Das Minarett am Märtyrer-Platz

Von der An-Nassar-Moschee in Beit Hanun steht nur noch das Minarett. „Nur ihr Name wird jetzt fortbestehen“, beklagt Nas´hur a-Kafarne die Zerstörung der Moschee. Die Mutter von zwei kleinen Jungen wohnt in dem Haus direkt neben dem Trümmerhaufen im Ortskern der Stadt an der Nordostecke des Gazastreifens. An der grünen Wand neben dem Eingang steht das englische Wort „love“, „Liebe“, hingesprüht unter einem weißen Herzen. Nas´hur hat miterlebt, wie die israelischen Bulldozer in der Nacht des 3. November anrückten und die 820 Jahre alte Moschee dem Erdboden gleichmachten.

„Zum ersten Mal seit 28 Jahren kann ich nicht die Gläubigen zum Gebet rufen“, klagt Hussein Kafarne, der als Muezzin der Moschee eine alte Familientradition fortsetzt. Sein Vater war vor ihm vierzig Jahre lang Muezzin der An-Nassar-Moschee gewesen. Nach der israelischen Militäroperation ist das Minarett einsturzgefährdet, so dass es niemand mehr besteigen kann. Nas´hur erzählt, wie ihre beiden kleinen Söhne, Kassem und Elias, die in den USA geboren wurden, wo ihr Mann bis vor zwei Jahren noch ein Clinton-Stipendium hatte, nachts Alpträume haben, schreiend aufwachen und nur noch bei den Eltern im Bett schlafen wollen. Manche Kinder in Beit Hanun wurden durch das jahrelange Kriegserleben wieder zu Bettnässern. „Als die Soldaten in unser Haus kamen“, erzählt sie, „haben sie nicht angeklopft. Sie haben sich den Weg einfach frei gesprengt.“

Für Israel ist Beit Hanun der Ursprung des Raketenelends von Sderot. Nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilat Schalit begann am 28. Juni die Militäroperation „Sommerregen“, der nach Angaben von palästinensischen Krankenhäusern etwa 200 Palästinenser zum Opfer fielen. Mehr als 600 wurden verletzt, vor allem im Süden des Gazastreifens. Nach dem zweiten Libanonkrieg, durch den der Gazastreifen etwas ins Abseits der Aufmerksamkeit geraten war, bemühte sich die israelische Armee, den Raketenbeschuss vom nördlichen Gazastreifen aus durch die „Operation Herbstwolken“ zu beenden. Dabei wurden allein in der Zeit vom 1. bis 6. November 85 Palästinenser getötet. Die Spuren der israelischen Panzer und Armeebulldozer sind in und um Beit Hanun herum allgegenwärtig.

Nach israelischen Angaben hatten sich Anfang November ungefähr 60 militante Palästinenser in der An-Nassar-Moschee, deren Ursprünge im 13. Jahrhundert liegen, verschanzt. Doch die Einwohner von Beit Hanun, die zwischen den Trümmern und auf dem „Platz der Märtyrer“ vor der Moschee auf Plastikstühlen sitzen und den heißen, süßen Tee schlürfen, sehen hinter dem Trümmerhaufen ihrer Moschee nur den Zerstörungswillen des jüdischen Staates. Sie bestreiten, dass die „Märtyrer“, wie sie ihre Kämpfer nennen, die Moschee als Schutzschild benutzt haben. Doch am Tag der Kämpfe forderte das Hamas-Radio Frauen und Kinder aus der Umgebung auf, einen menschlichen Schutzschild um die Moschee herum zu bilden, damit die „Mudschaheddin“ den anrückenden Israelis entkommen konnten, was auch fast allen gelang.

Die 72-jährige Wafa Kafarne schwärmt: „Da habe ich mich wie 20 gefühlt, jung und nützlich.“ Aber die Zerstörung des muslimischen Sakralbaus konnten sie nicht verhindern. Drei Wochen später sprengte sich Fatima Nadschar, die ebenfalls an der Schutzschildaktion beteiligt war, in der Nähe von einigen israelischen Soldaten in die Luft und wurde so zur ersten „Großmutter-Märtyrerin“ in der Geschichte der palästinensischen Selbstmordattentate. Sie hatte schätzungsweise 70 Enkel und Urenkel. „Wenn ich einen Sprengstoffgürtel hätte“, meint Wafa, „würde ich das auch tun.“ Und Wafa Kafarne ist nicht allein mit ihrer Einstellung. Der Bürgermeister von Beit Hanun erklärte in seinem Nachruf: „Sie nahm ihre Seele in die Hand und eilte dem Martyrium entgegen.“

Wenige hundert Meter vom Trümmerhaufen der An-Nassar-Moschee sitzt Madschdi el-Athamne vor dem Haus seiner Familie. Am 8. November hat genau an dieser Stelle eine israelische Panzergranate eingeschlagen und, so erzählt er, „16 Mitglieder meiner Familie ermordet“. Dass die Israelis das „Massaker von Beit Hanun“ als technische Panne bezeichneten, sich dafür entschuldigten, die Verwundeten in israelische Krankenhäuser aufnahmen und erklärten, sie hätten eigentlich eine Gruppe von Terroristen treffen wollen, die Raketen auf Sderot geschossen hätten, lässt Madschdi nicht gelten: „Das war kein Versehen. Das war Absicht!“

Bereitwillig zeigt er den Durchgang, in dem „zentimeterhoch das Blut der Märtyrer“ gestanden hat und lädt zum traditionellen Tee ein. Auf den Plakaten an den Wänden zeigt er, gemeinsam mit seiner Mutter, auf seine Verwandten, die dem israelischen Militärschlag zum Opfer fielen, darunter sein kleiner Sohn Sa´ad. Von den weiblichen Verwandten ist keine einzige mit Bild vertreten – obwohl Madschdi el-Athamne offensichtlich kein Problem damit hat, dass Frauen fotografiert werden.

Ägyptische Rechtsanwälte haben angeboten, die Bürger von Beit Hanun vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu vertreten und den jüdischen Staat wegen des „Massakers von Beit Hanun“ zur Verantwortung zu ziehen. Aber die betroffenen Familien weigern sich, den Juristen diese Vollmacht auszustellen und setzen auf eine direkte Einigung mit dem Staat Israel.

Der südafrikanische Erzbischof der Anglikanischen Kirche und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu soll jetzt eine Ermittlungsmission der UNO-Menschenrechtskomission leiten. Eine Aufklärung scheint schon im Blick auf die Opferzahlen dringend notwendig. Der Augenzeuge und betroffene Madschdi Athamne spricht von 16 Mitgliedern seiner Familie, die ums Leben gekommen sind, britische Zeitungen wissen um 17 Mitglieder der Athamne-Familie, die BBC schreibt von 19 Toten, der israelische Siedlersender „Arutz Scheva“ weiß um 20 Tote, der staatliche israelische Rundfunk um 22 und das Jaffee-Center für strategische Studien der Universität Tel Aviv nennt 23 Palästinenser, die durch die Panzergranaten am 8. November ums Leben gekommen sind.

Aber dem Präsidenten des UNO-Menschenrechtsrates, Luis Alfonso De Alba, geht es bei der Tutu-Mission vor allem darum, „die Situation der Opfer einzuschätzen, die Nöte der Überlebenden zur Sprache zu bringen und Empfehlungen auszusprechen, wie palästinensische Zivilisten besser vor israelischen Angriffen geschützt werden können“. Außerdem hat der UNO-Menschenrechtsrat in Folge des „Massakers von Beit Hanun“ Mitte November bereits vor genaueren Untersuchungsergebnissen die „groben und systematischen“ Menschenrechtsverletzungen Israels in den besetzten Palästinensergebieten verurteilt. Und Desmond Tutu hat sich in der Vergangenheit im Blick auf den israelisch-arabischen Konflikt dadurch profiliert, dass er den Staat Israel mit dem südafrikanischen Apartheidssystem verglichen, Zionismus als Rassismus bezeichnet und behauptet hatte, die Juden seien im Westen unverhältnismäßig einflussreich.

Jetzt kann der anglikanische Erzbischof und Versöhnungsexperte risikolos nach Beit Hanun reisen, um seine Nachforschungen anzustellen. Seit dem 26. November herrscht Waffenstillstand. Der Geschützdonner, der die Atmosphäre um Beit Hanun monatelang bestimmt hat, ist verstummt und Israels Premierminister Ehud Olmert hat versprochen, sich an die Feuerpause zu halten – obwohl die Sicherheitskräfte im nördlichen Negev in den ersten zehn Waffenstillstandstagen 19 Kassam-Raketen gezählt haben, die auf Sderot gefallen sind. Madschdi Athamne fordert von der internationalen Gemeinschaft, Druck auf Israel auszuüben, damit es sich auf einen „wirklichen Friedensprozess“ einlässt. „Die meisten palästinensischen Familien hier wollen in Frieden leben“, beteuert der trauernde Vater. „Sie wollen echten Frieden. Und ich hoffe, es wird Frieden geben. Insch-Allah – So Allah will.“

(Foto: Johannes Gerloff)

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