARSCHAU (inn) – Das Bild des Jungen mit erhobenen Händen, zwischen brennenden Backsteinhäusern im Warschauer Ghetto, während SS-Leute die Deportation jüdischer Zivilisten überwachen, ist eine Ikone. Doch heute erinnert in der polnischen Hauptstadt fast nichts mehr an den ummauerten Wohnbezirk für Juden.
Eine symbolische Kennzeichnung zeigt den Verlauf der Mauer.

Die polnische Hauptstadt war von den Nazis in drei Viertel aufgeteilt, ein Wohnviertel für Polen, ein vornehmes Villenviertel für die Nazis und ein riesiges Gebiet mit Fabriken, das die Nazis „Jüdischer Wohnbezirk in Warschau“ nannten. Es war umgeben von einer drei Meter hohen Mauer. Eine halbe Million Menschen lebten darin zusammengepfercht mit mangelhafter Versorgung. Täglich starben Tausende an Hunger und Krankheiten. Nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand der Juden wurde das Ghetto gesprengt. Bei Kriegsende lag ganz Warschau in Schutt und Asche.
Dieser Tage veranstaltete die „Jewish Agency“ eine Konferenz für junge Juden russischer Abstammung aus Deutschland in einem Hotel in Warschau mitten im ehemaligen Ghetto. Doch rundum waren nur moderne Hochhäuser zu sehen. Nichts deutete darauf hin, dass hier einst ein Ghetto stand.
Die „Jewish Agency“ ist weltweit bemüht, Juden mit „jüdischem Bewusstsein“ zu versorgen und zur Auswanderung nach Israel zu bewegen. Neben koscherem, von Rabbinern überwachtem Essen, auf Plastiktellern gereicht und ohne jegliche kulinarische Ansprüche, gehörten zu der Konferenz ein gemeinsames Gebet in der einzigen noch bestehenden Warschauer Synagoge (von ehemals über 200), Seminare zum Thema Vergangenheit und jüdisches Bewusstsein, sowie eine Rundfahrt durch das Ghetto, auf Polnisch „Enklawa Getta“ genannt.

Überbleibsel in Hinterhöfen

Die deutschsprachige Reiseleiterin, Elisabeth, legte größten Wert darauf, die Aufbauleistung in dem von den Nazis völlig zerstörten Warschau vorzustellen. So wies sie während der Busfahrt auf „interessante“ Plattenbauten aus den 1960er und 70er Jahren hin, auf einen „interessanten“ Supermarkt oder auf den „interessanten“ Kulturpalast mit spitzem Turm, von den sowjetischen Brüdern im Stil der Moskauer Universitätsgebäude errichtet. So ging es kilometerweit durch öde und langweilige Viertel, die über dem einstigen Ghetto errichtet worden sind. Echte Überbleibsel des Ghettos lagen versteckt in Hinterhöfen, so ein winziges, nicht einmal zehn Meter langes Teilstück der ehemaligen drei Meter hohen Ghettomauer. Daran klebten Gedenktafeln des Staates Israel und des polnischen Kulturministeriums. Dazu gehörte auch ein Stadtplan, auf dem die Gedenkstätten eingezeichnet sind. Nach langer Fahrt machte der Bus Halt neben zwei modern gestalteten symbolischen Säulen. Zwischen ihnen führt eine Straße mit groben Pflastersteinen und Straßenbahnschienen. Hier sollte man sich die Brücke vorstellen, die zwischen dem „großen“ und „kleinen“ Ghetto verband und oft in Dokumentarfilmen gezeigt wird. Die Pflastersteine seien „original“ und deshalb „interessant“, erklärte die Reiseleiterin.
Nebeneinander liegen der große katholische, protestantische, muslimische und der jüdische Friedhof. Sie werden sonntags von den Polen als populäres Ausflugsziel benutzt, weshalb die davor liegende sechsspurige Durchgangsstraße von der Polizei zur Hälfte in einen Parkplatz verwandelt wird. Im jüdischen Friedhof stehen noch beeindruckende Toten-Monumente aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Auch die Gräber bekannter jüdischer Schriftsteller blieben weitgehend unversehrt. Die Nazis hatten sich auch anderswo allein an lebenden Juden vergriffen und deren teils Jahrhunderte alten Friedhöfe unberührt gelassen.
Weiter ging es an einem noch stehenden Waisenhaus des Janusz Korczak vorbei zum ehemaligen „Umschlagsplatz“ und schließlich zum Denkmal, auf dessen Stufen Bundeskanzler Willy Brandt niederkniete. Das schwarze Mahnmal mit einer imposanten Skulptur im Stil des sozialistischen Realismus steht auf einem riesigen freien Platz und ihm gegenüber im modernen Stil das noch nicht eröffnete jüdische Museum. Vom ehemaligen Ghetto und den brennenden Backsteinhäusern, wie man sie aus alten Filmen kennt, ist weit und breit nichts zu sehen.

Schülergruppen aus Israel

Auffällig sind die zahlreichen israelischen Schülergruppen, die bei den Gedenkstätten auf Hebräisch über die Grauen des Holocaust belehrt werden. Beim „Umschlagplatz“ erklärt ein orientalisch wirkender Israeli gestenreich den Kindern, wie die Nazis mit Lastwagen und Abgasen experimentiert hätten, Juden zu vergiften. Die Eltern dieser Kinder dürften überwiegend aus arabischen Ländern vertrieben worden sein und nicht die dritte Generation von Holocaustüberlebenden repräsentieren. Zu Tausenden werden israelische Schüler nach Auschwitz und Warschau geschickt. So soll bei ihnen das Gedenken an den größten Völkermord der Menschheitsgeschichte, dem Holocaust, wach gehalten werden.
Welchen Eindruck eine Handvoll Gedenkstätten hinterlässt, obgleich vom Original fast nichts übrig geblieben ist, lässt sich schwer ermitteln. Eine Überraschung war es jedenfalls, in Warschau noch weniger „Geschichte“ vorgefunden zu haben, als etwa in Berlin.

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