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Erinnerungen, Fragen und ein Neuanfang: „Pessach“, das jüdische Passafest

„Warum ist diese Nacht so anders als alle anderen Nächte?“ Die Grundschuldirektorin Mirjam Peretz stellt die Eingangsfrage der Pessach-Haggadah, der Liturgie des Passafestes, und gibt gleich selbst die Antwort: „In dieser Nacht essen wir alle angelehnt, liegend.“ Sklaven müssen immer zum Dienst bereitstehen, immer auf dem Sprung sein. Freie Menschen können sich gemütlich niederlassen. Pessach ist das Fest der Freiheit, weil die Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens ausgezogen sind.

„Alle sind beisammen, man hat viel Zeit und es werden viele Gespräche geführt.“ Mirjam wohnt mit ihrer Familie im Norden von Jerusalem. Sie ist Lehrerin aus Leidenschaft und liebt es, zu erklären. Als Fest der Freiheit ist Pessach ein Fest der Fragen. Wer keine Fragen mehr hat, ist Sklave seiner eigenen Meinungen, Gefangener seiner Klischees und Stereotypen.

Und dann ist Pessach auch ein Fest der Erneuerung. Nicht nur in der Natur, weil der Frühling anfängt und alles wieder grün wird, sondern auch im Haus. So wird jedes Jahr vor dem Passafest ein gründlicher Hausputz gemacht. Altes wird hinausgeworfen. Keine Ecke im Haus bleibt unberührt. Alle Schränke werden ausgeräumt. Die Kinder müssen ihre Zimmer gründlich aufräumen und stöhnen dabei: „Nur weil unsere Vorfahren in Ägypten Sklaven waren, müssen wir jetzt wie Sklaven schuften.“

„Ich bin in Marokko aufgewachsen. Meine Eltern waren nicht reich“, erinnert sich die Mutter von fünf Kindern, „aber zu Pessach hat man immer etwas Neues gekauft, zum Beispiel neue Kleider. Wenn heute eine Familie ein neues Möbelstück oder neues Geschirr anschaffen möchte, wartet man damit bis Pessach. Das Alte muss raus, Neues kommt herein.“ Die orthodoxe Jüdin weiß: „Das ist ein Bild für ein geistliches Geschehen.“

„Wir haben in unserer Familie ein besonderes Passa-Geschirr und die Kinder freuen sich jedesmal, wenn wir es rausholen. Meine Eltern hatten so etwas nicht“, erzählt Mirjam Peretz aus ihrer Kindheit in Nordafrika. „Bei ihnen wurde alles Geschirr ,gekaschert‘. Um ganz sicher zu sein, dass das Geschirr wirklich mit kochendem Wasser gereinigt wurde, hat meine Mutter auf dem Gasherd Steine glühend heiß gemacht und sie in das Wasser gelegt.“

Zum Passafest gehört das „Fest der ungesäuerten Brote“. Eine Woche lang darf kein Sauerteig gegessen werden. So sagt es die Bibel. „Wir sephardischen Juden essen in der Passawoche auch keinen Reis und keine Erbsen,“ erklärt Mirjam, „einfach nichts, was in irgendeiner Weise aufgeht und gären könnte. Meine Eltern haben nicht einmal Zucker benützt. Zum Kaffee haben sie ein Stück Dattel abgebissen.“ Dafür wird viel Fleisch und frisches Gemüse gegessen. Einige Familien in den Dörfern schlachten bis heute ein Lamm zum Passafest.

Am Abend vor dem Festbeginn, wenn alles geputzt ist, versteckt die Hausfrau noch etwas Gesäuertes. Der Hausvater und die Kinder suchen mit Kerzen in den Händen dann diesen letzten Sauerteig, der am nächsten Morgen verbrannt wird. Vor der letzten offiziellen Suchaktion darf noch Gesäuertes gegessen werden, aber nur draußen. Danach bekommen die Kinder Nüsse und Mandeln, weil die Zeit bis zum Abend noch lang ist.

„Besonders lieb sind mir am Passafest die Erinnerungen“, meint Mirjam. „Beim Aufräumen kommen die alten Alben heraus und das Kleid, das meine Tochter zu ihrer Bat Mitzwa anhatte. Eigentlich ist das die Botschaft des festlichen Passa-Abends, des so genannten Sederabends: ,Blicke zurück! Besinne dich! Es gibt eine Vergangenheit!'“

Während wir uns so über den Sinn des Passafestes unterhalten, läutet das Telefon. Ein Holocaustüberlebender ruft an, den Mirjam Peretz vier Monate zuvor nach Ausschwitz begleitet hatte. „Sprechen Sie doch ein paar Worte auf Deutsch mit ihm“, fordert sie mich auf. Ich muss versprechen, bald einmal zu Besuch zu kommen. „Dieser Mann ist siebzig Jahre alt und war mit mir zum erstenmal nach dem Krieg wieder im Polen“, erklärt sie mir. „Als wir das Gelände des Konzentrationslagers betraten, war für ihn alles wieder gegenwärtig. ,Lauf nicht auf der Straße sondern im Gras,‘ forderte er mich auf, ,damit deine Schuhe nicht kaputt gehen…'“

„Das Wichtigste an Pessach ist, dass wir unseren Kindern erzählen, was geschehen ist“, nimmt sie den Faden wieder auf. „Die Menschen wissen heute nur wenig über ihre Geschichte. Sie sind wie Bäume mit vielen Zweigen, aber wenig Wurzeln. Nur ein Baum, der tief verwurzelt ist, kann bestehen, wenn ein Sturm kommt.“

Auf unterschiedliche Weise bemühen sich die Eltern, den Kindern die Geschichte des Volkes Israel nahe zu bringen. „Bei meiner Schwester verkleiden sich die Kinder als Beduinen“, kommt Mirjam auf eine weitere Familientradition zu sprechen. „Mit Säcken auf dem Rücken klopfen sie an die Tür. Auf die Frage, woher sie kommen, erklären die Kinder: ,Aus Ägypten…‘ So wird der Auszug aus Ägypten den Kindern durch das Spiel nahe gebracht.“ Oder: „Wenn die zehn Plagen Ägyptens genannt werden, schütten wir etwas Wein und Wasser in einen Eimer und tragen diesen dann ganz schnell hinaus, damit nichts bei uns bleibt.“

Das Sedermahl ist eine Familienfeier. „Dieses Fest sollte immer in unserem Hause gefeiert werden und nicht bei Verwandten“, betont Mirjam Peretz, denn „der Segen soll bei uns im Hause bleiben.“ Hadas, die 20-jährige Tochter des Hauses, macht zur Zeit Zivildienst in einem Kinderheim für russische und äthiopische Jugendliche. Zum Passa-Abend sind zwei dieser jungen Leute, die selbst keine Familie haben, bei Familie Peretz eingeladen. Bei einer orientalischen Familienfeier sind ohnehin fünfzig Teilnehmer keine Seltenheit. Außerdem ist für die Mutter des Hauses das größte Gebot an Pessach, sich um die Armen zu kümmern, um die, die alleine sind, die nirgends willkommen sind.

Dann erzählt sie von der eigentlichen Passafeier, dem Sedermahl. Obwohl am Abend alle müde und hungrig sind, wird jede Speise zuerst erklärt. Alle Gerichte auf dem Sedertisch haben eine symbolische Bedeutung. Manche Familien lesen die Pessach-Haggadah nicht vollständig. In der Familie Peretz bereitet sich jeder auf einen Abschnitt vor. „Mein Sohn erklärte zum Beispiel einmal, dass der Auszug aus Ägypten für ihn bedeute, ,Ägypten‘ aus sich selbst heraus zu schaffen, diesen Körperkult, der den sterblichen Leib so lange wie möglich zu erhalten sucht – man denke nur an die Mumien.“

Kleine Kinder werden im Laufe des langen Abends vom Schlaf überwältigt und fallen einfach irgendwann um. Meist hält sie aber die Erwartung wach, dass der Prophet Elia, der Vorläufer des Messias, eintreten könnte. Für ihn steht ein Weinglas auf der Fensterbank. Die Sitte, eine Tür für den Propheten offen stehen zu lassen, kommt aus Osteuropa, aus der Zeit der Pogrome. Die jüdischen Familien ließen dort ihre Tür offen, damit ihnen nicht jemand ein totes Kind vor den Eingang legt und sie beschuldigt, sie hätten das Blut christlicher Kinder zum Sederabend verwendet.

Der Höhepunkt ist für die Kinder die Suche nach dem „Afikoman“. Auf dem Sedertisch liegen drei ungesäuerte Brote – sogenannte „Matzot“ oder „Mazzen“ – auf einem Teller übereinander. Der Hausvater zerbricht das mittlere der drei Matzot und versteckt eine Hälfte davon im Haus. Wer dieses Stück ungesäuertes Brot, das Afikoman, findet, bekommt eine Belohnung. In der Familie Peretz hat sich eingebürgert, dass sich jeder finanziell beteiligt. Der Finder bekommt dann ein wirklich schönes Geschenk, zum Beispiel ein Fahrrad.

Das besondere bei den marokkanischen Juden ist die Sederschüssel. Ursprünglich war das kein Teller, sondern eine richtig große kupferne Schüssel mit Füßen. Diese Schüssel wurde mit einem schönen Tuch, der Kopfbedeckung der Mutter, zugedeckt. An einem bestimmten Punkt der Haggadah schwenkt der Hausvater die Schüssel über dem Kopf eines jeden Teilnehmers am Tisch, als Zeichen dafür, dass jeder Anwesende aus Ägypten ausgezogen ist. „Als Kinder“, so erinnert sich Mirjam Peretz, „haben wir diese Zeremonie immer mit Spannung verfolgt. Wenn eine Frau schwanger war, wurde die Schüssel zweimal über ihr geschwenkt – einmal für sie selbst und einmal für das ungeborene Baby. So haben wir dann erfahren, dass ein Kind unterwegs ist.“

„Wir haben diese Sitte beibehalten“, kehrt Mirjam Peretz in die Gegenwart zurück. „Für Uriel, unseren ältesten Sohn, der an seinem 22. Geburtstag im November 1998 im Südlibanon gefallen ist, halten wir einen Stuhl frei. Auch über seinem Platz wird der Sederteller geschwenkt. Durch seinen Tod ist für uns Pessach immer auch traurig. In den ersten Jahren nach seinem Tod haben wir uns gefragt, warum Gott das zugelassen hat, obwohl er doch so viele Wunder für Israel getan hat. Aber das Passafest wird in der Nacht gefeiert, damit wir lernen, in der Dunkelheit das Licht zu sehen. Wir danken Gott für seine Rettung, für all das Gute, das er für uns getan hat, und wissen selbst in größter Dunkelheit um die Erlösung, die kommen wird.“

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