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Der gescheiterte Flugzeugentführer

Schlomo Dresner ringt um die hebräischen Begriffe. Seine Zunge ist noch immer russisch gepolt. Dafür springt Lilly ein und verbessert ihn liebevoll, weiß die Sätze zu ergänzen und erinnert sich an die genauen Daten. Ganz nebenbei schwirrt sie durch die Küche des geräumigen Wohnhauses in der Jerusalemer Satellitensiedlung Givat Se´ev mit Sicht auf die palästinensische Autonomiestadt Ramallah. "Schlomo hat morgen Geburtstag", erklärt Lilly geschäftig. Da gibt es noch viel vorzubereiten: "Die Enkel kommen." Dem einfachen israelischen Installateur sieht man nicht an, dass er eine historische Wende in der Geschichte des jüdischen Volkes entscheidend mitgestaltet hat.

Geboren wurde er am 18. Januar 1932 im sowjetischen Leningrad. Der Vater von Moma, wie er damals genannt wurde, war auf der Suche nach Arbeit aus Warschau eingewandert. Seine Mutter stammte aus einem jüdischen Stedtl in der Nähe von Smolensk in Weißrussland. „Eigentlich bin ich ganz russisch aufgewachsen“, erinnert er sich, „wir haben Russisch gesprochen und russisch gedacht. Unser Kindermädchen war eine Russin und alle meine Freunde waren Russen. Nur wenn sie glaubten, dass ihnen niemand zuhörte, haben die Eltern Jiddisch gesprochen.“ Aber auch das war gefährlich, weil der Sowjetdiktator Josef Stalin rücksichtslos alle jüdisch-nationalen Regungen im Keim zu ersticken suchte. Viele Juden endeten im Gulag. „Wegen eines Witzes, einer Beschneidungszeremonie oder einer jüdischen Hochzeitsfeier konnte man ins Gefängnis kommen – aus dem man oft nicht mehr lebend entlassen wurde. Es gab keine Synagogen mehr.“

Als Dresner neun Jahre alt war, erreichte der Zweite Weltkrieg seine Heimatstadt. Seit seiner Schulzeit ließ er sich Sioma nennen. Er erlebte die Belagerung mit, den furchtbaren Hungerwinter, die Flucht über das Eis der Ostsee bis nach Kasachstan und Sibirien. „In Kischtim, einer Stadt im Ural“, schaltet sich Lilly von der Küche her ein, „hatten die Leute noch nie Juden gesehen. Als wir ankamen, fragten sie uns: ‚Habt ihr keine Hörner?'“ Aber ansonsten haben wir als Kinder keinen Antisemitismus erlebt.

Durch Antisemitismus geprägt

Dabei war es gerade der Antisemitismus, der Siomas Charakter entscheidend geprägt hat. Eine seiner frühesten Erinnerungen an die Schulzeit in Leningrad ist, dass eine Horde von Jungs einen Mitschüler verprügelte und dabei in einem fort „Jude, Jude“ schrie. „Das waren vielleicht zehn oder zwölf Kinder und er war allein“, erinnert er sich: „Ich habe nicht lange diskutiert, sondern bin in die Gruppe hineingesprungen und habe zugeschlagen.“ Im Rückblick erkennt Dresner die Auswirkung dieses Erlebnisses, und dass er immer wieder so auf antisemitische Äußerungen reagiert hat: „Ich habe schlimme Schläge verteilt…!“ Und der Prügelknabe Hillel Butman wurde zu einem lebenslangen Freund.

Tief verletzt hat Sioma Dresner der russische Vorwurf nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sich die Juden nach Taschkent verdrückt hätten. „Dabei ist mein Vater in der Schlacht um Leningrad gefallen.“ „Als Juden konnten wir uns politisch nicht betätigen, durften nicht an alle Universitäten gehen.“ Als Offizier der Roten Armee fühlte er den Nachteil, Jude zu sein, und als dann – noch vor Stalins Tod – der Vorwurf laut wurde, jüdische Ärzte hätten den Diktator vergiftet, wurde es besonders schwer.

„Aber ich bin kein Mensch, der sich verkriecht“, brüstet sich Dresner mit schwerem russischem Akzent. „Das alles hat mich noch mehr zum Nationalisten gemacht. Ich war stolz bis zum Himmel, als ich 1948 im Radio hörte, dass der Staat Israel ausgerufen wurde.“ In den 1950er Jahren fing er an, gemeinsam mit jüdischen Freunden Hebräisch zu lernen, jüdische Lieder zu sammeln, sich mit Kultur und Geschichte zu beschäftigen, die jüdischen Feste zu erkunden. „Dabei kam ich aus einer ganz unreligiösen Familie!“

Unter Nikita Chruschtschow wurde alles etwas leichter. Damals wurde aufgedeckt, dass Stalin die Leute schuldlos in die Lager und in den Tod geschickt hatte. Aus der israelischen Botschaft in Moskau gelangte Literatur nach Leningrad – „wobei einer von uns einmal ein Jahr deswegen ins Gefängnis musste. Offiziell wurde ihm vorgeworfen, diese Bücher aus einer Bibliothek gestohlen zu haben.“

Begegnung mit israelischem Minister

Im Frühjahr 1967 fand in Leningrad eine UNESCO-Konferenz statt. „Wir hörten, dass Sofia Saitan ein Konzert geben sollte, eine jüdische Sängerin“, erzählt Dresner. „Wir hofften, dort eine israelische Delegation zu treffen. Nach der Pause, wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, sahen wir die Leute mit der kleinen israelischen Flagge an der Brust. Ich sprach sie an und gratulierte ihnen zum Unabhängigkeitstag. Da wurde ich einem israelischen Minister vorgestellt. Es war Jigal Allon. Als ich meinen Namen sagte – wie er in meinem Pass steht – ‚Salomon‘, rief er aus: ‚Ah, Schlomo!‘ – So kam ich zu meinem hebräischen Namen.“

Der Sechstagekrieg im Juni 1967 bewirkte ein nationales Erwachen unter den schätzungsweise drei Millionen Juden der Sowjetunion. „Wir hatten schon vorher Kontakte zu anderen zionistischen Organisationen im Untergrund“, erinnert sich Schlomo, „und begannen mit dem Kampf um unsere Freiheit. Wir wollten Russland verlassen. Dazu brauchten wir viele Menschen. Deshalb organisierten wir Hebräischkurse, studierten die Geografie und Geschichte Israels und führten kulturelle Veranstaltungen durch.“

Lilly stammt im Gegensatz zu ihrem Mann aus einer religiösen Familie. Doch sie hatte nie ein Bedürfnis, nach Israel auszuwandern. „Das kam mir überhaupt nicht in den Sinn“, gibt sie zu. „Für mich war der ganze Zionismus vollkommen neu. Schlomo war mein Lehrer. Er hat mir all das beigebracht.“ Von der Zeit vor ihrer Hochzeit im Jahre 1967 erzählt er: „Ich wusste immer, dass ich nur eine Jüdin heiraten würde – und nur, wenn sie bereit wäre, mit mir nach Israel auszuwandern, sobald sich dazu die Gelegenheit böte.“ – „Als er mich dann gefragt hat“, erinnert sich Lilly schmunzelnd, „habe ich einfach ‚Ja‘ gesagt.“

Flugzeugentführung geplant

Es war irgendwann Ende der 1960er Jahre. Hillel Butman hatte einen Bekannten, der Mark Dymschitz hieß. Der war Major und Pilot der Roten Armee. Irgendwie kamen sie auf ihre jüdische Abstammung, die hebräische Sprache und das Land Israel zu sprechen. Schnell war Dymschitz klar: „Ich bin Offizier. Mir werden sie die Ausreise niemals genehmigen.“ Dann meinte er aber: „Stelle mir einen Freund an die Seite. Dann werden wir ein Flugzeug entführen und fliehen.“

„Fünfzehn Minuten nach diesem Treffen rief Hillel mich an. Wir trafen uns im Lenin-Park in Leningrad und er erzählte mir die Geschichte. Dann meinte er: ‚Schlomo‘ mit diesem Mann landen wir einen ganz großen Coup. Wir nehmen ein Flugzeug voller Juden und fliehen aus Russland – aber nicht geheim, sondern ganz groß, mit Pressekonferenz und Erklärungen. Wir sprengen den Eisernen Vorhang – und wenn wir das Flugzeug sprengen müssen. So wie bisher können wir nicht mehr weiterleben.“ Die Flugzeugentführung war Butmans Idee.

In der Folgezeit gab es heftige Diskussionen. Die Angehörigen wurden bedacht. Lilly war schwanger. Die Gruppe sammelte Geld. Und dann kam ein Geheimbrief aus Jerusalem, in dem das Unternehmen mit dem Codenamen „Svatba“ – „Hochzeit“ – untersagt wurde. Dass die israelische Premierministerin Golda Meir höchst persönlich hinter dieser Entscheidung stand, haben die beteiligten Aktivisten erst sehr viel später erfahren. „Der Grund für diese Entscheidung war vielleicht nicht zuletzt, dass von den 16 Mitgliedern unserer Gruppe nur zwölf Juden waren“, mutmaßt Schlomo im Rückblick.

„Doch der Stein war ins Rollen gekommen“, erzählt er weiter, „und nicht mehr aufzuhalten. Am 5. Juni 1970 wurden die Möchtegern-Flugzeugentführer auf den Flughäfen von Riga und Leningrad verhaftet, noch bevor sie das Flugzeug erreichen konnten. „Wir wussten gar nichts davon“, berichtet Schlomo Dresner, „aber am selben Tag wurden auch alle Mitglieder unseres Komitees festgenommen. Das KGB hat von der ganzen Aktion Wind bekommen und war besser informiert, als wir selbst.“ Im Dezember 1970 wurden im Rahmen des so genannten „Leningrader Prozesses“ 34 Männer und Frauen des Landesverrats angeklagt. Am Heiligabend wurden sie verurteilt – Mark Dymschitz und Edward Kuznitsow zum Tode.

Doch der „Leningrader Prozess“ hatte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich gezogen. Es gab einen weltweiten Aufschrei der Entrüstung und Proteste, so dass die Todesurteile letztendlich in 15-jährige Haftstrafen umgewandelt wurden. Im Rückblick war die misslungene Flugzeugentführung der Startschuss für die größte Rückwanderungsbewegung des jüdischen Volkes in das Land Israel. Im Rahmen der Entspannungspolitik zwischen Ost und West öffnete die Sowjetunion ihre Tore und ließ 1971 30.000 Juden auswandern. In den darauf folgenden Jahren wanderten bis zu 50.000 Juden pro Jahr nach Israel aus. Diese offene Tür wurde erst durch die islamische Revolution im Iran 1979, das Geiseldrama in der US-Botschaft von Teheran und den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan wieder zugeschlagen.

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