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Der Josefssohn als leidender Messias

Ein Stein stört die Ruhe im sommerlich heißen Jerusalem, weil er die alte jüdisch-christliche Messiasdiskussion neu anheizt. Der Stein wurde - das bezeugen Erdreste, die an dem Felsbrocken hängen geblieben sind - am Ostrand des Toten Meeres gefunden, in der Gegend gegenüber der legendären Felsenfestung Massada. Dort liegt ein jordanisches Dorf namens Masraa, in dem auch aus der Zeit Bar Kochbas (2. Jahrhundert nach Christus) Hinweise dafür gefunden wurden, dass dort Juden lebten.

Auf die Steinplatte waren vor etwa zweitausend Jahren mit Tinte hebräische Schriftzeichen geschrieben worden. Die Paläografie, das heißt, die Kunde von der Schreibweise, macht eine relativ genaue Datierung auf das erste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung oder den Anfang des ersten Jahrhunderts nach Christus möglich. 87 Zeilen sind in zwei Kolumnen teilweise sehr gut erhalten. Auch die Tatsache, dass die Beschriftung mit Tinte vorgenommen wurde und die Buchstaben nicht etwa eingeritzt wurden, weist auf die Gegend um das Tote Meer als Herkunftsort. So wurde ein ähnlicher Stein in Qumran gefunden und aus dem vierten und fünften nachchristlichen Jahrhundert sind aus Zoar am Südende des Toten Meeres ähnliche Inschriften erhalten, während aus keiner anderen Gegend Tinteninschriften auf Stein erhalten sind.

Mehrere messianische Figuren

In dem Text, der erstmals im Jahr 2007 veröffentlicht wurde [1], werden mehrere messianische Figuren erwähnt. So bittet Gott etwa „meinem Knecht David“, einen „Ephraim“ aufzufordern, ein „Zeichen“ aufzurichten. Der Satzfetzen aber, der zu Diskussionen führt, lautet: „Du sollst nach drei Tagen leben“, oder „Lebe nach drei Tagen!“ – „Das befehle ich, Gabriel, dir, dem Fürst der Fürsten.“ Darauf folgt dann noch ein hebräischer Begriff, der mit „Dung der Felsspalten“ übersetzt werden könnte und möglicherweise darauf hindeutet, dass dieser „Fürst der Fürsten“ zwar starb, aber nicht beerdigt wurde.

Professor Israel Knohl von der Hebräischen Universität in Jerusalem hat im April 2008 einen Artikel in englischer Sprache über den Text, den er „Vision Gabriels“ nennt, veröffentlicht. [2] Dieser Bibelwissenschaftler sieht in dem mit Tinte beschriebenen Stein vom Toten Meer vor allem eine Bestätigung für die Thesen, die er bereits im Jahr 2000 in einem Buch zur Diskussion stellte [3].

Historisch-kritische Aussagen auf den Kopf gestellt

Der 1952 in Tel Aviv geborene Knohl ist in einem orthodoxen Elternhaus praktisch „mit dem Talmud“ aufgewachsen. Als er dann an der Hebräischen Universität in Jerusalem über den Talmud promovierte, „bin ich eher zufällig auf die Bibel gestoßen“, erinnert er sich. Das Besondere an seinem Umgang mit der Heiligen Schrift sieht er darin, dass er die „Werkzeuge“, die er sich beim Talmudstudium angeeignet hatte, auf die Bibel anwandte. Dabei kam er zu Erkenntnissen, die manche Aussagen der historisch-kritischen Exegese auf den Kopf stellen.

Über seinen persönlichen Glauben will der jüdische Wissenschaftler, der sich „der jüdischen Tradition verpflichtet“ sieht, nicht reden. „Mein Glaube und die Religion spielen hier keine Rolle“, betont er und rückt die Jarmulke auf seinem kurz geschorenen Kopf zurecht: „Ich habe keine Agenda, irgend jemanden zu provozieren. Ich erforsche einfach die Zeitgeschichte der Heiligen Schrift. Als Wissenschaftler bin ich der Wahrheit verpflichtet.“

Knohl kennt die talmudischen Traditionen, denen zufolge vor dem Auftreten des siegreichen „Messias Ben David“ ein Messias auftreten muss, der als „Ben Josef“, als Josefssohn, bekannt ist. Er weist die These, die jüdischen Josefssohn-Traditionen seien aus dem Christentum übernommen, zurück. Seiner Meinung hat man im Judentum schon vor dem Auftreten von Jesus von Nazareth einen „Josefssohn“ erwartet, der für sein Volk leidet und stirbt, um dann nach drei Tagen aufzuerstehen.

Aus dem Kontext schließt Knohl, dass es sich bei dem „Zeichen“, das Ephraim, der Josefssohn, auf Befehl des Erzengels Gabriel aufrichten soll, um „das Zeichen der Erlösung“ handelt. Er meint, die „Vision Gabriels“ beziehe sich auf das Buch Daniel, und kommt zu dem Schluss, dass schon damals am Toten Meer Juden den Tod des Messias als notwendigen Bestandteil des Erlösungsprozesses sahen: „Ohne den Tod des Messias kann die Erlösung nicht kommen!“ Und: „Das Zeichen ist natürlich das Blut des Messias!“

Professor Knohl predigt sich warm in seinem kleinen, mit Büchern überfüllten Büro im Hartman-Institut im Griechischen Viertel von Jerusalem. Zwei Stühle für die beiden Journalisten finden kaum Platz. Er weiß, dass das jüdische Volk den Messias als Sohn Davids erwartet, der alle seine Widersacher glorreich besiegt und so sein Volk befreit. Der „Messias Ben Josef aber ist ein Versager“, so Knohl, „weil er keinen Erfolg hat.“ „Ein Messias, der so scheitert, dass man ihn nicht einmal ehrenvoll beerdigen kann, ist ein Lügenmessias! Nach den Kriterien der Heiligen Schrift ist er ein falscher Messias, denn der Messias der Bibel muss ein Held sein, der alle seine Feinde tötet.“

Dieser traditionell jüdischen Denkweise hält nun Israel Knohl mit Hilfe des Buches Daniel entgegen: „Nein, sondern der Tod des Messias ist die Vorbedingung für die Erlösung. Erst wenn er nach drei Tagen auferstanden ist, kann die Erlösung kommen.“

„Jesus rechnete mit Tod und Auferstehung

Triumphierend hält der israelische Bibelwissenschaftler christlichen Theologen, wie etwa William Wrede oder Rudolf Bultmann entgegen, dass Jesus rein historisch eben doch mit seinem Leiden, Tod und Auferstehung gerechnet hat – auch wenn das seine Jünger nicht wahrhaben wollten. Knohl bemüht als Beleg für seine These den Zusammenhang des Petrus-Bekenntnisses in Cäsarea-Philippi, wie es vom Evangelisten Matthäus überliefert wird. Dort freut sich Jesus über die Erkenntnis des Petrus: „Du bist der Messias, des lebendigen Gottes Sohn!“ mit den Worten: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ Als Jesus dann aber sofort danach darauf verweist, dass er viel leiden, getötet werden und am dritten Tage auferstehen müsse, wehrt sich Petrus dagegen: „Gott bewahre dich, Herr! Das widerfahre dir nur nicht!“ – was Jesus heftig als Satanswort von sich weist.

Jesus hat sich nach der Überzeugung Knohls als „Messias Ben Josef“ verstanden, der durch seinen Tod die Erlösung für sein Volk bringt. „Und das steht genau hier“, meint der jüdische Bibelwissenschaftler begeistert und weist auf die alten hebräischen Buchstaben der „Vision des Gabriel“: „Wenn Gott das vergossene Blut des Messias sehen wird, wird er das Volk erlösen!“ Denn, „das Zeichen, das Ephraim aufrichten soll, ist das Blut.“

Auf die Journalistenfrage: „Mir scheint ja, Sie sind der Überzeugung, dass Jesus der Messias ist?!“, hebt Professor Knohl abwehrend die Hände: „Nein, nein, nein – aber ich bin überzeugt, dass er ein Mensch war, der aus einem tiefen Glauben heraus gehandelt hat.“

Frage nach Authentizität

Natürlich stellt sich die Frage der Authentizität des Steins und seiner Aufschrift, nachdem sich in den vergangenen Jahren mehrere archäologische Funde mit einem biblischen Bezug als geniale Fälschungen erwiesen haben. Misstrauisch stimmt, dass niemand den genauen Ort und die Umstände des Fundes kennt. Niemand kann genau sagen, wann die Steinplatte von wem gefunden wurde.

Bevor die nicht ganz einen Meter lange Steinplatte, die in drei Teile zerbrochen ist, in die Hände des israelisch-schweizerischen Antiquitätensammlers David Jeselsohn gelangte, wurde sie einige Jahre lang auf dem jordanischen Markt herumgereicht. Jeselsohn erwarb den Stein von Jasser Richani, dem Präsidenten der jordanischen Antiquitätenhändler, der 2001 verstorben ist. Jeselsohn betont, dass er gar nicht so genau wusste, was er da neben anderen Antiquitäten aus dem zollfreien Lager im Flughafen von Zürich mit sich nach Hause genommen hatte. „Ich konnte es lesen“, erklärt der promovierte Geschäftsmann, der auch einmal ein paar Semester Archäologie studiert hat, „da steht ‚Jeruschalajim‘, ‚Gavriel‘, ‚Michael‘… Das ist interessant. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Und auch Richani wusste nicht, was das für ein Stein ist.“

Professor Knohl weiß, dass es über Richani „viele Geschichten“ gibt. Offensichtlich hatte er sehr gute Beziehungen mit dem damaligen Haschemitenherrscher Hussein. Allerdings ist sich der israelische Wissenschaftler sicher, dass Einheimische die Platte gefunden haben – auch wenn er seine Quellen nicht offen legen kann, „sie sind zuverlässig“. Dr. Jeselsohn betont, dass Juval Goren von der Universität Tel Aviv die „Vision Gabriels“ für authentisch hält. Goren hatte sowohl das „Jakob-Osuarium“ als auch die „Joasch-Tafel“ als Fälschungen erkannt. Israel Knohl verweist außerdem darauf, dass sowohl Schrift als auch Sprache des Textes unabhängig untersucht und für echt befunden wurden.

Fußnoten
1 Ada Yardeni und Binyamin Elitzur, „Document: A First-Century BCE Prophetic Text Written on a Stone; First Publication,“ Cathedra 123 (2007): 155-166 (in hebräischer Sprache).
2 Israel Knohl, „By Three Days, Live“: Messiahs, Resurrection, and Ascent to Heaven in Hazon Gabriel, Chicago Journals, The Journal of Religion vol. 88 no. 2 (University of Chicago Press, April 2008): 147-158.
3 Auf Deutsch erschienen als: Israel Knohl, Der vergessene Messias. Der Mann, der Jesus Vorbild war. München: Ullstein-Verlag, 2001.

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