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Ein Tunnel durch die Wüste Negev?

Demenz erfordert mitunter Kreativität und Flexibilität. Diese Problematik thematisiert der israelische Autor Avraham B. Yehoshua auf liebevolle Weise im Roman „Der Tunnel“. Dabei kommt vor allem der Humor nicht zu kurz. Eine Rezension von Elisabeth Hausen
Nicht nur die Demenz, auch der Ramonkrater gibt in dem Buch Rätsel auf

In seinem neuen Roman „Der Tunnel“ kommt der israelische Schriftsteller Avraham B. Yehoshua sofort zur Sache. Die ersten Sätze lauten: „Lassen Sie uns zusammenfassen, sagt der Neurologe. Ja, bitte, flüstern beide.“ In dieser Besprechung erfährt Zvi Luria, dass sich in seinem Kopf eine Atrophie gebildet habe. Diese führt zu Demenz. Seine Ehefrau, die als Kinderärztin kurz vor dem Ruhestand steht, sitzt neben ihm.

Anlass für den Besuch beim Neurologen war ein Vorfall einige Wochen zuvor: Der 72-jährige Protagonist sollte seinen Enkel aus dem Kindergarten abholen – und verwechselte ihn mit einem anderen Jungen. Dieser hatte sich allerdings auch sofort auf ihn gestürzt, weil er ohne eigenen Vater aufwächst.

Doch das zentrale Problem ist, dass sich Zvi Luria Vornamen nur noch sehr schwer merken kann. Und so gerät der Rentner bei der Abschiedsfeier eines früheren engen Mitarbeiters in eine Bredouille, weil ihm der Vorname von dessen Frau entfallen ist. In seiner Abschiedsrede weicht er deshalb auf allgemeine Floskeln aus, was ihm die Betroffene übelnimmt. Sie denkt, er habe ihr keine Wertschätzung erweisen wollen. Doch der Patient ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit, dass er mit Außenstehenden über seine Demenz sprechen könnte. Er braucht dafür mehr als 100 Seiten,. Danach ist er vor allem erleichtert.

Am Ende trifft es dann auch seinen eigenen Vornamen, als er sich an einer historischen Stätte in der Wüste Negev befindet: „Die Urtrauer der Menschen, die hier im Altertum durchgezogen sein mögen und niemals wieder zum Leben erwachen werden, zieht das Herz des alten Mannes zusammen, und noch immer tastet er in heimlichem Grauen nach seinem Vornamen, der nicht einmal eine einzige Silbe zurückgelassen hat.“

Berufliches Fachwissen weiter gefragt

Liebevoll und in oft poetisch anmutendem Stil schildert Yehoshua die Probleme, die sich aus der Diagnose ergeben. Dabei ist der Tunnel erst einmal wörtlich zu verstehen: Der Protagonist ist Bauingenieur im Ruhestand, jahrelang hat er an wichtigen Knotenpunkten Straßenverläufe und eben auch Tunnel mitgeplant. Er gilt auch jetzt noch als Koryphäe, was sich daran zeigt, dass der Nachfolger in seinem Büro ihn um Mithilfe für ein besonderes Projekt bittet. Später stellt sich heraus, dass es sich gar um einen Geheimauftrag mit militärischer Bedeutung handelt. Unter anderem geht es darum, ob am Ramonkrater in der Wüste Negev ein Berg abgetragen oder ein Tunnel gegraben werden soll.

Doch der Tunnel hat auch eine übertragene Bedeutung: Zvi Luria muss sich irgendwie einen Weg durch die Hindernisse graben, die bislang selbstverständliche Abläufe erschweren oder gar unmöglich machen. Mit Fantasie und Humor schildert Yehoshua, wie er dabei vorgeht.

Der von Markus Lemke hervorragend aus dem Hebräischen übersetzte Roman ist voller Anspielungen auf politische und historische Probleme. So lässt sich der Demenzkranke die Nummer der Wegfahrsperre für sein Auto in den Arm tätowieren – ein deutlicher Hinweis auf die Häftlinge in den deutschen Konzentrationslagern, den der Autor allerdings nie offen anspricht.

Klarer sind die Bezüge zur Palästinenserfrage. Yehoshua geht etwa auf Aktivisten ein, die ehrenamtlich palästinensische Patienten transportiert haben – gegen den Willen der israelischen Armee. In diesem Zusammenhang merkt der Verfasser an, in einem Krankenhaus seien israelische und palästinensische Kinder „wie in einem einzigen Staat“ vermischt. Und der geplante Tunnel am Ramonkrater würde dazu dienen, eine palästinensische Familie zu retten.

Eheliche Liebe im Zentrum

Packend erzählt ist die Handlung, und die Hauptfigur wächst dem Leser durch die mitfühlende Beschreibung ans Herz. Im Zentrum steht die Liebe zwischen Zvi und seiner Frau Dina, die in all den gemeinsamen Jahren nicht nachgelassen hat. Dies zeigt sich etwa, als Dina nach einer überstandenen Krankheit die Wohnung für einen Gast herrichten möchte, aber noch erschöpft ist: „Alles geht wie gewünscht vor sich und der gemeinsame Kampf gegen den Erreger hat ihrer Liebe nur eine weitere, bereichernde Note verliehen und das gegenseitige Vertrauen gestärkt.“ Gerade das Misstrauen angesichts der nachlassenden Fähigkeiten des Demenzkranken ist ein wichtiges Thema. Auch die Beziehungen zu Kindern und Enkeln schildert der Verfasser als liebevoll.

Abraham B. Yehoshua: „Der Tunnel“, Nagel & Kimche, 368 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-312-01148-3 Foto: Nagel & Kimche; Andrew Shiva, Wikipedia
Abraham B. Yehoshua: „Der Tunnel“, Nagel & Kimche, 368 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-312-01148-3

Das Ende ist überraschend und lässt einige Fragen offen. Möglicherweise wollte es der Autor jedem Leser selbst überlassen, wie er sich die weitere Handlung vorstellen möchte. Das mag nicht jedem gefallen, aber Demenz entwickelt sich auch bei jedem Patienten anders. Grundsätzlich ist Avraham B. Yehoshua ein spannender Roman gelungen, der sich mitfühlend und aus Sicht eines Betroffenen mit dem Problem der Demenz im Anfangsstadium beschäftigt. Das lesenswerte Buch kann Menschen ermutigen, ihre eigenen Schwächen nicht so ernst zu nehmen und bei allen Widrigkeiten des Lebens den Humor nicht zu vergessen.

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