Vor dem Wirtschaftsrat der örtlichen CDU skizzierte Kindermann Netanjahus Herangehensweise: Da Israelis und Palästinenser mit dem Bemühen um einen politischen Frieden nicht vorankämen, müsse man einen wirtschaftlichen Frieden anstreben. Dass Palästinenser und israelische Araber am Wohlstand teilhaben könnten, sei aus offizieller deutscher Perspektive als klug zu werten. So werde das Ungleichgewicht geschmälert und ein Bolllwerk gegen Radikale errichtet, die alle Demokratien fürchteten. Allerdings sei die Bundesrepublik skeptisch bezüglich der Tendenz, bei einem ökonomischen Frieden nicht mehr nach einer Lösung für Jerusalem oder die palästinensischen Flüchtlinge zu suchen. Die Palästinenser müssten einen Staat erhalten, der aus sich heraus lebensfähig sei.
Der Botschafter zitierte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf das Risiko hingewiesen hatte, das Israel mit einem Friedensschluss eingehen würde. Wenn die Terrorbekämpfung in den Händen der Palästinenser läge, wäre sie nicht mehr so verlässlich wie unter israelischer Verantwortung. Doch dieses Risiko müsse man eingehen. "Man darf sich im Nahen Osten nicht darauf verlassen, dass irgendein Zustand stabil ist", so Kindermann. Deutschland fordere die Parteien auf: "Traut euch was". Er wandte ein: "Das ist aus unserer Sicht leichter gesagt, weil wir das Risiko nicht erleben."
Deutschland und auch die USA seien davon überzeugt, dass die Zeiten des Druckausübens vorbei seien, führte der Diplomat aus. Die Botschaft in Tel Aviv bemühe sich darum, dass Israelis und Palästinenser keinen Tunnelblick bekämen. Man versuche massiv, den Diaolog zu fördern, etwa durch Studentenaustausch oder gemeinsame kulturelle Projekte. Dies habe die deutsch-israelischen Beziehungen deutlich gefördert.
Deutsche Erfahrung als Hoffnungszeichen
Als größte deutsche Aufgabe sieht es der Botschafter, der extremen Hoffnungslosigkeit und Depression im Nahen Osten aus eigener Erfahrung etwas entgegenzusetzen. "Durch Glück und Klugheit haben wir die Konfrontation überwunden." Wenn Israelis Berlin besuchten und sähen, wie die Stadt zur Zeit der Teilung aussah und was heute aus ihr geworden sei, könne sie das ermutigen. Ein solcher Ansatz dürfe allerdings nicht schulmeisterlich sein. "Das wäre absurd, weil die Situation anders ist."
Die Diplomaten versuchten, mit allen Teilen der israelischen Bevölkerung zu sprechen, auch mit den frommen Juden, fügte Kindermann hinzu. "Es ist ein Fehler, die Orthodoxen per se als Friedenshindernis anzusehen. Sie sind in erster Linie gläubig." Die Orthodoxie sei nicht starr, sondern sie bewege sich. Dies zeige sich etwa am Internetboom in dieser religiösen Gruppe.
Als ein Musterbeispiel für einen gelungenen ökonomischen Frieden führte Kindermann die Europäische Union an: Sie habe als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begonnen, der gemeinsame politische Weg sei erst viel später beschritten worden. Durch ihre Integration hätten die Heimatvertriebenen keine Revanchegelüste verspürt. Als Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges habe es die Flüchtlinge nicht als politischen Punkt gegeben. "Themen wie Breslau oder Elsass-Lothringen waren erledigt" – und das nicht nur wegen der Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Die Möglichkeit der Teilhabe am Wohlstand habe friedensfördernd gewirkt, deshalb sei die EU so stabil. Im Nahen Osten sei die Lage hingegen genau umgekehrt. Die palästinensischen Flüchtlinge seien in keinem Land integriert.
Als Gegenbeispiel wiederum nannte der Botschafter den Balkan-Krieg – dieser habe gezeigt, dass das Prinzip des ökonomischen Friedens nicht immer funktioniere. "Jugoslawien unter Tito war der wohlhabenste Staat auf dem Balkan." Der wirtschaftliche Standard sei höher gewesen als beispielsweise in Griechenland oder Österreich. Touristen hätten überhaupt nicht bemerkt, ob sie es mit Serben, Kroaten oder Bosniern zu tun hatten. "Wir fühlten uns also sicher. Der Wohlstand produzierte Frieden und Ausgleich. Deshalb traf der Krieg die Diplomatie wie ein Schock."
Hier sei das Kühlschranksyndrom aufgetreten: Religiöse Konflikte waren quasi eingefroren und blieben unverändert, erläuterte Kindermann. Die jugoslawischen Nachfolgestaaten trugen diese Konflikte blutig aus. Die zwei gegensätzlichen Erfahrungen führten zu der Frage: Löst Wohlstand religiöse Spannungen oder überdeckt er sie? Bis heute befinde sich die Diplomatie wegen Jugoslawien in einem Stadium der Verunsicherung.