Die Begrüßung im Tabor-Haus durch Anna Hjälm ist herzlich. Obwohl wir uns zum ersten Mal begegnen, fühlt es sich vertraut an und schnell stellen wir fest, dass wir einige gemeinsame Bekannte in Jerusalem haben. Lange, sehr lange, hatte ich versucht, einen Termin für ein persönliches Treffen zu bekommen, denn das Schwedische Theologische Institut beherbergt einen besonderen Schatz: Die einzige Ikone im Heiligen Land und womöglich weltweit, die Jesus als Juden darstellt.
Bevor wir einen kleinen Rundgang beginnen, führt mich Anna in den Innenhof, eine Oase der Ruhe, abgeschirmt durch Mauern vom geschäftigen Treiben in der Rehov haNeviim, der Prophetenstraße. Anna leitet das Schwedische Theologische Institut seit gut drei Jahren.
Die gebürtige Nordschwedin arbeitete zuvor in Uppsala für die Schwedische Kirche (Svenska kyrkan) – die evangelisch-lutherische Nationalkirche Schwedens und ehemalige Staatskirche – und leitete in ihrer Heimat interreligiöse Projekte wie „Eine Welt voller Nachbarn“. Ich bitte sie, einen Einblick in die Nationalkirche Schwedens zu geben.
„Wir sind der deutschen Lutherischen Kirche in theologischen Aspekten sehr ähnlich, mit leichten Unterschieden in der Praxis, die auch innerhalb Schwedens variieren“, erklärt sie mir, „wir sind beispielsweise beide Mitglieder des Lutherischen Weltbundes.“
Gottesdienste am Samstag
Anna erzählt, dass die schwedische Gemeinde in Jerusalem ihre Gottesdienste stets am Samstag feiert, bemerkt meine Verwunderung darüber und fährt fort „wir feiern unsere Gottesdienste samstags, weil wir auch der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Jordanien und dem Heiligen Land angehören, die ihre wöchentlichen Gottesdienste sonntags abhält, an denen wir ebenfalls teilnehmen“.
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land (ELCJHL), gegründet 1959, geht auf die Ankunft deutscher und englischer protestantischer Missionare in Jerusalem Mitte des 19. Jahrhunderts zurück.
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Als Direktorin des Instituts koordiniert Anna auch in Jerusalem interreligiöse Begegnungen und Seminare. Bevor wir unseren Rundgang im Gebäude beginnen, bitte ich sie, zu schildern, wie sich der Hamas-Terroranschlag am 7. Oktober 2023 auf die interreligiöse Arbeit im Institut ausgewirkt hat. Anna sammelt sich einen Moment lang, bevor sie die Auswirkungen schildert.
„Die Ereignisse vom 7. Oktober hatten natürlich auch für uns große Folgen, da wir jüdische, muslimische und christliche Kollegen, schwedische Israelis und Palästinenser als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben. Es war sehr schmerzhaft für mein Team und wirkte sich auf uns und unsere Seminare aus. Normalerweise empfangen wir schwedische Theologiestudierende, Priester, Diakone und Laien sowie Gäste und Gruppen unserer Partnerkirchen, darunter die Weltkirche (Lutherisch-Weltkirche)“, sagt sie.
Letztere Gruppe habe hauptsächlich aus Geistlichen und Theologiestudierenden bestanden. „Der Krieg hat dies weitgehend zum Erliegen gebracht. Wenn wir beispielsweise schwedische Gäste haben, laden wir israelische Rabbiner zu einem Austausch über verschiedene Themen ein“, fügt sie hinzu, und zählt einige lokale Partner auf: das Rossing-Zentrum für Bildung und Dialog in Jerusalem, die Gesellschaft für interreligiöse Begegnung und „Rabbis für Menschenrechte.
Friedliches Miteinander fördern
Christen, auch Geistliche, werden immer wieder in Jerusalem verächtlich bespuckt, Kirchen mit feindseligen Parolen beschmiert. Ich erkundige mich nach ihren Erfahrungen diesbezüglich: „Bislang wurden wir nicht angegriffen, obwohl sich unser Institut im Tabor-Haus in Westjerusalem befindet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Mea Schearim. Somit haben wir orthodoxe jüdische Nachbarn. Uns als lutherische Christen zu erkennen, ist schwieriger als bei Geistlichen anderer christlicher Konfessionen, die oft leicht an ihrer Kleidung als Christen zu identifizieren sind. Wir suchen zudem auch den Dialog mit unseren Nachbarn und erklären, wer wir sind, um ein friedliches Miteinander zu fördern.“
Wir verlassen den Innenhof, gehen zurück in das Gebäude und bleiben im Eingangsbereich vor einer Vitrine stehen. Anna deutet auf ein Schwarz-Weiß-Frauenportrait, es zeigt Greta Andrén, die Gründerin des Schwedischen Theologischen Institutes: „Sie war Diakonin und wurde ins Heilige Land entsandt, um ein christliches Institut zu gründen, das sich jedoch bald zu einem Ort des interreligiösen Lernens und Dialogs entwickelte – vor allem zwischen Christen und Juden.“
Inspirierender Lebensweg
Der Lebensweg von Greta Andrén (1909_1971) ist bemerkenswert und inspirierend. Nach ihrem Hauptschulabschluss studierte sie zunächst biblisches Hebräisch, Englisch und Deutsch am Göteborg-College, heute Universität Göteborg. Im Alter von nur zwölf Jahren fühlte sie sich bereits zur Diakonin berufen und setzte mit diesem Ziel ihr Studium am Göteborger Diakonisseninstitut (heute Bräcke diakoni) fort. Mit jüdischer Kultur kam Greta Andrén vermutlich erstmals in Göteborg in Berührung, wo auch die Israel-Mission aktiv war.
Seit 1929 gehörte die gebürtige Schwedin dem Diakonissenhaus in Göteborg an, somit dem sozialen Dienst der evangelischen Kirche. Ihr Interesse an jüdisch-christlichen Beziehungen wurde erweckt, als sie 1934 im Ersta-Krankenhaus in Stockholm auf jüdische Patienten und Patientinnen traf.
Die Zeit in Wien auf der Station der Israel-Mission markiert einen Wendepunkt in ihrem Leben, denn die Mission richtete sich an säkularisierte Juden und mit Christen verheiratete Juden. Zudem unterstützte die Mission getaufte Juden.
Als Hitlers Truppen im März 1938 Wien besetzten, hatte dies massive Auswirkungen auf das Leben für die Juden sowie für die Station der Israel-Mission: Die Rassen- und Rassentrennungsgesetze des nationalsozialistischen Deutschlands wurden eingeführt. Die „Christen jüdischer Herkunft“, wie sie in der Mission genannt wurden, befanden sich fortan in einer prekären Situation, denn die Jüdische Gemeinde lehnte sie ab und als Christen jüdischer Herkunft wurden sie von den Nazis verfolgt.
Hilfe für Flüchtlinge
Die Mission konzentrierte sich nun auf die Flüchtlingshilfe, versuchte, Ausreisegenehmigungen für Kinder und Jugendliche zu organisieren. Greta Andrén musste aber auch hilflos mitansehen, wie Mitglieder ihres Frauen- und Jugendkreises in polnische Lager deportiert wurden, wo viele ihrer Schützlinge ermordet wurden.
Greta diente bis 1941 dem Stützpunkt der Schwedischen Israelmission in Wien. Von 1942 bis 1946 fungierte sie als Hausmutter in der schwedischen Missionszentrale, gleichzeitig als Jugendsekretärin des Bistums Stockholm.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war Greta Andrén 1946 für kurze Zeit nach Wien zurückgekehrt, hatte auch das Nachkriegsdeutschland bereist um den Hilfsbedarf zu ermitteln und die Missionsarbeit wieder zu aktivieren. Noch im selben Jahr wurde sie mit einer besonderen Aufgabe betraut: „Greta wurde ins Heilige Land entsandt, um ein christliches Institut zu gründen, das sich jedoch bald zu einem Ort des interreligiösen Lernens und Dialogs entwickelte – vor allem zwischen Christen und Juden“, erzählt Anna von den Anfängen.
Im Mai 1946 kam Greta Andrén mit dem Schiff im Hafen von Haifa an. Zu den ihr übertragenen Aufgaben gehörte es auch, geeignete Räumlichkeiten zu finden, Kontakte zu knüpfen sowie modernes Hebräisch zu lernen.
Schwierige Anfänge
Die Umsetzung der Pläne der Mission in Israel für ein kombiniertes Studien- und Missionszentrum gestalteten sich anfangs als sehr schwierig, denn in den letzten Jahren des britischen Mandats über Palästina hatten die Spannungen im Land stark zugenommen. Greta Andrén hatte in Jerusalem zwei Juden getauft, auch dies sollte zu Problemen führen.
Die britische Regierung stand kurz davor, das Land zu verlassen, und das Chaos nahm zu. Es kursierten Gerüchte über Entführungen von Juden, die Christen geworden waren. Missionare befürchteten ein Massaker an diesen Juden. Sie kontaktierten die britischen Behörden mit dem Gesuch um Evakuierung – erfolglos.
Daraufhin kehrte Greta nach Schweden zurück, um die Rettung der getauften Juden über das Stockholmer Büro der Mission in Israel voranzutreiben. Die Evakuierung von 100 getauften Juden und Jüdinnen per Schiff nach England erfolgte im April und Mai 1948 unter dem Namen „Operation Mercy“.
Im November 1949 kehrte Greta Andrén nach Jerusalem zurück. Nach dem Waffenstillstand im selben Jahr wurde die Stadt in eine arabisch-jordanische und eine jüdisch-israelische Zone aufgeteilt.
Erfolgreiche Verhandlung mit Bildungsministerium
Mit Göte Hedenquist, einem Kollegen aus ihrer Zeit in Wien, verhandelte sie erfolgreich mit dem israelischen Bildungsministerium und erhielt die Erlaubnis, Aktivitäten als Forschungs- und Studieninstitut aufzunehmen, unter einer Bedingung: Das Unterlassen von missionarischen Aktivitäten. Und endlich, nach langer intensiver Suche, fand Greta im Jahr 1951 eine passende Immobilie, das Tabor-Haus. Die Leitung übernahm Hans Kosmala, ein Kollege aus ihrer Wiener Zeit. Greta Andrén wurde zur Oberin ernannt.
Das Tabor-Haus gehörte einst dem Archäologen, Missionar und Architekten Conrad Schick (1822–1901). Er hatte es nach seinen Vorstellungen entworfen. Schick stammte ursprünglich aus dem in Baden-Württemberg gelegenen Bitz und kam als junger Mann im Auftrag der protestantischen Pilgermission St. Chrischona im Jahr 1846 nach Palästina – seinerzeit unter Osmanischer Herrschaft. Er ließ sich in Jerusalem nieder.
Schick baute zahlreiche viel beachtete Modelle des Zweiten Jüdischen Tempels, auch seine Rekonstruktion des Tabernakels wurde von zahlreichen Staatsoberhäuptern bestaunt und landete letztlich in Großbritannien. Die Türken präsentierten 1873 auf der Weltausstellung in Wien ebenfalls zwei seiner Modelle aus Holz. Eins davon gelangte in ein Schweizer Museum, das andere erstand König Karl I. von Württemberg, der Schick daraufhin zum Hofbaurat ernannte.
Auch der osmanische Sultan schätzte seine Expertise und bestellte ein Modell des zeitgenössischen Tempelbergs mit Felsendom. Gemeinsam mit anderen entwarf Schick auch das heute ultra-orthodoxe Viertel Mea Schearim. Der Name wird auf Deutsch meist mit „einhundert Tore“ wiedergegeben, wobei die wörtliche Bedeutung „hundertfach“ lautet, abgeleitet von Genesis 26,12: Und Isaak säte in diesem Land und gewann in jenem Jahr das Hundertfache; so segnete ihn der HERR. (Elberfelder Bibel).
Persönlicher Traum erfüllt
Mit dem Tabor-Haus erfüllte sich Conrad Schick einen persönlichen Traum. Die Namensgebung basiert auf Psalm 89, Verse 12 bis 13: Dein ist der Himmel, und dein ist die Erde. Die Welt und ihre Fülle, du hast sie gegründet. Norden und Süden, du hast sie erschaffen. Tabor und Hermon jubeln in deinem Namen.
Conrad Schick lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1901 im Tabor-Haus. Als gläubiger Christ hatte er in seinem Haus eine kleine private Kapelle, heute die Birgitta-Kapelle des Schwedischen Theologischen Institutes. Seine letzte Ruhe fand Conrad Schick auf dem protestantischen Friedhof auf dem Jerusalemer Zionsberg.
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1951 erwarb das Schwedische Theologische Institut das Gebäude samt Judaica-Bibliothek. Noch im selben Jahr nahmen die ersten Studenten ihr Studium am Institut auf. Die Anfänge waren herausfordernd, denn es gab unter anderem strenge Lebensmittelrationierungen und es war schwierig, frische Lebensmittel zu lagern.
Greta Andrén meisterte mit Pragmatismus und Kreativität die Herausforderungen und baute ein umfangreiches Netzwerk an Kontakten in Jerusalem auf. 1960 wurde ihr der Wasa-Orden verliehen. Als Ausdruck seiner Wertschätzung für die Förderung des Dialogs zwischen Christen und Juden besuchte 1962 Israels damaliger Präsident Jizchak Ben-Zvi im März das Schwedische Theologische Institut, das sich bis heute gegen Antisemitismus engagiert.
Zu ihren Lebzeiten berichtete Greta Andrén den Studierenden von ihren eigenen Erfahrungen aus Wien während der Hitlerzeit. Nach 20 Jahren als Oberin in Jerusalem kehrte sie im Herbst 1971 nach Schweden zurück, wo sie nach schwerer Krankheit am 31. Oktober noch im selben Jahr starb.
Besondere Inschrift
Wir wenden uns einer Platte, eingelassen in der gegenüberliegenden Wand, zu. Ich versuche, den Text zu entziffern, tue mich aber schwer damit. Anna erklärt mir ihren Ursprung, hat Informationen sowie eine Übersetzung parat. Demnach handelt es sich um eine Samaritaner Marmor-Stele, in sie ist eingemeißelt in samaritanischem Aramäisch das „Zweite Gesetz“, 5. Mose 4, 29–31, somit das Deuteronomium:
Dann werdet ihr von dort aus den HERRN, deinen Gott, suchen. Und du wirst ihn finden, wenn du mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele nach ihm fragen wirst. Wenn du in Not bist und wenn alle diese Dinge dich getroffen haben am Ende der Tage, wirst du zum HERRN, deinem Gott, umkehren und auf seine Stimme hören. Denn ein barmherziger Gott ist der HERR, dein Gott. Er wird dich nicht aufgeben und dich nicht vernichten und wird den Bund deiner Väter nicht vergessen, den er ihnen geschworen hat.
Wir setzen unseren Weg zur Birgitta-Kapelle fort, die Spannung steigt, denn hier soll sie sein: Die Ikone, die Jesus als Juden darstellt. Unmittelbar nach Eintritt in die Kapelle linkerhand eine weitere Ikone. Sie stellt die schwedische Heilige dar, die Namensgeberin der Kapelle.
Ordensgründerin aus Hochadel
Birgitta wurde um 1303 im schwedischen Uppsala geboren und entstammte dem Hochadel. Bereits als Kind verspürte sie den Drang, Nonne zu werden, was ihren Eltern missfiel. Als 13-Jährige wurde sie mit einem einflussreichen Adligen namens Ulf verheiratet, wurde Mutter von acht Kindern und setzte sich für sozial geächtete Frauen ein.
Gemeinsam unternahm das tiefgläubige Ehepaar verschiedene Pilgerreisen, zuletzt bis zum spanischen Jakobusgrab. Ulf erkrankte auf der Rückreise und verstarb kurz nach der Rückkehr im Jahr 1344 in der Zisterzienserabtei Alvastra. Birgitta lebte fortan als Drittordensschwester des heiligen Franziskus weiter am königlichen Hof, wo ihre Visionen zunahmen und sie als „Braut“ Christi den Auftrag erhielt, einen Orden zu gründen, um der ganzen Welt G´ttes Gerechtigkeit und Liebe zu verkünden. Um 1346 gründete sie auf einem Gut in Vadstena (Vätternsee) den Orden des Allerheiligsten Erlösers, der später nach ihr Birgittenorden genannt wurde.
Als Ratgeberin am schwedischen Königshof kritisierte sie mutig die Sittenlosigkeit von Adel und Klerus. Birgitta schrieb inspiriert durch ihre Visionen eine Ordensregel für Gemeinschaften von Priestern und Nonnen in Doppelklöstern. 1349 ging sie mit ihrer Tochter Katharina nach Rom, um sich der Armenfürsorge zu widmen und die Anerkennung ihres Ordens zu erwirken. Sie sollte viele Jahre darauf warten müssen. Erst im Jahr 1370 bestätigte Papst Urban V. eine stark verkürzte Ordensregel.
Unerschrocken setzte sich Birgitta für ein Ende des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich ein. Nach einer Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land starb sie am 23. Juli 1373 in ihrem klösterlichen Haus an der Piazza Farnese in Rom. Die offizielle Bestätigung ihres Ordens 1378 erlebte sie nicht mehr. Papst Bonifatius IX. sprach sie 1391 heilig. 1396 wurde Birgitta zur Patronin ihrer Heimat Schweden ernannt. Ihre Vision von einem Kloster in Schweden hatte sich bis zu ihrem noch nicht endgültig erfüllt.
Erst unter ihrer Tochter Katharina, die sie zeitlebens treu begleitete, wurde der Birgittenorden (Ordo Sanctissimi Salvatoris, OSsS, „Orden des Allerheiligsten Erlösers“) offiziell errichtet. Ein Birgittenkloster existierte bis Dezember 2016 im oberbayerischen Altomünster.
Kloster in Jerusalem
Anna erzählt mir, dass es auch in Jerusalem ein Birgitten-Kloster gibt, gegründet 1875: „Die Nonnen stammen überwiegend aus Indien, aus dem Bundesstaat Kerala, wo es viele indische Christen gibt“, weiß Anna zu berichten und beschreibt mir in den Weg dorthin. Das Kloster liegt am Fuße des Ölbergs in der Al-Suwaana-Straße. Besucher sind nach Voranmeldung willkommen, das Kloster verfügt auch über ein Gästehaus.
Anna fügt eine weitere interessante Information hinzu: „Papst Johannes Paul II. ernannte 1999 die Heilige Birgitta zu einer der sechs Schutzpatroninnen Europas.“ Ihr keltischer Name bedeutet „die Helle“ oder auch „die Erhabene“. Anna schwärmt von Birgitta als verbindender Kirchenfigur, „sie verkörpert eine wunderbare Brücke zwischen dem christlichen Erbe in Schweden und den katholischen Heiligen“, und setzt fort: „In der Evangelisch-Lutherischen Kirche gilt sie als Quelle spiritueller Inspiration. Birgitta ist ein Vorbild dafür, wie man im Glauben standhaft bleibt und darauf vertraut, dass Gott uns führt.“
Und nun ist es soweit, wir wenden uns der legendären Jesus-Ikone zu. Sie schmückt die Wand über dem Altar. Geschaffen wurde wie von Bengt Olof Kälde (geb. 1936), einem der bedeutendsten schwedischen Künstler für sakrale und heraldische Kunst des 20. Jahrhunderts.
Der Künstler absolvierte seine Ausbildung zum Ikonenmaler im Benediktinerkloster Chevetogne in Belgien, in Athen und im abgeschiedenen Kloster auf dem Berg Athos. Nach seinem Studium an der Akademie der bildenden Künste in München und Wien schuf er Mosaiken und Glasfenster. Seine monumentalen Kunstwerke befinden sich in Kirchen in Schweden, Österreich, Deutschland, Italien, Neuseeland und den USA.
Das Werk hält den Augenblick aus Lukas 2,22–38 fest, in dem Maria ihren erstgeborenen Sohn an Simeon im Tempel überreicht, während Josef auf der linken Seite mit seinen Tauben wartet. Anna, Marias Mutter, betrachtet auf der rechten Seite die Szene.
Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz Moses vollendet waren, brachten sie ihn nach Jerusalem hinauf, um ihn dem Herrn darzustellen – wie im Gesetz des Herrn geschrieben steht: „Alle männliche Erstgeburt soll dem Herrn heilig heißen“ – und ein Schlachtopfer zu geben nach dem, was im Gesetz des Herrn gesagt ist: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben. Und siehe, es war in Jerusalem ein Mensch, mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels; und der Heilige Geist war auf ihm. Und ihm war von dem Heiligen Geist eine göttliche Zusage zuteilgeworden, dass er den Tod nicht sehen werde, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe. Und er kam durch den Geist in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um mit ihm nach der Gewohnheit des Gesetzes zu tun, da nahm auch er es in seine Arme und lobte Gott und sprach: Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast im Angesicht aller Völker: ein Licht zur Offenbarung für die Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel. Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was über ihn geredet wurde. Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen –, damit Überlegungen aus vielen Herzen offenbar werden. Und es war eine Prophetin Hanna, eine Tochter Phanuëls, aus dem Stamm Asser. Diese war in ihren Tagen weit vorgerückt; sie hatte sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt von ihrer Jungfrauschaft an; und sie war eine Witwe von vierundachtzig Jahren, die wich nicht vom Tempel und diente ⟨Gott⟩ Nacht und Tag mit Fasten und Flehen. Und sie trat zur selben Stunde herbei, lobte Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.
Ich studiere eingehend die Ikone. Anna macht mit auf ein interessantes Detail aufmerksam: „In seinem ursprünglichen Entwurf waren die Tauben weiß. Als der Künstler jedoch nach Jerusalem kam, stellte er fest, dass es in Israel keine weißen Tauben gibt; die einheimischen Tauben sind braun. Daraufhin korrigierte er seinen Entwurf für die Ikonen.“
Obwohl das Augenmerk auf dem Jesuskind liegt, dominiert Simeon die Ikone, über den wir aus der Bibel nicht viel erfahren, außer dass er zum Zeitpunkt von Jesu Darstellung bereits sehr alt war und viele Jahre auf diesen Moment gewartet hat. Jetzt, da der ersehnte Moment gekommen ist und das Jesuskind in seinem Armen liegt, ist Simeon bereit, zu sterben und spricht: HERR, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast: denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.
Das Evangelium beschreibt Simeon als gerecht und g´ttesfürchtig, tief verwurzelt in der jüdischen Tradition. Mit dem Kind in seinen Armen freut er sich über den Neubeginn für die Welt. Simeon steht an der Schwelle dessen, was Christen als das Alte und Neue Testament bezeichnen.
Simeon mit Tallith
Die Ikone zeigt Simeon eingehüllt in seinen Tallith, den jüdischen Gebetsschal. Wie im 4. Buch Mose 15,37–41 steht, sind die vier Schnüre ein Zeichen des Bundes zwischen G´tt und seinem Volk Israel sowie eine stetige Erinnerung an seine Gebote. Simeons Gebetsschal erinnert uns daran, dass Jesus ein Jude ist und in die Obhut des jüdischen Volkes übergeben wird. Wenn Jesus seiner jüdischen Identität beraubt wird, wird er zu einem anderen Jesus als der, den die Kirche mit dem Evangelisten Johannes (1,14) bekennt:
Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Einzigen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Und: Als gläubiger Jude legte auch Jesus den Gebetsschal an.
Das Tryptichon schuf Bengt Olof Kälde gemäß der klassischen byzantinischen Tradition. Und dennoch sind die Bilder innovativ, denn sie bilden die besondere und einzigartige Verbindung von Juden- und Christentum ab.
„Sie wurden geschaffen, um antisemitischen Darstellungen etwas entgegenzustellen und um einen wichtigen Aspekt zu betonen, der in der christlichen Theologie und Kunst versäumte wurde: Die Darstellung Jesu als Jude“, betont Anna. Käldes Ikone ist vermutlich die erste und wahrscheinlich bislang die einzige bildliche christliche Darstellung, die einen Juden in seinen Gebetsschal gehüllt darstellt.
Die Ikone in der Birgitta-Kapelle des Schwedischen Theologischen Institutes wurden 1986 durch den lutherischen Bischof Grégoire Haddad eingeweiht.
Der polnisch-jüdische Künstler Maurycy Gottlieb (1856–1879) und der im Russischen Reich als Moische Segal geborene Künstler Marc Chagall (1887–1985) stellten Jesus als gläubigen Juden dar. Chagall malte Jesus am Kreuz in einen Tallith gehüllt. Mit ihrem jüdischen Jesus forderten auch diese beiden Künstler das Christentum heraus, sich mit seinen jüdischen Wurzeln und dem Antisemitismus auseinanderzusetzen.
Kreuz-Tattoo am Handgelenk
Schon zu Beginn meines Besuchs hatte ich an Annas innerem Handgelenk ein dezentes Kreuz-Tattoo bemerkt. Bei flüchtigem Hinsehen kam mir das Kreuz der Kopten in den Sinn.
Bei näherem Betrachten wird der Unterschied deutlich, ich spreche Anna auf ihr Tattoo an, ob sie mir erzählen mag, was sie dazu bewegt hat: „In der Grabeskirche, auf dem Weg zur St.-Helena-Kapelle, haben christliche Pilger seit Jahrhunderten Kreuze in die Wand geritzt. Sie haben mich zu diesem Tattoo inspiriert. Es bekundet mein Bestreben, mich in die lange Reihe der Pilger einzureihen.“
Zum Abschluss meines Besuches kommt Anna Hjälm nochmal auf Greta Andrén zu sprechen: „Greta trug nach dem Zweiten Weltkrieg zur Versöhnung vieler christlicher Organisationen miteinander bei und setzte sich während ihrer Zeit in Wien aktiv für die Rettung von Juden ein. Sie war überzeugt, dass es keine Missionierung geben sollte, sondern vielmehr den interreligiösen Dialog zu suchen galt, um voneinander zu lernen. Das Schwedische Theologische Institut ist stolz darauf, dieses Engagement zu wahren.“
Die Ikone erinnert an die christlichen Wurzeln im Judentum. Wir verweilen noch einen Moment schweigend in der Birgitta-Kapelle und lassen die Strahlkraft der Ikone auf uns wirken.
2 Antworten
Danke an Israel Netzwerk für den interessanten Bericht, der uns allen den Horizont erweitert. Auch Greta Andren ist eine bemerkenswerte Frau, und Schweden hat einen besseren Weg genommen als das Luther-Deutschland.
Dass Jesus jüdisch ist sollte eigentlich jedem Menschen klar sein, bitter ist es für mich, dass in der Neuzeit sich alles wieder ins Böse verkehrt. Diese Welt ist nicht mehr normal, engagierte Menschen aus Schweden, wie hier beschrieben, spielen in Europa kaum noch eine Rolle.
Das Friedliche Miteinander fördern, was gibt es Wichtigeres ?! Es ist nur leider in dieser Welt rar geworden.
Friedliches Miteinander in Israel möglich, orthodoxe jüdische Nachbarn immer friedlich. Das hört sich gut an.