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Eine humanitäre Krise in Tel Aviv?

"Israel ist ein guter Ort, eine Demokratie, wo gute Menschen leben und es Arbeit gibt." Der Traum von einer besseren Zukunft im jüdischen Staat hält sich in Ländern wie dem Südsudan scheinbar unerschütterlich. Die Flüchtlingswellen treffen Israel hart, treiben das Land an den Rand seiner Möglichkeiten und fordern neue Gesetze. Südsudanesen droht gar Abschiebung. Die Bevölkerung ist gespalten über den Umgang mit den "Eindringlingen".

Inmitten der vielen Krisen in Afrika, Umbrüchen der arabischen Mittelmeeranrainer und europäischer Abschottungspolitik ist Israel über Jahre hinweg zum Hoffnungsziel zehntausender afrikanischer Flüchtlinge geworden. Ishaq Muhammad Sayid, 31 Jahre alt, träumte davon, Journalist zu werden. Dann brach Krieg aus und mit ihm Armut und Hunger. Sein Schulabschluss nutzte ihm in Darfur nichts mehr. Doch es dauerte drei Jahre, bis er durch harte Arbeit in Goldminen 1.500 Dollar gespart hatte und sein Glück versuchen konnte. Er verließ seine Eltern und acht Geschwister und begab sich Mitte Dezember vergangenen Jahres auf eine gefährliche und ungewisse Reise über die Hauptstadt Khartum ins ägyptische Kairo und von dort auf dem Landweg in Richtung Israel.

Gefährliche Fluchtwege

Für viele andere Flüchtlinge endet der Weg in den Weiten der Sinaihalbinsel. Beduinische Schleuser treiben ein lukratives Geschäft mit Organhandel. Vergewaltigung und Folter sind mehr Regel als Seltenheit und Flüchtlinge werden festgehalten, um mehr Geld für die illegale Einreise nach Israel zu erpressen. Die Ausmaße dieser an einen Sklavenmarkt erinnernden Zustände sind unbekannt, niemand weiß, wieviele Flüchtlinge derzeit hilflos den Schleusern ausgesetzt sind.

Ishaq hatte Glück: Sudanesische Flüchtlinge bleiben von Misshandlungen verschont – sie sprechen die Sprache der Beduinen. Eine horrende Geldsumme musste er trotzdem bezahlen, um von ihnen an die israelische Grenze gebracht zu werden.

Früher oder später finden sich im Negev umherirrende illegale Einwanderer in den Händen von Soldaten der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte wieder. Sie verbringen in der Regel einige Zeit im Gefängnis und bekommen dann eine viermonatige Aufenthaltsgenehmigung – ohne Erlaubnis zur Arbeit. Bedingung für die Freilassung: "vollständige Kooperation mit den Behörden zur Ausstellung eines Reisedokumentes, um Israel zu verlassen oder – je nach Entscheidung – zur befristeten Aufenthaltserlaubnis".

Eindringling statt Flüchtling

Ankömmlinge aus Eritrea und dem Sudan erhalten automatisch den Status "asylsuchend", nicht zu verwechseln mit der Anerkennung als "Flüchtling". Ihr einziges Recht: nicht ausgewiesen zu werden. Befragungen zeigen auf, dass 98 Prozent der "Eindringlinge", wie die israelische Regierung sie bezeichnet, wegen der Suche nach Arbeit ankommen. So erklärt es Amnon Ben Ami, Leiter der israelischen Behörde für Bevölkerung, Immigration und Grenzen. "Sie sind hier, um zu arbeiten und herauszufinden, wie sie ihren Familien Geld schicken könnten." Nur ein minimaler Anteil erfülle die von den Vereinten Nationen festgelegten Flüchtlingskriterien, fügt Ben Ami an.

Das Ergebnis dieser ungenügenden Befragungen: Kraft des "Kollektivschutzes" bleiben auch jene im Land, denen selbst "asylsuchend" nicht als Status anerkannt wird und technisch gesehen wieder in ihr Heimatland zurückgesandt werden könnten. Die Anzahl der tatsächlich als "Flüchtlinge" – mit allen dazu gehörenden Rechten – anerkannten Ausländer geht gegen Null. Laut der Zeitung "Yediot Aharonot" haben seit 2008 gerade einmal 17 Personen diesen Status erhalten. Für die Dauer eines Jahres erhalten sie mit der Ausnahme des Wahlrechtes alle Rechte eines israelischen Staatsbürgers.

Die "Internationale Flüchtlingskonvention von 1951", welche Israel als Gründungsmitglied unterschrieben hat, definiert einen Flüchtling als "jemanden, der infolge einer wohlbegründeten Angst auf Grund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Mitgliedschaft einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Meinung nicht in sein Ursprungsland zurückkehren kann oder möchte." Die Konvention verpflichtet Länder, innerhalb deren Grenzen sich Flüchtlinge aufhalten, sicherzustellen, dass sie nicht zu Orten zurückgeschickt werden, wo sie in Gefahr sein könnten. Außerdem müssen sie sich um die Wohlfahrt dieser Personengruppen kümmern und ihnen Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung gewährleisten.

Oscar Olivier, ein Asylsuchender aus der Republik Kongo, sagte der Zeitung: "Nach 16 Jahren in Israel ist es mir immer noch nicht gestattet, zu arbeiten und medizinische Dienste in Anspruch zu nehmen." Zwölf Jahre seien vergangen, seit er einen Antrag gestellt habe, als "Flüchtling" anerkannt zu werden. Noch immer bleibe die Antwort aus.

"Was das israelische Gesetz angeht, sind sie unsichtbar."

Olivier teilt sein Schicksal mit rund 43.000 weiteren Asylsuchenden. Sie alle verbleiben ohne Arbeitsgenehmigung, Gesundheitsversorgung, Bildung oder Hilfeleistung. "Es gibt keine Kategorie für sie", erklärte Orit Marom, die als Koordinatorin bei "Assaf", einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge und Asylsuchende in Israel, tätig ist. "Was das israelische Gesetz angeht, sind sie unsichtbar."

Statt Lösungen für die schon vorhandenen illegalen Einwanderer zu finden, beschäftigt sich die Knesset fast ausschließlich damit, wie das Eindringen weiterer illegaler Migranten verhindert werden kann. Die meisten von ihnen, 88 Prozent, kommen aus Eritrea und dem Sudan und erhalten nicht einmal die Möglichkeit, einen offiziellen Antrag auf Asyl stellen zu können. Und das, obwohl israelische Regierungsbeamte die humanitäre Krise in diesen Ländern anerkannt haben: "Das Regime dort schützt die Menschenrechte nicht und jeder, der dorthin zurückkehrt, ist in Gefahr, einschließlich der des Todes", sagte der stellvertretende Außenminister Danny Ajalon laut "Yediot Aharonot" erst kürzlich.

Abschottung und Abschiebung

Ein offizieller Knessetbericht vom 11. Dezember vergangenen Jahres gibt Einblick in das weitere Vorgehen der Regierung. Dort ist die Zahl der "Eindringlinge" sogar mit 45.000 angegeben, die aus Eritrea, dem Sudan und der Elfenbeinküste stammen. In einer fünf Punkte umfassenden Agenda wurde beschlossen, den Grenzzaun zwischen Ägypten und Israel bis Oktober dieses Jahres fertigzustellen. Ferner sollte bis zum 26. Dezember 2011 das Gesetz geschrieben und korrigiert sein, welches der "Infiltration" ein Ende macht. Als Punkt drei sollte demnach eine bestehende Anstalt ausgebaut sowie eine neue Anlage errichtet werden, welche unter Leitung der Vollzugsbehörden stehen. Der nächste Punkt sieht vor, die Beschäftigung von "Eindringlingen" und jene zu stoppen, die sie anstellen. Ziel des Planes: die Abschiebung in ihre Heimat oder in andere Länder.

Zu einem der "Wohnorte" vieler Flüchtlinge ist der Levinsky-Park in Tel Aviv geworden. Unermüdlich, aber mit wachsender Verzweiflung versuchen von hier aus täglich Hunderte, an Arbeit, Essen und Waschmöglichkeiten zu gelangen. Nahezu ungeschützt vor jeglichen Wettereinflüssen verbringen sie die Nacht im Park. "Es ist schockierend, dass in einem Wohlfahrtsstaat wie unserem Menschen in der Kälte und im Regen schlafen, und das nicht, weil sie verstörte Obdachlose sind", klagte Rafi Walden an. Er ist stellvertretender Direktor des Medizinischen Zentrums "Scheba" in Tel HaSchomer und als Schwiegersohn des Staatspräsidenten Schimon Peres auch dessen Leibarzt. "Dies sind Leute, die kreativ sind und arbeiten möchten."

Die Hilfsorganisation "Assaf" warnte in einem Brief an den Tel Aviver Bürgermeister Ron Huldai, die Generaldirektoren der sozialen Dienste und des Gesundheitsministeriums sowie Amnon Ben Ami, vor einer drohenden humanitären Katastrophe direkt vor der Haustüre. Manche der Flüchtlinge im Levinsky-Park fallen vor Hunger in Ohnmacht.

Viele Flüchtlinge leiden an ihren traumatischen Erfahrungen, die sie im Heimatland oder auf der Flucht gemacht haben. Eine professionelle Begleitung durch Psychologen wäre unumgänglich, scheitert jedoch an der Realität. Keine Aussicht auf Arbeit und die Angst ums bloße Überleben tun den Rest – der Weg in die Kriminalität scheint vorprogrammiert. Dabei ist laut einer Studie die Rate derjenigen, welche tatsächlich illegal tätig werden, verschwindend gering.

Angst vor Arbeitsanstellungen

Aussicht auf Verbesserung der Lage tausender Asylsuchender ist hingegen nicht in Sicht. In Israel geht die Angst umher, sie gefährdeten Arbeitsplätze der Bevölkerung. Die Regierung hat ein Gesetz verabschiedet, welches die Anstellung von "Eindringlingen" unter Strafe stellt. Die Abschreckung wirkt: Trotz eines Urteiles des Obersten Gerichtes, bis zur Eröffnung eines "Aufenthaltszentrums für Eindringlinge" das Gesetz nicht umzusetzen, welches Arbeitgeber von Asylsuchenden unter Strafe stellt, wagt so gut wie keiner eine Anstellung anzubieten.

Abrutschen in die Kleinkriminalität

Wie die Tageszeitung "Ha´aretz" berichtete, wendet die Polizei mittlerweile fragliche Methoden an, um Asylsuchende und Flüchtlinge hinter Gitter zu bringen. Ein Universitätsdozent konnte beobachten, wie sich verdeckte Politessen als Prostituierte verkleideten und in der Nähe des zentralen Busbahnhofes in Tel Aviv jeden verhafteten, der versuchte, sie anzugreifen. Andere Beamtinnen gaben sich als Betrunkene auf der Suche nach einem Taxi aus.

Als der Dozent einen Mann auf dem Boden liegen sah, der augenscheinlich unter dem Einfluss starken Alkoholkonsums rührungslos dalag, wollte er helfen. Auch dieser entpuppte sich jedoch als verdeckter Ermittler und sandte ihn schleunigst weg. Aus seiner Hemdtasche lugte unübersehbar eine mit Scheinen vollgestopfte Geldbörse. An einer anderen Stelle wiederholte sich die Szene und der Dozent wurde Zeuge, wie ein junger Eritreer den auf dem Boden Liegenden nach seinem Befinden fragte. Als keine Antwort kam, streckte er seine Hand aus, zog die Geldbörse aus der Hemdtasche und versuchte, wegzurennen. Sofort stürzten sich der Mann und eine Frau auf ihn und riefen laut "Polizei". Sekunden später tauchten sechs Polizeiwagen und Motorräder auf und umzingelten den Eritreer. Sein Kopf schlug bei der Festnahme auf einer Mauer auf.

Täglich werden solche Flüchtlinge, denen die Arbeit versagt wird, abgeführt und vor ein Gericht gebracht. Sie landen in Untersuchungshaft, weil sie aus purem Überlebensdrang Mobiltelefone gestohlen und sie in Läden wieder für umgerechnet 30 Euro verkauft haben. Mit dem Geld kaufen sie sich Lebensmittel oder bezahlen ihre Miete, wenn sie es geschafft haben, nicht mehr im Freien hausen zu müssen.

Petition will drohende Abschiebung verhindern

Am 1. Februar hat die Regierung ein Ultimatum gesetzt, dass illegale Einwanderer aus dem Südsudan bis zum 31. März in ihre Heimat zurückkehren müssten. Andernfalls würden sie abgeschoben. Israels Innenministerium teilte mit, dass Flüchtlinge aus dieser Region seit Ausrufung des unabhängigen Staates im Juli vergangenen Jahres keinen Schutzstatus in Israel mehr benötigten. Die Entscheidung betrifft laut Schätzungen 7.000 der sich in Israel aufhaltenden Migranten. Bei freiwilliger Rückkehr werde den Flüchtlingen 1.300 Dollar und ein Flugticket nach Hause geboten, berichtete "Ha´aretz".

Am Dienstag haben mehr als 400 Autoren, Musiker und Schauspieler eine Petition an Israels Premier Benjamin Netanjahu unterschrieben, die "drohende Abschiebung von 700 Flüchtlingen in den Südsudan zu verhindern". Die Bittsteller warnen den israelischen Premierminister, die Abschiebung der sich großteils im Kindesalter befindlichen Flüchtlinge bringe diese in Todesgefahr.

Unter den Signaturen finden sich prominente Namen wie die der Schriftsteller Amos Oz, David Grossman und A. B. Yehoshua, der Sängerin Yehudit Ravitz und diverser Schauspieler. Sie schreiben: "Wie kann ein Staat, der jedes Jahr einen Holocaust-Gedenktag feiert, ein Staat, dessen mehrheitliche Bevölkerung einmal Flüchtlinge waren und rassistische Verfolgung erlitten, nicht anderen Flüchtlingen helfen?"

Ein Bericht des Forschungs- und Informationszentrums der Knesset zeigt derweil auf, dass in 46 von 79 Distrikten des Südsudan weiterhin eine humanitäre Krise besteht. Darunter zählen Lebensmittelknappheit und Gewalt. Der Bericht basiert auf von den Vereinten Nationen gesammelten Daten und zeigt zusätzlich auf, dass im laufenden Jahr schätzungsweise die Hälfte der Bevölkerung des jungen Staates unter Hunger leiden wird. Die USA haben angekündigt, den südsudanesischen Flüchtlingen in ihrem Land den Schutzstatus bis Mai 2013 zu verlängern.

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