Gerüchte um den Tod eines Islamistenkommandeurs

Eigentlich war das Lebensende des Muhammad Nimnim gar nicht so ungewöhnlich für einen islamistischen Milizenführer im Gazastreifen. Er war um die Mittagszeit des 3. November 2010 in seinem Auto nahe der Islamischen Universität in Gaza-Stadt unterwegs. Da verwandelte sich der Wagen in Bruchteilen von Sekunden mit einem ohrenbetäubenden Knall in ein Inferno.

Palästinensische Sanitäter bargen später die verkohlte Leiche aus dem total zerfetzten Auto und identifizierten ihn – wie in solchen Fällen üblich erstaunlich schnell! – als „Muhammad Dschamal al-Nimnim aus dem Strandflüchtlingslager im Westen von Gaza-Stadt“. Man kennt sich eben im Gazastreifen.

Die Webseite der Issadin al-Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der Hamas, sprach – vermutlich aus Gewohnheit – von einem israelischen Luftangriff, ebenso Augenzeugen und bald auch das Innenministerium der Hamas. Doch dann berichteten israelische Medien von einer Autobombe und kurze Zeit später wusste die sich stets „als besonders gut informiert“ darstellende Internetseite „DEBKAfile“ gar von einem amerikanischen Kriegsschiff, das einen Marschflugkörper auf Nimnims Auto abgefeuert haben soll. Aber DEBKAfile nehmen ernstzunehmende Medien nicht ernst – weshalb diese letzte Möglichkeit auch nirgends weiter erörtert wurde. Palästinensische Sicherheitskreise gingen davon aus, dass eine Bombe unter dem Fahrersitz versteckt war. Die Hamas sprach von einem, Augenzeugen von bis zu vier weiteren Verletzten.

Für Aufruhr sorgte erst mehr als eine Woche nach dem Tode Nimnims das US-amerikanische „TIME-Magazine“. Die renommierte Wochenzeitung behauptet, der Anschlag auf Nimnim sei nur möglich gewesen, weil der ägyptische Geheimdienst den Israelis einen Tipp gegeben habe. An manchen Stellen erstaunlich deckungsgleich hatte DEBKAfile schon einen Tag nach Nimnims gewaltsamem Tod berichtet, eine nachrichtendienstliche Kooperation der USA mit Ägypten und Israel habe einen großen Al-Qaida-Anschlag im Sinai verhindert. Dem ägyptischen Geheimdienst sei Nimnims Auskundschaften der US-Soldaten auf dem Sinai aufgefallen. Dann hätten die Ägypter beobachtet, wie die Palästinenser Waffen und Sprengstoff für einen Anschlag auf der Sinaihalbinsel versteckten. Die Israelis schließlich hätten die Bewegungen Nimnims in Gaza verfolgt und ihn für den amerikanischen Raketenangriff gekennzeichnet. Sein nagelneuer Hyundai war erst vor kurzem in den Gazastreifen überführt worden, nachdem die Israelis die Einfuhr für Fahrzeuge erleichtert hatten. DEBKAfile mutmaßt, die Israelis hätten gewusst, dass diese Fahrzeuge für die Führer der Terror-Organisationen bestimmt gewesen seien und hätten sie mit Wanzen versehen.

Vielleicht war es selbst der Hamas gar nicht so unrecht, dass Nimnim zum „Märtyrer“ wurde. Zu unberechenbar ist die „Dscheisch al-Islam“, die „Armee des Islam“, selbst für die radikal-islamischen Machthaber im Gazastreifen. Immerhin soll sie den 1985 geborenen Muhammad Nimnim aus dem Schati-Flüchtlingslager vor kurzem selbst verhaftet und verhört haben. Ihm wurde vorgeworfen, Raketen auf Israel geschossen und damit ein innerpalästinensisches Abkommen, keine Raketen auf Israel zu schießen, unterlaufen zu haben. Die „Dscheisch al-Islam“ ist eine salafitische Terror-Organisation im Gazastreifen, die sich mit den Zielen des weltweiten Dschihad-Netzwerks, gemeinhin „Al-Qaida“ genannt, identifiziert und mit ihr zusammenarbeitet. Der Hamas werfen die Salafis vor, verwestlicht und verweltlicht zu sein und Kompromisse eingegangen zu sein.

Zusammenarbeit bei Schalit-Entführung

Im Sommer 2006 war die „Armee des Islam“ an der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit beteiligt. Damals stimmte die Zusammenarbeit mit der Hamas noch, weshalb Schalit heute ganz in den Händen der Hamas ist. Als die Organisation, die vor allem mit dem mächtigen Clan der Dughmusch in Verbindung gebracht wird, im März 2007 den britischen Reporter Alan Johnston entführte und vier Monate lang festhielt, waren schon Risse im Verhältnis zwischen Hamas und Dscheisch al-Islam erkennbar. Muhammad Nimnim galt als Vertrauter von Mumtas Dughmusch, dem Chef der „Dscheisch al-Islam“, der auch eine Reihe von Anschlägen auf säkulare, westliche und christliche Organisationen zur Last gelegt wird, darunter der Mord am Leiter des Buchladens der Palästinensischen Bibelgesellschaft, Rami Ajjad, im Oktober 2007.

Im September 2008 kam es dann im Gazaer Stadtteil Sabra zu einer gewaltsamen Konfrontation zwischen Hamas und dem Dughmusch-Clan, als die Hamas zwei seiner Mitglieder verhaften wollte. Dabei wurden mindestens zwölf Mitglieder der Großfamilie getötet, darunter Ibrahim Dughmusch, der Bruder des Mumta Dughmusch. Die offene Feindschaft zwischen den beiden ideologisch so eng verwandten Gruppierungen wurde offensichtlich, als Mitte August 2009 der Salafitenscheich Abdel Latif Mussa in Rafah an der Südgrenze des Gazastreifens mit Ägypten ein Kalifat auszurufen suchte. Die weit „gemäßigtere“ Hamas reagierte mit brutaler Gewalt. Dutzende von Toten und mindestens 150 Verletzte war die Bilanz des erfolgreichen Versuchs, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und einen Putsch der Salafis zu verhindern.

Nachdem die israelische Armee sich dazu bekannt hatte, den offensichtlich allseits unbeliebten Muhammad Nimnim abgeschossen zu haben, bezeichnete ihn die Sprecherin der israelischen Armee, Oberstleutnant Avital Leibovitz, als „tickende Bombe“. Die israelischen Sicherheitskräfte hätten ein „Fenster der Gelegenheit“ genutzt, um die gezielte Tötung vorzunehmen. Auf Gerüchte, der Schlag gegen den Terrorführer sei mit den USA abgesprochen oder man habe von dort gar „grünes Licht“ dafür erhalten, wollte die Armeesprecherin nicht antworten, betonte allerdings die enge Beziehung der Verbündeten. Sollte tatsächlich eine amerikanische Rakete für den Tod Nimnims verantwortlich sein, wäre dies der erste Raketenangriff der Amerikaner auf den Gazastreifen. Ähnliche Missionen hat die Supermacht in der Vergangenheit nur im Irak, im Jemen oder in Somalia durchgeführt.

Laut israelischem Geheimdienst hat Muhammad Nimnim in den vergangenen Jahren persönlich eine ganze Reihe von Terroranschlägen auf israelische Ziele geleitet. Jetzt habe er Operationen gegen amerikanische und israelische Einrichtungen auf der Sinaihalbinsel, vor allem entlang der ägyptisch-israelischen Grenze vorbereitet, teilweise in Kooperation mit Hamas-Elementen aus dem Gazastreifen. Der israelische Rundfunk nannte als Anschlagsziel besonders die multinationale Beobachtertruppe MFO im Sinai, von deren 1.600 Mitgliedern 700 Amerikaner sind.

Kaum vierundzwanzig Stunden nach dem israelischen Anschlag auf Muhammad Nimnim traf Ägyptens Geheimdienstchef Omar Suleiman in Jerusalem ein. Offiziell traf er sich mit Staatspräsident Schimon Peres und Regierungschef Benjamin Netanjahu, um die Möglichkeit einer Neuauflage für die israelisch-palästinensischen Verhandlungen zu beraten. Nebenbei stand auf dem Programm des Ägypters und seiner Delegation aber auch eine Besprechung mit dem Leiter des Nationalen Sicherheitsrates Israels, Uzi Arad, dem Militärsekretär Generalmajor Jochanan Loker und dem Rechtsanwalt Isaak Molcho. Bei diesem Treffen ging es um die Koordination zwischen ägyptischen und israelischen Sicherheitskräften.

„Strategische Beziehungen“ zwischen Israel und Ägypten

Die beiden Nachbarländer sprechen von „strategischen Beziehungen“. Damit sind nicht nur die Bemühungen des ägyptischen Geheimdienstes um eine Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit gemeint. Im Blick auf die radikal-islamische Muslimbruderschaft und ihre Zweige sind die Interessen Israels und Ägyptens identisch. Die in den 1920er-Jahren in Ägypten entstandene Muslimbruderschaft ist eine ernsthafte Bedrohung der säkular-westlich orientierten Regierung von Präsident Hosni Mubarak. Der palästinensische Zweig der Muslimbruderschaft ist die Hamas.

Das sunnitische Ägypten sieht die atomaren und hegemonialen Ambitionen des radikal-schiitischen iranischen Regimes mit einer vergleichbaren Sorge, wie die Israelis. Dabei ist auf beiden Seiten die größte Befürchtung nicht ein möglicher atomarer Schlag des Iran gegen das verhasste Israel, sondern der zunehmende Einfluss der Mullahs aus Teheran auf radikale Organisationen wie die Hisbollah im Libanon, die Hamas und den Islamischen Dschihad in den Palästinensergebieten – und welche Auswirkungen es haben könnte, wenn Nukleartechnologie via Iran in die Hände von Terror-Organisationen gelangen könnte.

Vor einem Jahr verhafteten die Ägypter 49 Hisbollah-Agenten auf der Sinaihalbinsel. „Die kauften dort Appartements, Schnellboote und Autos“, vertraute eine „Sicherheitsquelle im Nahen Osten“ dem TIME-Magazine an, „so eine Infrastruktur ist nicht nur dazu da, den Gazastreifen mit Schmuggelgut zu versorgen. Die haben den Tourismus im Sinai aufs Korn genommen.“ In Richtung Hamas, Hisbollah, Syrien und Iran hatte Präsident Hosni Mubarak verkündet: „Hütet euch vor dem Zorn Ägyptens!“ In jedem Fall zeigt der Fall Nimnim und die ihn umgebende Gerüchteküche, dass sich alte Loyalitäten und Feindschaften im Orient auf eigenartig unorthodoxe Weise verschieben.

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