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„Das hier ist mein zweites Zuhause“

Zur Hilfsorganisation „Amcha“ kommen Holocaust-Überlebende seit 30 Jahren zur Therapie oder schlicht zum Zeitvertreib. Die Organisation befasst sich inzwischen auch mit jüngeren Generationen.
Musikalisch und sprachbegabt: die Holocaust-Überlebende Judith Moskuvich

„Ich habe angefangen, Französisch zu lernen“, erzählt mir Judith Moskuvich begeistert. Sie kann bereits Deutsch, Englisch, Rumänisch, Hebräisch und Jiddisch. Außerdem ist sie Schauspielerin – auf Theaterbühnen, und sie macht Fernsehwerbung. Als sie mir das erzählt, bekommt ihre Körperhaltung etwas Elegant-Divenhaftes. Judith ist 81 Jahre alt und hat den Holocaust überlebt. Wir sitzen zusammen im Aufenthaltsraum von „Amcha“ in Tel Aviv. Nicht weit vom Rothschild Boulevard hat die Organisation eines ihrer vielen Zentren.

„Amcha“ bietet Holocaust-Überlebenden verschiedene Therapien an, sowie allerlei Kurse und Beschäftigungen zum Zeitvertreib. „Amcha“ ist Hebräisch und bedeutet „Dein Volk“. Es handelt sich um die einzige Organisation, die von Überlebenden für Überlebende gegründet wurde. Sie feiert in diesem Jahr 30. Geburtstag.

Die Nazis haben Judith in ein Konzentrationslager deportiert, als sie sechs Jahre alt war. Ihre Mutter ist kurz danach an Typhus gestorben. Über diese Zeit möchte sie nicht viel erzählen, zu schrecklich sind die Erinnerungen.

Bei „Amcha“ fühlt sich Judith wohl. „Für mich ist es wie ein zweites Zuhause.“ Seit sieben Jahren kommt sie in das Zentrum, „fünf Tage die Woche“, und gibt inzwischen anderen Überlebenden Englisch-Unterricht. Auf ihrem Smartphone zeigt Judith mir Fotos von ihren Theaterauftritten und ihren Gemälden. Mal einen Blumenstrauß, den ihre Tochter ihr geschenkt hat, mal einen gebeugt sitzenden, traurigen Mann – ihre Bilder sind beeindruckend.

Zuhören als Therapie

Dass so viele Überlebende erst im fortgeschrittenen Alter die Therapieangebote in Anspruch nehmen, hat einen Grund, erklärt Tali Rasner, die Leiterin von „Amcha“ Tel Aviv. „Sie haben das Gefühl, vor ihrem Tod jemandem von ihrer Geschichte erzählen zu müssen.” Ihr Kollege Eitan Keret stimmt ihr zu: „Sie erhoffen sich von der Therapie, dass ihnen einfach jemand zuhört.“

Kümmert sich um Holocaust-Überlebende in Tel Aviv: Tali Rasner Foto: Pola Sarah Nathusius
Kümmert sich um Holocaust-Überlebende in Tel Aviv: Tali Rasner

Allein in Tel Aviv und Umgebung kommen 1.500 Menschen zu „Amcha“ – oder „Amcha“ zu ihnen. Für diejenigen, die nicht mehr fit genug sind, gibt es auch einen Besuchsservice mit 22 Therapeuten.

Auch für die Therapeuten ist das schwierig. Sie treffen sich regelmäßig zu Gesprächen und zur Supervision, um das, was die Menschen ihnen erzählen, verarbeiten zu können. Und die Therapiegespräche stehen immer unter der Prämisse „Die, die nicht dabei waren, können sich nicht vorstellen, wie der Holocaust war.“ Ja, das stimme natürlich, sagt Tali Rasner. „Ich kann vielleicht nicht verstehen, was Du erlebt hast – aber ich kann bei Dir sein, wenn Du darüber sprichst. Für uns als Juden, als Israelis ist das eine Mission.“

Schwierige Anfänge in Israel

Nicht alle nehmen das Therapieangebot in Anspruch, manche kommen auch nur wegen der Aktivitäten und dem Beisammensein – so wie Rika Schneider. Sie ist 83 Jahre alt und wohnt um die Ecke. Jeden Tag kommt sie zu „Amcha“, „außer montags, da habe ich Zeichenunterricht“.

Mit der Ankunft in Israel ging für Rika Schneider ein Traum in Erfüllung Foto: Pola Sarah Nathusius
Mit der Ankunft in Israel ging für Rika Schneider ein Traum in Erfüllung

Mit 16 Jahren kam Rika nach Israel. Sie sagt, sie sei kein besonderer Fall – damit meint sie, dass sie die Nazizeit überlebt hat, ohne ins Konzentrationslager zu müssen oder einen Todesmarsch überlebt zu haben. „Meine Eltern haben alles getan, mich zu behüten. Man hat mir nicht viel zugemutet.” Vermutlich konnten sich ihre Eltern mit ihr verstecken – das wird aus ihren Erzählungen nicht ganz klar.

Aufgewachsen ist Rika in Tschernowitz, das damals noch zu Rumänien gehörte. Wie Judith kam Rika als Kind nach Israel, doch die beiden Frauen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. „Oh, es war wie ein Ausflug … es war DER Traum, die Realisierung des Traums, alles war wunderbar“, erzählt Rika.

Judith hingegen „kam von einem Lager ins nächste, diesmal eins der Briten“. Dort hätten die Menschen völlig die Hoffnung verloren, jemals wieder ein Leben außerhalb eines Lagers führen zu können. Beide Frauen haben Familien gegründet, Kinder und Enkelkinder bekommen, einen Beruf gehabt. Das habe sie geschafft, weil sie sich nach dem Holocaust an alle Situationen des Lebens anpassen könne, sagt Judith. Aber das habe sie sehr viel Kraft gekostet.

Jüngere Generationen im Blick

„Amcha“ wird unter anderem durch das israelische Finanzministerium und die „Claims Conference“, die sich für Holocaust-Überlebende einsetzt, finanziert. Für Überlebende aus Deutschland sei es manchmal deutlich schwerer, langfristig eine Therapie bezahlt zu bekommen, erzählt Tali Rasner. Die Gutachter in Deutschland seien häufig der Meinung, zwei Jahre Finanzierung sollten für die Traumabehandlung ausreichen. Doch so einfach ist das natürlich nicht. „Man weiß nie, wann es endet“, erklärt Tali Rasner.

Inzwischen bietet „Amcha“ auch Therapien für die Nachkommen der Holocaustüberlebenden an. Sie können mit oder ohne ihre Verwandten zu „Amcha“ kommen. Oft spüren diese Menschen, dass ihre Probleme wohl etwas mit dem Holocaust zu tun haben. Sie könnten aber nicht wirklich einordnen, was genau, meint Tali Rasner. „Sie kommen zu uns, um zu hören, dass sie nicht meschugge sind.“ In den Therapien wird ihnen Raum gegeben, auch mal wütend auf die Eltern zu sein, sich von ihnen zu distanzieren.

Aktuell wird geprüft, ob man auch für die dritte Generation Angebote entwickeln kann. Für Tali Rasner ist „Amcha“ nämlich nicht nur eine Organisation, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigt. „Wir können auch für eine Veränderung in der Zukunft sorgen.“

Von: Pola Sarah Nathusius

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