Der fotografische Chronist der Anfangsjahre

Am 14. Mai 1948 rief David Ben-Gurion in Tel Aviv den Staat Israels aus. Rudi Weissenstein war fotografischer Zeitzeuge der Anfänge, das dokumentarische Auge der jungen Nation.
Von Gundula Madeleine Tegtmeyer

Shimon Rudolph Weissenstein, der prominenteste Chronist des Alltagslebens im jungen Staat Israel, wurde 1910 im mährischen Iglau in der Tschechoslowakei geboren. Sein Vater Richard, Besitzer einer Kartonfabrik, war ein passionierter Amateurfotograf.

In der Dunkelkammer des Vaters hatte „Rudi“ wie ihn alle nannten, seine ersten Berührungspunkte mit der Fotografie. Zu seinem achten Geburtstag schenkte ihm der Vater seinen ersten eigenen Fotoapparat, eine hölzerne Tuchlauben 9-Kamera. Seine Mutter Emma spielte leidenschaftlich gerne Klavier. Auch Rudi zeigte schon früh eine große Leidenschaft für die Musik.

Rudi Weissenstein wuchs in einem zionistischen Elternhaus auf, stark geprägt zudem von der europäischen Kultur. Seine Muttersprache war Deutsch. Als Jugendlicher war er in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung Blau-Weiß aktiv. Auf dem Bergreichensteiner Gymnasium erlebte er als Schüler antisemitische Anfeindungen.

Im Jahr 1928 wurde er an der Kunsthochschule in Wien aufgenommen, wo er seine grafischen Kenntnisse sowie in Drucktechniken, Chemie, Fotografie, Retusche, Optik und Archivverwaltung vertiefte. Sein Interessenfeld war weit gestreut, Rudi besuchte auch zahlreiche Seminare in den Fächern Musik, Psychologie und Philosophie.

Pressefotograf beim Außenministerium

Nach erfolgreichem Abschluss des Studiums im Jahr 1931 fand er seine erste Anstellung als Pressefotograf für die Zeitschrift des tschechoslowakischen Außenministeriums in Prag. Gleichzeitig arbeitete er im Europäischen Zentrum für Fotografie. Zwischen 1933 und 1934 diente Rudi in der tschechischen Armee.

Seine Eltern, die sich für ihren Sohn eine berufliche Laufbahn als Hotelier wünschten, meldeten ihn für eine entsprechende Ausbildung in der Schweiz an. Rudi hatte andere Pläne und war ihnen mit seiner Kontaktaufnahme zur Presse in Tel Aviv zuvorgekommen. Trotz großer Einwände seiner Eltern ließ er sich nicht von seinem Plan abbringen, alles hinter sich zu lassen, um sich nach Palästina zu begeben.

Ausreise nach Jaffa

Im Januar 1936 ging Weissenstein, ausgerüstet mit einem Pressefotografenausweis und zahlreichen Fotoapparaten, im Hafen von Jaffa von Bord. Seine erste Tel Aviver Bleibe war Wohnung und Fotolabor zugleich. Helli, seine ältere Schwester, erwartete ihn schon ungeduldig. Sie war bereits seit einem Jahr im Land.

Andere Familienmitglieder wurden Opfer des Nazi-Terrors. Sein Bruder Theodore kam in einem Arbeitslager ums Leben, seine Schwester Bertha floh nach Frankreich, wo sie sich der französischen Résistance anschloss. Seine Mutter starb im Konzentrationslager Theresienstadt. Sein Vater überlebte wie durch ein Wunder die Schoa und entschloss sich im Alter von 75 Jahren zur Einwanderung.

Kurz nach seiner Ankunft traf Rudi in Tel Aviv zufällig auf Miriam Arnstein. Drei Jahre nach ihrer ersten Begegnung heirateten Miriam und Rudi. Miriam wurde auch geschäftlich seine Partnerin, sie arbeitete im Fotogeschäft mit und führte nach Rudis Tod im Jahr 1992 trotz ihres hohen Alters die Dokumentation des umfangreichen Fotoarchivs weiter. Miriam Weissenstein starb 2011, ihr Enkel Ben trat das Erbe an und widmet sich der Digitalisierung des umfangreichen Archivs.

Politische Ereignisse dokumentiert

Weissenstein dokumentierte die Realität der 1930er Jahre, und dies mit einem immensen Arbeitsvolumen, das dem Tempo der turbulenten politischen Ereignisse in seiner neuen Heimat entsprach. In der zweiten Hälfte der 1930er immigrierten Zehntausende, hauptsächlich Unternehmer, Technikern, Facharbeiter und Intellektuelle. Die Einwanderer jener Zeit ließen sich vorwiegend in den drei großen Städten nieder, was auch Tel Aviv einen Schub gab.

Die Weiße Stadt, wie Tel Aviv auch genannt wird, wuchs rasch zu einer Küstenmetropole mit 150.000 Einwohnern heran. Die Investitionen in die Industrie und die Stromerzeugung nahmen im Vergleich zum vorangegangenen Jahrzehnt erheblich zu.

Die Einwanderung von Wissenschaftlern und Studenten steigerte das Niveau von Bildung und Forschung an der Hebräischen Universität in Jerusalem und am Technion in Haifa. In Tel Aviv wurde das Palästinensische Philharmonische Orchester gegründet.

Auch die Presselandschaft wurde lebendiger, denn die Zahl der Verlage und Zeitungen nahm zu. Rudi Weissenstein reiste rastlos durch das ganze Land und dokumentierte als Pressefotograf die Ereignisse jener Zeit: Die Entstehung neuer Siedlungen, die fünfte Einwanderungswelle und Einwandererschiffe, die Bürgerunruhen in Tel Aviv und Entwicklung des Bauwesens im Land, Paraden und Prozessionen, Kunstveranstaltungen, Industrie, Stadtansichten, urbanes sowie ländliches Leben, Porträts, das erste Konzert der Philharmoniker Palästinas unter der Leitung von Arturo Toscanini und immer wieder Straßenszenen.

Motive auf Briefmarken und Geldscheinen

Aus persönlichem Interesse und zu seinem eigenen Vergnügen dokumentierte der ruhelose Fotograf das vorstaatliche jüdische und arabische Leben sowie auch immer wieder Jerusalemer Stadtansichten. Weissensteins Fotografien wurden mehrfach ausgezeichnet und auf Ausstellungen im In- und Ausland präsentiert. Viele seiner Motive schmückten Briefmarken und Geldscheinnoten.   

Am 17. Mai 1939 veröffentlichten die Briten das McDonald-Weißbuch, das die jüdische Gemeinde im Land beunruhigte. Denn es forderte die Errichtung eines gemeinsamen Staates in Palästina innerhalb der nächsten zehn Jahre.

Auszug aus dem McDonald -Weißbuch

„I/4: Die Regierung Seiner Majestät verkündet jetzt unzweideutig, dass es nicht ihre Politik ist, aus Palästina einen jüdischen Staat werden zu lassen. […]

I/10/1: Das Ziel der Regierung seiner Majestät ist die Errichtung eines unabhängigen Palästina-Staates innerhalb von zehn Jahren, der Vertragsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich in der Weise hat, dass die wirtschaftlichen und strategischen Interessen beider Länder berücksichtigt werden.

I/10/2: In dem unabhängigen Staat sollen Araber und Juden gemeinsam in der Weise regieren, dass die wesentlichen Interessen jeder Gemeinschaft gesichert sind. […]

II/13/1: Die jüdische Einwanderung wird in den nächsten fünf Jahren so geregelt, dass die Zahl der jüdischen Einwanderer ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes erreicht – vorausgesetzt, die wirtschaftliche Aufnahmefähigkeit des Landes erlaubt dies […] Vom April dieses Jahres an werden innerhalb der nächsten fünf Jahre 75.000 Einwanderer zugelassen. […]

II/13/3: Nach fünf Jahren wird keine jüdische Einwanderung mehr gestattet, es sei denn, die Araber Palästinas wären hierzu bereit.

II/13/4: Die Regierung Seiner Majestät ist entschlossen, die illegale Einwanderung zu verhindern. […]

III/16: Der Hochkommissar erhält Vollmachten, den Landverkauf zu verbieten und zu steuern.“

Tel Aviv wurde die Hochburg des Kampfes gegen diesen Plan, denn die Umsetzung hätte der Balfour-Erklärung von 1917 ein Ende gesetzt. Am 28. August 1929 lief das illegale Einwandererschiff Parita in Tel Aviv am Frischman-Strand auf Grund. Am 2. September 1939, einen Tag nach dem Überfall Adolf Hitlers auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert, traf das Einwandererschiff Tiger Hill ein. Weissenstein war stets vor Ort und drückte auf den Auslöser seiner Kamera.

Der Zweite Weltkrieg stoppte vorübergehend den Kampf gegen die Briten im Land, viele Juden traten der britischen Armee bei. Alle diese Ereignisse begleitete Weissenstein, sein Auge stets am Sucher seiner Kamera. Im Herbst 1940 bombardierten italienische Flugzeuge Tel Aviv, viele Bewohner verließen die Stadt, so auch Rudi und seine Frau Miriam. Das Paar zog in das nahe Herzlia, wo es noch im selben Jahr „Photo Prior“ eröffnete. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der jüdische Kampf gegen die britische Mandatsregierung wieder aufgenommen.

Jubel über Teilungsplan

Am 29. November 1947 nahm die UN-Generalversammlung den Teilungsplan für Palästina als Resolution 181 an. Sie sollte den Konflikt zwischen den arabischen und jüdischen Bewohnern des britischen Mandatsgebiets Palästina lösen. Die Resolution wurde mit 33 zu 13 Stimmen bei 10 Enthaltungen angenommen.

Der Jubel unter den Juden und Jüdinnen war groß. Endlich wurde ihr langersehnter souveräner Staat möglich. In Tel Aviv strömten die Menschen taumelnd vor Erleichterung und Freude auf die Straßen und fanden sich zu spontanen Hora-Tänzen, den Kreistänzen, zusammen. Rudi Weissenstein fing diese besonderen Momente mit seiner Kamera ein.

Am Tag der Kapitulation Jaffas erhielt Weissenstein eine offizielle Einladung zur Teilnahme an der Unterzeichnungszeremonie der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Sie war für den nächsten Tag, den 14. Mai 1948, um 16 Uhr im Tel Aviv Museum, Rothschild Boulevard 16, vorgesehen. Weissenstein wurde gebeten, den Inhalt der Einladung und den Zeitpunkt der Sitzung geheim zu halten und in dunkler festlicher Kleidung zu erscheinen.

Seine Fotografien von diesem denkwürdigen Moment wurden anschließend weltweit veröffentlicht. Einige Quellen berichten, Rudi Weissenstein sei der einzige akkreditierte Fotograf gewesen.

Foto: Rudi Weissenstein
Von Weissenstein eingefangen: David Ben-Gurion verliest die israelische Unabhängigkeitserklärung

Am nächsten Tag wurde die Stadt Tel Aviv von ägyptischen Bombern angegriffen. Fünf arabische reguläre Armeen griffen den jungen Staat an, der israelische Unabhängigkeitskrieg hatte begonnen.

Weissenstein war kein Kriegsfotograf, er mied jedwede politische Beteiligung, fokussierte sich vielmehr bis zu seinem Tod auf das gesellschaftliche Leben und die Entwicklung des jungen Staates Israel. So dokumentierte er ab den 1950er Jahren Begegnungen und Interaktion zwischen dem israelischen Establishment und den arabischen Bürgern von Nazareth, Lod, Ramla, Haifa, Galiläa, Be‘er Scheva und der Wüste Negev.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 konzentrierte sich sein fotografisches Werk auf Landschaften und lokale Persönlichkeiten in Ostjerusalem, Bethlehem, Beit Dschala, Nablus, Hebron und Jericho. Schimon Rudolph (Rudi) Weissenstein starb am 20. Oktober 1992 in Tel Aviv.

Foto: Gundula M. Tegtmeyer
Das neue Fotogeschäft in Tel Aviv

Heute führt sein Enkel, Ben Weissenstein, das Fotogeschäft in Tel Aviv, wo sich das Ehepaar Weissenstein letztendlich niedergelassen hatte. Das Rudi Weissenstein-Archiv ist mit etwa einer Million Aufnahmen eine der bedeutendsten Fotosammlungen Israels, ein fotodokumentarisches Werk von unschätzbarem Wert.

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3 Antworten

  1. Das erste Konzert unter der Leitung von Arturo Toscanini. Meine Ehefrau, ich selbst, unser Bischof wären gern dabei gewesen.

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  2. Rudi Weissenstein hat sich trotz Einwände seiner Eltern durchgesetzt und wurde ein exzellenter Fotograf in Tel Aviv. Eine weise Entscheidung. Ich bewundere Fotografen, die Situationen, Perspektiven und Persönlichkeiten in „das rechte Licht“ rücken können. Gut, dass er kein Kriegsfotograf war. Nicht, dass ich das Leid nicht sehen möchte, aber die Gefahr ist sehr groß, sich in die Kriegsschauplätze hineinzubegeben. Und letztendlich mit dem „besten Foto“ einen Preis zu gewinnen, ist nicht meine Anschauung. 😖

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  3. Fotografien sind immer schön. Sie halten im Gegensatz zu Gemälden, Momente fest, wie sie wirklich sind und dadurch bleiben sie der Nachwelt erhalten. Ich habe früher immer die von mir selbst gemachten Torten fotografiert und einmal auch ein Weihnachtsfest bei meiner Tante.

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