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Der Bericht der Or-Kommission: Meilenstein der arabisch-jüdischen Beziehungen in Israel

Fast zeitgleich mit dem Ausbruch der „Al-Aqsa-Intifada“ hatten auch die Beziehungen zwischen jüdischen und arabischen Israelis einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Am 1. Oktober 2000 kam es in Dutzenden von nordisraelischen Ortschaften zu Zusammenstößen zwischen israelischen Arabern und der Polizei. Zwölf arabische Israelis und ein Palästinenser aus Dir al-Balah wurden erschossen. Ein jüdischer Israeli kam durch Steinwürfe ums Leben. Hunderte von israelischen Bürgern und Polizisten wurden verletzt. Jahrzehntealte Freundschaften zerbrachen am neuen Mißtrauen.

Im November 2000 setzte die damalige Regierung Barak die sogenannte „Or-Kommission“ ein, um die Geschehnisse zu untersuchen. Die Kommission ist nach ihrem Vorsitzenden Theodor Or benannt, der Richter am Obersten Gericht Israels ist. Weiter gehören dem Gremium der arabische Richter am Bezirksgericht in Nazareth, Hashim Khatib, und der Orientalist und ehemalige Botschafter Israels in Ägypten und Jordanien, Professor Shimon Shamir von der Universität Tel Aviv, an.

Drei Jahre nach den gewaltsamen Zusammenstößen, nach der Vernehmung von Hunderten von Zeugen – darunter 438 Polizisten – und Anhörung einer schier endlosen Liste von Experten und Gelehrten, legte die Or-Kommission Anfang September 2003 die Untersuchungsergebnisse vor. Einstimmig haben die drei Kommissionsmitglieder die Schlußfolgerungen des Berichts unterzeichnet.

Harte Kritik übt das Papier nicht nur an der politischen Führung Israels im Oktober 2000, vor allem am damaligen Premierminister Ehud Barak (Bild) und seinem Minister für Innere Sicherheit Shlomo Ben-Ami, sondern auch an führenden Polizeioffizieren und arabisch-israelischen Führungspersönlichkeiten. Dabei interessierte die Richter vor allem, wie es dazu kommen konnte, daß 13 Menschen in Israel erschossen und Hunderte verletzt wurden, wieso die Unruhen so unerwartet ausbrachen, warum die israelischen Sicherheitskräfte nicht darauf vorbereitet waren, und wie es dazu kommen konnte, daß Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft die gewaltsamsten Demonstrationen in der Geschichte des jüdischen Staates auslösten.

Bereits im Februar 2002 hatte die Or-Kommission 14 Persönlichkeiten der israelischen Öffentlichkeit gewarnt, daß ihre Untersuchungen Folgen für sie haben könnten. Neben den Politikern Barak und Ben-Ami gehörten dazu auch die beiden arabischen Knessetabgeordneten Abdul Malik Dahamshe und Azmi Bishara, sowie der Leiter der Islamischen Bewegung in Nordisrael, Sheik Ra´ad Salah. Die Mehrheit der Warnbriefe wurde jedoch an Polizeioffiziere verschickt, darunter sind auch der Polizeigeneralinspekteur Yehuda Wilk und der Kommandeur des Norddistrikts, Generalmajor Alik Ron.

Ehud Barak wirft der Kommissionsbericht jetzt vor, dem arabischen Sektor nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet, nach den ersten beiden Tagen nichts unternommen zu haben, um den Gebrauch von tödlichen Waffen einzuschränken, und während der Operationen auch keine detaillierten Berichte von der Polizei eingefordert zu haben. Da Barak momentan keine öffentliche Position ausübt, gibt der Bericht keine Empfehlungen im Blick auf ihn ab.

Prof. Shlomo Ben-Ami dagegen, der sich zur Zeit in Oxford aufhält, darf nach Ansicht der Kommissionsmitglieder nie wieder Polizeiminister werden. Unter seiner Führung sei das Verhalten der Regierung gegenüber den israelischen Arabern „durch Vorurteile und Nachlässigkeit charakterisiert“ gewesen. Der Staat habe nicht genug getan, um den Bedürfnissen des arabischen Sektors gerecht zu werden, Gleichstellung zu garantieren, Diskriminierung entgegenzuwirken und das geltende Recht durchzusetzen.

Der Polizei wird vorgeworfen, nicht auf Unruhen vorbereitet gewesen zu sein. Scharfe Munition und Gummigeschosse hätten nie verwendet werden dürfen, außer in Situationen der unmittelbaren Lebensgefahr, die allerdings nach Erkenntnissen der Or-Kommission während der Oktober-Unruhen in den wenigsten Fällen beständen hätte. Ausdrücklich betont der Bericht, daß „der Einsatz von scharfer Munition und von Scharfschützen kein polizeiliches Mittel zur Auflösung von Demonstrationen ist“. Die Polizei habe unangemessene Gewalt angewendet und Hartgummigeschosse sollten künftig nicht mehr zum Arsenal der Polizei gehören.

Fazit: Dem Polizeigeneralinspekteur Yehuda Wilk und dem Polizeikommandeur des Nordabschnitts, Alik Ron, wird „wesentliches professionelles Versagen“ vorgeworfen. Beide sollten künftig keine Aufgabe im Bereich der inneren Sicherheit mehr ausüben dürfen. Im Falle weiterer Polizeioffiziere wird die Entlassung aus dem Dienst oder ein Beförderungsstop empfohlen. In zehn Fällen sollten Gerichtsverfahren eingeleitet werden. Generell meint die Kommission eine „Vertuschungskultur“ und einen Mangel von „Normen zum Berichten und Aufklären“ von Vorfällen innerhalb der israelischen Polizei erkennen zu können.

Zur Verteidigung der israelischen Polizisten wird von jüdischer Seite vielfach angeführt, die Demonstranten seien äußerst gewalttätig vorgegangen und hätten das Leben der Beamten bedroht. Der ehemalige Minister für innere Sicherheit Uzi Landau benutzte das Wort „Pogrom“, um die Verhaltensweise der Randalierer zu beschreiben.

Der Leiter der Islamischen Bewegung in Nordisrael, Sheik Ra´ad Salah, hat nach Erkenntnissen der Or-Kommission Gewalt gegen Israel gepredigt, die Legitimität des jüdischen Staates in Frage gestellt und das unwahre Gerücht von einem Massaker auf dem Tempelberg am 29. September 2000 in Umlauf gebracht. Ähnliche Vorwürfe werden den arabischen Knessetabgeordneten Azmi Bishara und Abdel Malik Dahamshe gemacht. Für keine der israelisch-arabischen Führungspersönlichkeiten wird dies allerdings Folgen haben.

Grundsätzlich, so der Bericht der Or-Kommission, sollte sich der Premierminister persönlich die Gleichstellung von Juden und Arabern in Israel zum Anliegen machen. Israelische Araber hätten jahrelang unter Vernachlässigung und Diskriminierung gelitten und sollten nicht als Feinde betrachtet werden.

Während der Zeugenanhörungen war es zu turbulenten und spektakulären Zwischenfällen gekommen. Mit „Mörder“ empfing die Mutter eines getöteten Arabers den ehemaligen Premierminister Ehud Barak. Beteiligte Polizisten wurden im Zeugenstand von Familienangehörigen der Opfer tätlich angegriffen. Aus israelisch-jüdischer Sicht stellt die Drohung der Araber im Vorfeld der Anhörungen die Objektivität der Kommission in Frage, daß es zu einem ernsthaften Bruch zwischen Juden und Arabern im Staat Israel kommen würde, sollte die Regierung Barak nicht für verantwortlich erklärt und die schießenden Polizisten und ihre Vorgesetzten nicht vor Gericht gestellt werden.

Die größte hebräische Tageszeitung in Israel, „Yedioth Ahronot“, bezeichnete den Bericht der Or-Kommission als Spiegel der jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel.

Von Anfang an standen arabische Israelis, allen voran die Familien der Opfer vom Oktober 2000, der Or-Kommission kritisch gegenüber und konnten ihr gegenüber nie Vertrauen fassen. Der arabische Knessetabgeordnete Azmi Bishara kritisierte, daß bislang noch keine Polizeibeamten vor Gericht gestellt wurden. Seine Balad-Partei habe vor der Or-Kommission klar zum Ausdruck gebracht, daß es das Recht der arabischen Bevölkerung Israels sei, eine Gleichstellung zu erkämpfen und sich mit der palästinensischen Bevölkerung, die unter Besatzung leben muß, zu solidarisieren, ohne zum Ziel von Gewehren und Polizeigewalt zu werden. Immer wieder ist aus arabischen Kreisen zu hören, die Polizisten seien „rassistisch“ eingestellt und ihnen gelte arabisches Leben nichts.

Gegen den Vorwurf, israelisch-arabische Führungspersönlichkeiten hätten die Öffentlichkeit aufgehetzt, kontern die Araber, dann müsse aber auch der provokative Besuch Ariel Sharons am 28. September 2000 auf dem Tempelplatz unter dem Aspekt der Hetze untersucht werden.

Die Polizei betonte in einer ersten offiziellen Reaktion, daß sie sich im Oktober 2000 „schwierigen und im Staat Israel bislang unbekannten Situationen“ gegenüber gesehen hatte. Sie werde den Kommissionsbericht eingehend studieren und daraus Konsequenzen ziehen.

Die israelische Menschenrechtsorganisation „Rabbiner für Menschenrechte“ fragt, ob die Öffentlichkeit sich „den schwerwiegenden, weitreichenden und schockierenden Erkenntnissen“ stellen werde. Die gesamte israelische Öffentlichkeit müsse erkennen, welch eine Gelegenheit sich ihr biete, meinen die „Rabbiner für Menschenrechte“, und bezeichnen den Bericht der Or-Kommission als ein Zeichen der Stärke der israelischen Demokratie. Die israelische Gesellschaft müsse jetzt das Übel des Grabens zwischen jüdischen und arabischen Israelis, die Mentalität, die jeden Araber als Feind betrachtet, an der Wurzel packen.

Rechtsgerichtete Politiker äußerten sich enttäuscht über den Bericht der Or-Kommission und betrachten ihn als Bedrohung künftiger Polizeiaktionen gegen Gewaltausbrüche auf nationaler Ebene. Der ehemalige Polizeiminister Uzi Landau bezeichnete den Bericht als „Dolch in den Rücken der Polizeikräfte“.

Die Untersuchungsergebnisse der Or-Kommission haben keinerlei legal bindenden Charakter. Die Aufgabe der Kommission war lediglich, die Vorgänge zu untersuchen und der Regierung zu helfen, ihre Politik entsprechend zu korrigieren. Allerdings kann der Kommissionsbericht auch nicht ignoriert werden. Das Oberste Gericht hat die Regierung in der Vergangenheit bei ähnlichen Untersuchungsberichten zwar nie gezwungen, aber doch aufgefordert, die Untersuchungsergebnisse sorgfältig in Erwägung zu ziehen. Das Gesetz für Untersuchungskomitees aus dem Jahre 1968, aufgrund dessen die Or-Kommission eingerichtet wurde, verpflichtet den Generalstaatsanwalt nicht, aufgrund von Untersuchungsergebnissen Ermittlungen aufzunehmen. Allerdings sind die Chancen sehr gering, daß ein Staatsanwalt kriminelle Aktivitäten ignoriert, die von einer Untersuchungskommission aufgedeckt wurden.

Die Or-Kommission ist nicht das erste Untersuchungsgremium seiner Art in der Geschichte Israels. 1974 hat die Agranat-Kommission untersucht, wie es zum Yom-Kippur-Krieg kommen konnte. 1983 bemühte sich die Kahan-Kommission, Licht auf die Ereignisse in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila im Libanon zu werfen. 1996 wurde die Shamgar-Kommission eingesetzt, um die Hintergründe der Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin aufzuklären. Im Rückblick ist festzustellen, daß den Empfehlungen der Kommissionen in den meisten Fällen Folge geleistet wurde.

Entsprechend den Empfehlungen der Or-Kommission hat das Justizministerium inzwischen Ermittlungen gegen verschiedene Polizeibeamte aufgenommen. Justizminister Yosef „Tommy“ Lapid erklärte, er könne die Schlußfolgerungen der Or-Kommission nachvollziehen und werde sie durchzusetzen suchen, einschließlich der Sanktionen gegen einzelne Personen, der Empfehlungen zur Gleichstellung der arabischen Minderheit in Israel und zur Ermittlung im Blick auf die Todesfälle.

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