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Der Nobelpreis heiligt die Mittel

In ihrem neuen Roman konstruiert die israelische Autorin Noa Yedlin eine absurde Situation: Vier Menschen verstecken die Leiche eines Freundes, um posthum einen Nobelpreis zu ergattern. Worin die Freundschaft gründet, bleibt unklar.
Von Elisabeth Hausen
Durch die hohe Abwanderung hat Israel mehrere Nobelpreise verloren

Ein Nobelpreiskandidat stirbt. Seine Freunde wollen ihm wenigstens posthum die Möglichkeit auf den damit verbundenen Ruhm erhalten. Doch wenn der Tod eines Preisträgers vor der Bekanntgabe öffentlich wird, geht die Auszeichnung an einen anderen. Deshalb wollen sie seinen Tod geheimhalten, bis das Komitee die Entscheidung mitgeteilt hat – eine Woche lang.

Die israelische Schriftstellerin Noa Yedlin ersinnt in ihrem Roman „Unter Freunden stirbt man nicht“ einen solchen Fall. Die Hauptpersonen sind fünf Mitglieder einer Clique, drei Männer und zwei Frauen. Sie sind seit mehreren Jahrzehnten befreundet und gehen nun auf die 70 zu. Das Buch spielt im Oktober 2013 – in dem Zeitraum, in dem die jeweiligen Nobelpreisträger bekanntgegeben werden. Der hebräische Originaltitel des Romans lautet „Stockholm“.

Zu Beginn der Handlung hat Sohara, die Verfasserin von Biographien ist, eine Verabredung mit Avischai. In der Wohnung entdeckt sie seine Leiche, offenbar ist der fast 70-Jährige an den Folgen eines Herzinfarktes gestorben. Sie informiert die anderen drei Mitglieder der Clique – Amos, Jehuda und Nili.

Anfangs überlegen sie zu viert, wen sie jetzt benachrichtigen müssen und was in solchen Fällen allgemein zu tun ist. Hier hilft das Fachwissen von Nili, einer Kinderärztin. Doch dann erinnern sie sich an die Aussicht, dass Avischai in diesem Jahr den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften erhalten könnte. Wettseiten im Internet sehen die Chancen dafür zu diesem Zeitpunkt bei 8:1. Und so schmieden sie den absurden Plan, die Leiche versteckt zu halten. Selbst Avischais Schwester soll nichts über seinen Tod erfahren.

Egoismus als Motivation

Was auf den ersten Blick löblich klingt, auch wenn es befremdet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als reiner Egoismus. Jehuda etwa hat ein Buch von mittelmäßiger Qualität geschrieben und Avischai zu einem Vorwort überredet. Wenn dieses von einem Nobelpreisträger stammte, würden sich die Chancen auf dem Markt erhöhen. Mit dieser Aussicht hat er die Lektorin geködert. Als junger Mann hat er eine Vorrichtung erfunden, die hilft, Mülltüten leichter zu öffnen. Seitdem wartet er auf einen weiteren Erfolg.

Sohara wiederum hatte in den vergangenen Jahren in unregelmäßigen Abständen Sex mit Avischai. Für ihre Verabredungen schlug er immer ein Thema vor, sonst wollte er sich nicht mit ihr treffen. Trotzdem kommt sie später auf den wahnwitzigen Gedanken, sie könnte den Verstorbenen als ihren „Lebenspartner“ ausgeben und so einen Teil des Erbes erhalten. Dabei ist sie irrtümlicherweise davon überzeugt, dass die Freunde nichts von ihrer Intimität mit Avischai wüssten. Gedanken über Sex nehmen in dem Roman ohnehin viel Raum ein.

Für ihren Plan müssen sich die vier Mitglieder der Clique in ein Lügengeflecht verstricken. Sie beantworten Mails und SMS-Nachrichten an Avischais Stelle. Amos, der ebenfalls Wirtschaftswissenschaftler ist und zu ähnlichen Themen forscht, vertritt den Verstorbenen spontan bei einem Vortrag an der Universität. Den Anruf hat Jehuda entgegengenommen – und so getan, als sei er Avischai und stark erkältet.

Beziehungen von Neid und Misstrauen geprägt

Was die Freundschaft der fünf ausmacht, erfahren die Leser bis zum Schluss nicht. Als junge Erwachsene haben sie miteinander Drogen konsumiert – in bestimmten israelischen Milieus nichts Ungewöhnliches. Im Buch sind die Beziehungen aber vor allem von Streit, Neid und Misstrauen geprägt.

Amos beneidet Avischai um seine Karriere. Dieser war mit Jehuda in der Schule, so dass der Wettstreit zwischen den beiden schon in der Kindheit begann. Da Yedlin die Handlung abwechselnd aus der Perspektive der vier Protagonisten erzählt, werden diese inneren und äußeren Konflikte deutlich.

Nili ist erst später zur Clique gestoßen und fühlt sich mitunter als Außenseiterin. Hier zeigt sich, wie gut Yedlin mit Sprache umgehen kann – was auch in der Übersetzung von Helene Seidler nicht verloren geht: „Sie waren fünf, sie waren in all den Jahren fünf gewesen, ein Stern mit fünf gleich langen Seiten; und dennoch befürchtete Nili manchmal, in schlimmen Momenten, sie sei nur ein lockerer Anhang, angeheftet an die anderen mit den groben, leicht aufzutrennenden Nadelstichen eines Kindes.“

Bilderreiche und originelle Sprache

Über Soharas Beziehung zu Avischai schreibt die Autorin: „Zwischendurch hatte sie sich auch in andere Männer verliebt, das war ein drängendes, belebendes Gefühl gewesen, aber wenn diese Affären endeten, sank sie in die alte Halb-Beziehung zurück wie in eine mit Trost gefüllte Badewanne.“

Abwechselnd halten die vier Freunde nun Wache in der Wohnung des Toten. Als Jehuda dessen iPhone ans Ladekabel anschließt, sinniert er und denkt: „Schade, dass man Avischai nicht aufladen kann.“ Er hätte gern „fünf Prozent, sieben Prozent, genug für ein Gespräch, für ein letztes Abendessen“.

Zwei häufige Themen israelischer Autoren kommen in dem Roman nicht oder nur völlig am Rande vor: der Konflikt mit den Palästinensern und die Scho’ah. Auch Religion spielt eine äußerst untergeordnete Rolle. Einmal vergleicht Jehuda den Glauben an Gott mit dem an die Zahnfee. Bei Avischais Beerdigung tritt ein Rabbiner auf – weil sie nicht dazu gekommen sind, die säkulare Version zu beantragen.

Das Thema Vergebung wird zweimal angesprochen. Jehuda fragt sich, ob seine Frau Vergebung dafür verdient hat, dass sie ihm unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eine Überraschungsparty zum 70. Geburtstag organisiert hat. Unter anderem hat sie eine Auslandsreise vorgetäuscht. Die Party bringt ihn in Bedrängnis. Denn die Leiche kann nicht mehr in der Wohnung bleiben und soll in sein Haus gebracht werden. Dass seine Frau es gut gemeint haben könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Er will nicht vergeben. Nili hingegen erklärt sich bereit, den drei anderen aus der Clique nach einer Schmollpause zu vergeben, dass sie garstig zu ihr waren.

Foto: Kein und Aber
Noa Yedlin: „Unter Freunden stirbt man nicht“, Aus dem Hebräischen von Helene Seidler, Kein und Aber, 464 Seiten, 26 Euro, ISBN: 978-3-0369-5899-6

An jedem Tag, an dem der Roman spielt, wechselt die Perspektive. Eines irritiert: Die Protagonisten fiebern auf einen Mittwoch hin. Der Wirtschaftsnobelpreis wird jedoch seit Jahren montags bekanntgegeben.

Ebenso unlogisch ist es, dass am Sonntag etwas über die frischgekürte Literaturnobelpreisträgerin im Fernsehen kommt. Denn deren Namen erfährt die Welt an einem Donnerstag, so dass die Nachricht dann nicht mehr brandneu wäre.

Nicht glücklich über Glück der Freunde

Bezeichnend für die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Fünfergruppe ist der Satz: „Das Glück deines Freundes wird dich niemals glücklich machen.“

Amos denkt dies, als ihm aufgeht, dass er sich gar nicht Avischai als Nobelpreisträger wünscht. Er spinnt den Gedanken weiter: „Du freust dich über seine Freude, das mag sein, du freust dich an seiner Seite. Aber die wahre Freude, die in deiner Seele Spuren hinterlässt und mit dir durch die Tür hinausgeht, empfindest du nicht.“ Trauer um Avischai kommt demzufolge fast nicht vor.

Die Aussage „Ich freue mich für dich“ heiße nicht: „deine Freude macht mich auch glücklich“, meint Amos. Und so dürfte jeder Leser, der schon wahre Freundschaft erlebt hat, nach der Lektüre dankbar sein: für Freunde, die ihm den Erfolg von ganzem Herzen gönnen, ihm vertrauen und im Leid mit ihm trauern.

Das ist neben dem Humor immerhin ein positiver Aspekt dieses Buches. Denn Yedlins Fähigkeit, mit Sprache umzugehen und immer wieder neue originelle Bilder zu finden, macht den Leichengeruch und das Lügennetz nicht wett, von denen der Roman durchzogen ist.

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