Suche
Close this search box.

Die Ermordung der Marsmenschen der Westukraine

Solotschiw, Kreisstadt im Bezirk Lemberg (Lwiw) und eine mir fremde Stadt, hat mich sprichwörtlich gefesselt. Sie hat es außerdem geschafft, eine emotionale Schicht aufbrechen zu lassen, die normalerweise den Verstand beim Besuch von Orten des Massenmordes schützt. Eine Reportage von Schimon Briman
Ukrainische Nationalisten organisierten den begeisterten Empfang der nationalsozialistischen Soldaten

Ähnliches wie in der Ukraine habe ich vor vielen Jahren beim Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz erlebt. Damals war es der Berg von Koffern und Schuhen in einem Saal des ehemaligen KZ, der mich emotional erschütterte. In Solotschiw hingegen gab es keine herzzerreißenden Gegenstände. Vielmehr war es eine Mitarbeiterin des Schlossmuseums, die mich schockierte. Als israelischer Tourist fragte ich sie, warum es keinen Gedenkstein oder eine Tafel an dem Ort hinter der Mauer des Schlosses von Solotschiw gebe, an dem tausende ermordeter Juden vergraben sind.

Nicht gekennzeichnetes Massengrab der im Pogrom am 3. Juli 1941 ermordeten Juden außerhalb der Mauer des Schlosses von Solotschiw Foto: Schimon Briman
Nicht gekennzeichnetes Massengrab der im Pogrom am 3. Juli 1941 ermordeten Juden außerhalb der Mauer des Schlosses von Solotschiw

Als Antwort gab sie von sich, was ihr ehrliches Unterbewusstes ihr als Erstes auf die Zunge legte: „Es gibt dort kein Schild, weil die jüdische Gemeinde keines aufgestellt hat.“ Für sie waren die ermordeten jüdischen Nachbarn keine Landsleute und Mitbürger, sondern Fremde beziehungsweise zugewanderte Marsmenschen.

Völkermord in Kleinstädten immer persönlich

Diese „Marsmenschen“ machten bis zum Krieg immerhin 9.000 von 16.000 Bewohnern Solotschiws aus. Zum Zeitpunkt der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee waren es weniger als einhundert Juden. Wenn Auschwitz eine namenlose Massenfabrik des Todes war, dann war der Völkermord in den Kleinstädten immer persönlich: Entweder töteten Nachbarn ihre Nachbarn oder beobachteten, wie sie umgebracht wurden. Viele nutzten das „Verschwinden“ der Nachbarn zu ihrem Nutzen. Einzelne Retter sind als „Gerechte unter den Völkern“ in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem verewigt.

Die Deutschen nahmen Solotschiw am 1. Juli 1941 ein. Am selben Tag bildete die örtliche ukrainische Intelligenzija das „Ukrainische Nationalkomitee“, nach der Zahl ihrer Mitglieder die Gruppe der „Dreißig“ genannt. Genau dieses Komitee veranstaltete in den ersten Tagen des Juli zu Ehren des Einmarsches der Wehrmachtstruppen in die Stadt eine Festkundgebung. Dies geschah unter den Losungen „Ruhm Bandera!“, „Heil Hitler“, mit Porträts des ehemaligen Anführers der OUN (Organisation der Ukrainischen Nationalisten), Jewhen Konowalez, und des Führers (siehe Foto oben).

Am Tag nach dem Einmarsch der deutschen Armee, dem 2. Juli, gab es in Solotschiw weder Strukturen der Besatzungsmacht noch Hitler-Propaganda, weil noch keine entsprechenden Propaganda-Organe existierten. Dennoch war die Stadt mit Plakaten beklebt, in ukrainischer Sprache. Die Plakate waren vom „Ukrainischen Nationalkomitee“ vorbereitet und gaben den Juden die Schuld an den Verbrechen der sowjetischen Geheimpolizei, des NKWD, der über 700 Gefangene des Gefängnisses im Solotschiwer Schloss ermordet hatte.

Judenpogrom: Ukrainische Initiative

Die Anführer der „Dreißig“ baten bei den Deutschen um Erlaubnis für ein Judenpogrom – und erhielten eine solche Erlaubnis. Am Morgen des 3. Juli begann auf Initiative des „Ukrainischen Nationalkomitees“ das Judenpogrom – eine Kombination von Fest und Rache. Das Fest war zu Ehren des am 30. Juni in Lemberg von Bandera-Anhängern ausgerufenen „Aktes der Unabhängigkeit der Ukraine“; die Vergeltung an den Juden geschah wegen der Greueltaten des stalinistischen NKWD – und das, obwohl 10 Prozent der hingerichteten Häftlinge Juden waren.

Eine Gruppe bewaffneter Ukrainer mit Armbinden in den ukrainischen Nationalfarben Gelb und Hellblau trieben die friedlichen jüdischen Bewohner aus ihren Häusern. Dabei wurden sie brutal verprügelt und misshandelt. Gleichzeitig kamen aus den benachbarten ukrainischen Dörfern mehrere Dutzend geschäftstüchtige Leute auf Fuhrwerken. Sie begaben sich auf Raubzug und leerten die jüdischen Häuser am 3. Juli, dem Tag des Pogroms.

Die Juden wurden in den Schlosshof getrieben, wo sie zuerst gezwungen wurden, mit nackten Händen die Leichen der Eingekerkerten des NKWD-Gefängnisses auszugraben. Dann wurden die Menschen, die zuvor den Schlägen ausgesetzt waren, erschossen und mit Handgranaten beworfen. Außer deutschen SS-Angehörigen nahmen auch Dänen, Norweger und Schweden an den Erschießungen teil. Diese waren Freiwillige der SS-Division „Wiking“. Ein deutscher Infanterie-Oberst eines durchziehenden Teiles der Wehrmacht konnte nur mit Mühe die Schlächterei beenden, in deren Zuge während des 3. bis 5. Juli fast 3.500 Juden ermordet worden waren.

Zeugenaussagen des Überlebenden Abram Rosen über das Pogrom in Solotschiw im Juli 1941 – er wurde verwundet und unter Leichen verschüttet Foto: Schimon Briman
Zeugenaussagen des Überlebenden Abram Rosen über das Pogrom in Solotschiw im Juli 1941 – er wurde verwundet und unter Leichen verschüttet

Insgesamt wurden in den Jahren der Besatzung in Solotschiw und Umgebung 14.000 Juden ermordet. Eine erschütternde Quelle über die Geschichte ihres Todes ist das Chronikbuch von Schlomo Mayer, der wie durch ein Wunder gerettet wurde. Dieser befand sich nach dem Krieg in einem Übergangslager in Deutschland und veröffentlichte seine Erinnerungen und die Aussagen anderer Geretteter unter dem Titel „Sloczow: Der Untergang einer Stadt“. 1947 erschien es erstmals in München, auf Jiddisch in lateinischen Buchstaben.

Einem offenen Gespräch ausweichen

Der Holocaust in solch einem kleinen Städtchen bedeutet, dass die Hälfte der Bevölkerung Solotschiws heute in „plözlich verlassenen“ jüdischen Häusern lebt, dass ihre Großväter und Eltern in jüdischen Betten schliefen und jüdische Möbel und Geschirr nutzten. Einfach deswegen, weil ihre Nachbarn, die „Marsmenschen“, verschwunden waren. Es wäre doch zu schade gewesen, wenn deren Hab und Gut verkommen wäre!

Deshalb will bis heute fast niemand in der Stadt davon hören, davon sprechen oder sich an die Verbrechen erinnern, die in diesen Straßen begangen wurden. Denn sich zu erinnern würde bedeuten, ein offenes Gespräch über den Grad der Beteiligung der Vorfahren am Raub und der Ermordung ihrer Nachbarn zu führen.

Als am 3. April 1943 die deutsche Sicherheitspolizei und die von den Deutschen aufgestellte ukrainische Hilfspolizei von Solotschiw das Ghetto liquidierte, wurde entschieden, dabei keine Patronen zu verschwenden. Nachdem die Juden auf dem Platz des „Grünen Marktes“ versammelt worden waren, wurden 300 Kinder von den Eltern getrennt und in Säcke gestoßen. Darin wurden sie gleich daneben lebendig in der Erde vergraben.

Späterer Nobelpreisträger von ukrainischem Ehepaar gerettet

In einem dieser Säcke hätte sich auch der sechsjährige Roald befinden können. Doch es gelang ihm, sich mit seiner Mutter aus Solotschiw in das Nachbardorf Uniw zu retten, aufgrund des Heldenmutes des Ukrainers Mykola Djuk und seiner Frau Maria. Im selben Dorf Uniw hatten ukrainische Mönche auf Anordnung des Metropoliten Andrej Scheptyzkyj jüdische Kinder versteckt. 1981 erhielt der amerikanische Professor Roald Hoffmann den Nobelpreis für Chemie. Wie viele potenzielle Nobelpreisträger wohl in den kräftigen Leinensäcken im Zentrum Solotschiws begraben blieben?

2015 besuchte Professor Hoffmann Uniw, zusammen mit seinen Kindern und Enkeln. Er gab ihnen den Auftrag, immer gute Beziehungen zu den Nachfahren seiner ukrainischen Retter zu pflegen. Im Juli dieses Jahres gab die ukrainische Post „Ukrposchta“ eine Briefmarke zu Ehren des 80. Geburtstages Hoffmanns heraus; er ist der einzige der heute lebenden Nobelpreisträger, die in der Ukraine geboren sind und hier den Holocaust überlebten.

Aufgrund der Initiative und Gelder amerikanischer und israelischer Juden wurde in Solotschiw ein Denkmal auf dem zerstörten jüdischen Friedhof aufgestellt, und eine Gedenktafel im Hof des Schlossmuseums angebracht. Die Grube hinter der Schlossmauer ist ein jüdisches Massengrab, das bisher durch keinerlei Gedenkzeichen gekennzeichnet ist. Dort liegen die Menschen, die im Juli-Pogrom 1941 ermordet wurden. In der Ausstellung des Schlossmuseums von Solotschiw gibt es nicht eine einzige Informationstafel über die Tragödie des Holocaust der jüdischen Nachbarn, und kein einziges Wort darüber, dass in Solotschiw eine jüdischen Gemeinde mit einer reichen Geschichte existierte. Anstelle der zerstörten Großen Synagoge befindet sich ein öder Platz für den Straßenverkehr beim Zentralen Busbahnhof.

Wenn es diese „Außerirdischen“ wirklich in diesem kleinen Städtchen gegeben hat, dann müssen sie wohl weggeflogen oder auf geheimnisvolle Weise verschwunden sein, ohne auch nur eine Spur von sich in den Straßen Solotschiws zu hinterlassen.

Ukrainischer Einfluss auf Lage in Solotschiw deutlich erkennbar

Was die Datierung der Fotografie der Pro-Hitler-Versammlung in Solotschiw angeht, gibt es verschiedene Versionen. In der Gruppe „Lokalgeschichte Galiziens“ wird bestätigt, dass diese Kundgebung am 30. Juni stattfand, auch wenn dies ein offensichtlicher Fehler ist: Die Stadt wurde erst am 1. Juli von den Deutschen eingenommen. Auf der anderen Seite wird in der Broschüre über die Geschichte Solotschiws im Abschnitt über die örtliche Abteilung der OUN angegeben, dass die Kundgebung am 6. Juli stattfand.

Der Einfluss der OUN auf die Situation in Solotschiw in den ersten Julitagen 1941 ist sichtbar an der Besetzung der Auftretenden am Balkon, dem verzierten Dreizack, der gelb-hellblauen Flagge, der Stoffplane mit dem Hakenkreuz, den Porträts von Hitler und Konowalez, sowie Bannern mit den Aufschriften „Ruhm Bandera“ und „Heil Hitler“. Wie die erwähnte Gruppe „Lokalgeschichte Galiziens“ berichtet: An der Verkündigung des Aktes vom Balkon im zweiten Stock des oben erwähnten Gebäudes waren vier Personen beteiligt:

  • Miroslava Hulko-Ruda – Mitglied der OUN(B), die Vorsitzende der lokalen Organisation „Union der Ukrainerinnen“

  • Vater Onesimus Schuplat – Abt des Basilianerklosters in Solotschiw

  • Ossip Bespalko, mit Pseudonym „Andrej“ – Kreisleiter der OUN im Kreis Solotschiw

  • Ein unbekannter Besucher aus der Stadt, möglicherweise ein Mitglied der obersten Führung der OUN

Begrüßung der Hitler-Truppen unterschlagen

Selbst wenn die zweite Version der Datierung dieser Fotografie stimmt (Kundgebung am 6. Juli), ändert das nicht den Kern der tragischen Ereignisse, die in Solotschiw geschehen sind: Das dreitägige Pogrom gegen die Juden vom 3. bis 5. Juli wurde mit einer Kundgebung ukrainisch-nationalistischer Aktivisten und OUN-Anhänger und tausender Bewohner der Stadt zu Ehren des Einmarsches der deutschen Truppen in Solotschiw beendet.

Es ist bezeichnend, dass in der heutigen Broschüre über die Geschichte Solotschiws diese Kundgebung anders genannt wird: Die Begrüßung der Hitler-Truppen wird unterschlagen, und der Zweck der Veranstaltung wird als „Proklamation des Aktes der Unabhängigkeit der Ukraine am 30. Juni“ bezeichnet.

Reaktion des Bürgermeisters

Sofort nach dem Verfassen und der ersten Veröffentlichung dieses Artikels (am 2. Juli 2017, Anm. d. Red.) folgte die Reaktion des Bürgermeisters von Solotschiw, Igor Grynkiw, und seinem Team, dem Berater des Bürgermeisters für Internationale Beziehungen, Igor Muryn, und dem Stadtarchitekten Roman Kuschnir. Alle drei erkannten die Existenz eines Problems an – das unzureichende Gedenken an die jüdische Gemeinde der Stadt und an die Tragödie des Holocaust in Solotschiw. Die Stadtverwaltung hat ihren absolut aufrichtigen Wunsch zum Ausdruck gebracht, Projekte für das Gedenken an jüdischen Objekten zusammen mit internationalen Stiftungen und jüdischen Landsmannschaften – den Nachfahren der Eingeborenen Solotschiws – auszuarbeiten.

Zu Ehren des 80-jährigen Roald Hoffmann wurde an seinem Geburtshaus eine Informationstafel angebracht. Im Schloss fanden „Hoffmannsche wissenschaftliche Lesungen“ statt. Bürgermeister Grynkiw beabsichtigt, eine der Straßen der Stadt zu Ehren des Nobelpreisträgers umzubenennen, und eine weitere Straße zu Ehren von Naftali Herz Imber, dem Autor der israelischen Hymne „Hatikvah“ und gebürtigen Solotschiwer.

Wenn diese „Verschwörung des Schweigens“ um die Tragödie Solotschiws herum zerstört wird, wird es der Stadt nicht erspart bleiben, viel Unangenehmes und sogar Albtraumhaftes über ihre Geschichte zu erfahren. Aber ohne diese Wahrheit haben weder diese Stadt, noch Hunderte mit Solotschiw vergleichbare Orte in der ganzen Ukraine eine Zukunft.

Über den Autor: Schimon Briman ist ein israelischer Journalist und Historiker. Er hat sich auf die Erforschung der Geschichte der Juden in der Ukraine, dem Russischen Reich und der UdSSR spezialisiert. Seit 1996 lebt er in Israel. Als Journalist veröffentlichte er Artikel in den populären Zeitungen in Israel, der Ukraine und den USA, sowie zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Er ist Autor des umfangreichen Artikels über die Stadt Charkow in der russischsprachigen Kurzen Jüdischen Enzyklopädie (Jerusalem).

Von: Schimon Briman; Übersetzung: Nicolas Dreyer

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen