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Ein Wahlkampf im Koma

Rückzugsstimmung herrscht in Israel am Vorabend der Wahl zur 17. Knesset. Rückzug bedeutet für die Mehrheit der israelischen Bevölkerung einseitige Trennung von den Palästinensern und den umstrittenen Gebieten im Gazastreifen, in Judäa und Samaria. Im Wahlkampf wird allerdings auch ein Rückzug aus den Diskussionen um politische und soziale Gegensätze, religiöse Traditionen und ethnische Spannungen offenbar. „Für den 28. März hat IKEA eine Sonderaktion angekündigt. Betten und Schränke werden billiger sein. Das ist mir am wichtigsten.“ Die 25-jährige Irit Schani aus Tel Aviv schämt sich ihrer Laune nicht, obwohl die Marketing-Studentin sonst engagiert über den Chauvinismus und die sozialen Unterschiede in der israelischen Gesellschaft schimpft. Schimon Peres spricht vom „langweiligsten Wahlkampf in der Geschichte Israels“. Er muss es wissen. Immerhin sitzt der 82-Jährige seit 1959 im israelischen Parlament. Nicht nur Regierungschef Ariel Scharon, auch der Wahlkampf scheint im Koma zu liegen. Und dabei steht Israel in vieler Hinsicht an einem historischen Scheideweg.

Nach dem Kollaps des Friedensprozesses und dem Terror der letzten Jahre hat sich in der israelischen Gesellschaft eine neue Mitte gebildet, die der renommierte Kolumnist Ari Schavit als „harte Tauben“ bezeichnet und die 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung umfassen mag. Sie haben jeglicher idealistisch-messianischen Sichtweise von einem „Großisrael“ oder auch einem „Frieden in unseren Tagen“ Lebewohl gesagt und vertreten stattdessen eine misstrauisch-realistische Sicht gegenüber den Palästinensern. Auf die Stimmung dieses Großteils der Bevölkerung hat Ariel Scharon mit der Gründung der Rückzugspartei „Kadima“ – was ins Deutsche übersetzt „Vorwärts“ bedeutet – reagiert. Der Wahlsieg der Hamas in den Palästinensergebieten hat Israel einen Nicht-Partner beschert, auf den es sich verlassen kann. Die Hamas redet undiplomatisch hart, hält sich aber an das, was sie verspricht – ganz im Gegensatz zur Fatah, die dem Westen auf’s Maul schaute, und dann unter dem Deckmantel der Schwäche dem Terror freien Lauf ließ. Das birgt Gefahren, bietet aber auch Chancen. Im Nahen Osten haben bislang immer nur Hardliner, noch nie aber Friedenstauben miteinander Frieden geschlossen.

Daniel Cohen aus Jerusalem ist modern-orthodox und trägt eine gehäkelte Kippa auf dem Kopf. Auch er vermittelt zunächst Rückzugsatmosphäre, will von politischen Erklärungen nichts wissen. Dann lässt sich der 40-jährige Besitzer einer Software-Firma aber doch aus der Reserve locken: „Es geht um grundlegende jüdische Werte, um den Fortbestand des jüdischen Volkes und um die Unversehrtheit des Landes Israel.“ Dass Israel unter Ariel Scharon den Gazastreifen an die Palästinenser abgetreten hat und weitere Teile des biblischen Landes Israel aufgeben möchte, sieht er als Verstoß gegen die Gebote Gottes.

Aber im Wahlkampf kommt das nur verhalten zur Sprache, wie auch die soziale Lage kaum als Diskussionsstoff greift. „Es gibt niemanden, den man hassen könnte. Es gibt keinen Anlass für eine emotionale Wahl“, erklärt ein Wirtschaftsexperte. Natürlich schimpfen die sozial Schwachen und ihre Lobby auf Benjamin Netanjahu und seine rigorose Wirtschaftspolitik. Andererseits sind sich alle darin einig, dass der Staat Israel nur deshalb jetzt volle Kassen hat und sich sozial engagieren kann. „Die drei großen Parteien sind sich in sozialen und wirtschaftlichen Fragen zu 85 Prozent einig“, analysiert der russisch-stämmige Akademiker, gerät dann aber bei der Bitte um eine Erklärung der 15 Prozent Unterschiede ins Stocken.

„Es geht um die Zukunft der Beziehung von Juden und Arabern in diesem Land.“ Uri Dromi war Berater des ermordeten Premiers Jitzchak Rabin und Chef des Government Press Office. Als Begründung für seine Behauptung verweist er auf den rasanten Zulauf der Partei „Israel Beiteinu“, übersetzt „Israel unsere Heimat“, des russisch-stämmigen Avigdor Liebermann. Liebermann will den Palästinensern im Austausch für das Gebiet jüdischer Siedlungen israelisch-arabische Siedlungsgebiete, die an die Palästinensische Autonomie angrenzen, anbieten und so, laut Dromi, „israelische Staatsbürger loswerden, die eine demografische Bedrohung darstellen“. Ari Schavit vermutet dagegen, dass die russisch-stämmige Wählerschaft Ausschau hält nach einem starken Mann, nachdem sie Scharon verloren hat, „der oftmals eher die Aura eines Sowjetgenerals um sich verbreitete, als die eines klassischen israelischen Politikers“.

Rafi Cohen besitzt eine Gärtnerei in Givon, das auf Sichtweite von Ramalla in den besetzten Gebieten liegt. „Die Politiker sind alle Lügner und Verräter“, macht er seinem Frust Luft. „Wir einfachen Wähler zählen überhaupt nichts und die da oben machen sowieso, was sie wollen.“ Der 55-Jährige will aber von Wahlverweigerung nichts wissen. Er wird für die Pensionärspartei stimmen und hofft darauf, dass sich das positiv auswirken wird, bis er selbst in zehn Jahren in Rente gehen wird. „Die Pensionäre und die ‚Grün-Blatt-Partei’, die sich eine Legalisierung von Marihuana auf die Fahne geschrieben hat, sind am wenigsten korrupt.“ Ganz ähnlich sieht das der 34-jährige Eitan Bruckner aus Tel Aviv – und Umfragen zufolge haben die Pensionäre unter der Leitung des ehemaligen Geheimagenten Rafi Eitan reelle Chancen, die Zweiprozenthürde zu nehmen.

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