Zwei Drittel der Palästinenser sehen den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen als Erfolg des bewaffneten Kampfes gegen den jüdischen Staat. Der palästinensische Meinungsforscher Dr. Chalil Schekaki erklärt die Sichtweise seines Volkes: „Scharon wurde zum Rückzug gezwungen.“ Als Direktor des palästinensischen Zentrums für Politik- und Meinungsforschung (Palestinian Center for Policy and Survey Research – PSR) hat Schekaki seit 1993 mehr als 100 Meinungsumfragen unter den palästinensischen Bewohnern des Westjordanlandes und des Gazastreifens durchgeführt.
Besonders die Tatsache, dass der Rückzug einseitig nicht im Rahmen von Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) beschlossen wurde und vollzogen werden soll, sei der schlagende Beweis für die Niederlage Israels. Als Parallele führt der Politikdozent, der nicht nur in Amerika studiert, sondern auch an verschiedenen amerikanischen und palästinensischen Universitäten gelehrt hat, den israelischen Rückzug aus dem Südlibanon im Mai 2000 an. Die schi´itische Hisbollah konnte diesen als Erfolg ihres Terrorfeldzuges gegen Israel werten, weil der Abzug einseitig, also als „Flucht“ vollzogen wurde.
Grundsätzlich wird Scharons geplanter Rückzug aus dem Gazastreifen von der palästinensischen Bevölkerung positiv vermerkt. Die Palästinenser sehen den Gaza-Rückzug als Zeichen dafür, dass sich Israel vollkommen auf die Linien von 1967 zurückziehen wolle. „Besonders bedeutsam“ ist laut Schekaki, „dass Israel alle Siedlungen im Gazastreifen räumen will.“ Das werde von den Palästinensern als Präzedenzfall für die Zukunft der Siedlungen im Westjordanland gewertet.
Für die Zukunft ist nach Erkenntnis Dr. Chalil Schekakis entscheidend, inwieweit Palästinenserführer Mahmud Abbas der palästinensischen Bevölkerung Erfolge nachweisen können wird. Obwohl „Abu Masen“, wie Abbas landläufig genannt wird, noch immer einer der populärsten Politiker der Palästinenser ist, „hat sich ein Großteil des Optimismus nach dem Tod Arafats und der Wahl von Abbas in Luft aufgelöst.“ Weil Abbas sich seit Jahrzehnten für Verständigung und Gespräche mit Israel ausgesprochen hat, könne er den israelischen Rückzug nicht auf seinem Konto verbuchen. „Hamas dagegen kann das Ende der Besatzung in Gaza feiern.“
„Die Hamas ist sehr erfolgreich. Im Gazastreifen hat sie in manchen Gegenden bis zu 50 Prozent der Bevölkerung hinter sich. Im Westjordanland ist sie nicht so glücklich“, weiß Schekaki aus seinen Umfragen zu berichten. Die Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat (PLC), dem Palästinenserparlament, werden nach seiner Einschätzung im Januar 2006 stattfinden und anders ausfallen, als die Kommunalwahlen in den vergangenen Monaten, in denen die Hamas sehr große Stimmengewinne verzeichnen konnte.
Die Grundanliegen der palästinensischen Bevölkerung fasst der Politikwissenschaftler in vier Punkten zusammen: 1. ein Ende der Korruption, 2. eine Verbesserung der Wirtschaftslage, 3. eine Fortsetzung des politischen Friedensprozesses und 4. die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in den Palästinensischen Autonomiegebieten. In den Kommunalwahlen sei es den palästinensischen Wählern vor allem um den ersten Punkt gegangen, ein Ende der Korruption. Dabei sei ausschlaggebend gewesen, dass die Palästinenser die Fatah von Mahmud Abbas als korrupt empfinden, während die radikal-islamische Hamas als integer gesehen werde. Zwei Drittel der palästinensischen Wähler gehen laut Schekaki davon aus, dass die Hamas am besten im Kampf gegen die Korruption sei, die säkulare Fatah dagegen die Wünsche 2 bis 4 eher als ihre radikal-islamische Konkurrentin erfüllen könne.
Chalil Schekaki sieht jedoch Möglichkeiten, dass PA und israelische Regierung gemeinsam die Räumung der jüdischen Siedlungen in Gaza doch noch zu einem diplomatischen Erfolg machen können. Ganz oben auf der Wunschliste der palästinensischen Zivilbevölkerung stehe die Freilassung von Gefangenen aus israelischen Gefängnissen. Gleich danach komme aber die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, was konkret vor allem die Möglichkeit der Arbeit in Israel bedeutet. Beides, die Freilassung von Gefangenen und die Einreiseerlaubnis nach Israel, kann aber nur durch Verhandlungen erreicht werden.
Für die Zeit nach einem vollkommenen israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen glaubt Dr. Chalil Schekaki an ein Ende der Gewalt, vor allem vom Gazastreifen aus. Auch die radikal-islamische Hamas werde Ruhe geben. Die Situation in Judäa und Samaria dagegen hänge entscheidend davon ab, was mit den israelischen Westjordanland- Siedlungen nach dem Gaza-Rückzug geschieht. „Sollte das Ende der israelischen Gaza-Besatzung auf Kosten des Westjordanlandes gehen“, was eine nicht unbegründete Hauptsorge der Palästinenser ist, wäre das nach Schekakis Einschätzung fatal. Ohnehin glauben 70 Prozent der Palästinenser nicht, dass es eine politische Lösung des Nahostkonflikts gibt.