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Beim Puzzlespielen über die Schulter geschaut

Manchmal ist Journalismus nichts anderes als Puzzle-Spielen. Aufmerksam betrachte ich einen wirren Haufen von scheinbar zusammenhanglosen Teilchen. Mühsam versuche ich ein Teil ans andere zu fügen, ein größeres, zusammenhängendes Bild zu erkennen.

Wenn man dabei eine Vorlage und die Sicherheit hat, daß alle Teile auf dem Tisch liegen, ist das relativ einfach – oft liegt beim Journalismus-Puzzle aber keine Vorlage auf dem Tisch, oder mein Gegenüber hält mir ein Bild vor Augen, das mehr seinen Wünschen als der Wirklichkeit entspricht. Dabei kann es vorkommen, daß mir Teile des Gesamtbildes vorenthalten werden.

Bis nach Tagen, manchmal Wochen oder gar Monaten, endlich ein klares Bild vor Augen steht, ist das Geschehen für die Redaktionen im fernen Europa längst „kalter Kaffee“, „Schnee von gestern“, und damit uninteressant. Wie sich so ein Gesamtbild zusammenfügt und im Rückblick aussehen kann, will ich im folgenden darstellen.

Am Morgen des 8. August 2002 meldete die Deutsche Welle: „Im Westjordanland zerstörte [die israelische Armee] mehrere Häuser von mutmaßlichen Selbstmordattentätern.“ Zusammenhang der Meldung war, daß israelisch-palästinensische Gespräche über einen Truppenrückzug aus den Palästinensergebieten wieder einmal am Unwillen der Israelis gescheitert waren. Dieser letzte Satz einer deutschen Radiomeldung hätte eigentlich der erste Hinweis auf meine Story sein können. Aber das entdeckte ich erst bei der rückblickenden Durchsicht meines Archivs.

Die Hintergründe für die Zerstörung palästinensischer Häuser durch die israelische Armee (Zahal) hatten mich schon länger beschäftigt. Jede Woche, manchmal täglich, erreichen mich Meldungen, daß Zahal-Sprengmeister ein Haus in die Luft gesprengt haben. Dutzende Menschen werden dabei obdachlos. Manchmal wird als Begründung angegeben, das Gebäude sei ohne Baugenehmigung errichtet worden. Meist heißt es jedoch, die Häuser hätten Familien von Terroristen gehört, die durch diese Aktionen erfahren sollten, daß es sich nicht lohnt, gegen Israel gerichteten Terror aus den eigenen Reihen zu dulden. Menschenrechtsgruppen verurteilen derartige Aktionen als Kollektivstrafen, die den Haß gegen den Besatzer nur noch mehr schüren.

Mit dem Ziel, einer solchen Geschichte einmal im Detail auf den Grund zu gehen, machte ich mich am 28. Oktober 2002 auf den Weg nach Bethlehem. Auf meine Bitte, mir von Israelis zerstörte Häuser zu zeigen, führte mir mein palästinensischer Taxifahrer zunächst die Bethlehemer Polizeistation vor – beziehungsweise das, was von ihr nach einem israelischen Raketenangriff noch übriggeblieben war.

„Mich interessiert aber eine Geschichte mit einer Familie, die persönlich betroffen ist“, erkläre ich Nayef, dem Taxifahrer, „nicht nur eine zerbombte Polizeistation.“ Deshalb macht er sich auf den Weg nach el-Aida, einem Flüchtlingslager im Norden des christlich dominierten Beit Jala. Dort lerne ich die Großfamilie Al´an und ihre Geschichte kennen.

Vor den Trümmern eines gesprengten Hauses erklärt uns Shaker Al´an, wie am frühen Morgen des 8. August die Armee anrückte. „Die Soldaten kamen um 3 Uhr. Sie fragten Musa, wo Ali sei. Um 6 Uhr forderten sie alle Bewohner auf, das Anwesen innerhalb von 25 Minuten zu verlassen. Wir schafften nach draußen, was möglich war. Dann sprengten sie das Haus. Amal, Alis Frau, ist seitdem im Gefängnis. Sie hat einen kleinen Sohn, der jetzt bei ihren Eltern in el-Abadiye ist.“

Musa Al´an ist der Cousin von Shaker. Obwohl der Angriff der Israelis dem Haus von Musa galt, wurde auch das Haus von Yasser Al´an, das dicht daneben stand, vollkommen zerstört. Shaker führt uns zu Yassers Frau Nawal, die wenige hundert Meter entfernt eine Mietwohnung gefunden hat.

Im Gespräch mit Nawal Al´an kristallisiert sich heraus, daß die Zentralfigur dieser Familientragödie der 27jährige Sohn Musas ist, Ali Al´an. Wegen seiner Aktivitäten in der ersten Intifada, so erzählt Nawal, sei er in den 90er Jahren fünf Jahre lang von den Israelis eingesperrt worden. Dann habe er bei der israelischen Elektrizitätsgesellschaft gearbeitet. Aufgrund seines Wohnrechtes in Israel habe er frei nach Jerusalem fahren können.

Irgendwann sei Ali in Nablus gewesen, erinnert sich Nawal. Eines Tages sei er in einem Auto unterwegs gewesen, das plötzlich explodierte. „Alis Freund wurde getötet, er selbst verletzt“, erzählt Nawal Al´an. „Seitdem suchen ihn die Israelis. Vielleicht hat er Verbindungen zur Hamas.“

Musa Al´an hat mit seiner Frau, neun Söhnen und sieben Töchtern in Beit Jala eine Bleibe gefunden. Im Gespräch mit ihm erfahre ich, daß die Familie Al´an ursprünglich aus Malcha stammt, dem heutigen Jerusalemer Stadtteil Manahat. Von dort floh Musas Vater 1948 mit seiner Familie. Seitdem ist die Familie Al´an auf über 200 Personen angewachsen. Ihre Mitglieder leben zerstreut in Ramallah, Bethlehem, Beit Sahur und Jordanien. Musa selbst hat auch einige Zeit in der Jerusalemer Altstadt gewohnt. Aus dieser Zeit haben er und seine Kinder einen israelischen Personalausweis.

Über Ali will niemand nichts wissen. „Vielleicht ist er in Nablus?“ rätselt man in meiner Gegenwart. Und ich frage auch nicht weiter. Langsam wird klar, daß es in dieser Familie ein sehr heikles Geheimnis gibt. An der Wand des Wohnzimmers hängen zehn Fotos von den Kindern Musas. Auf fünf Bildern ist Ali, meist allein, abgebildet. Stolz wird immer wieder sein Name genannt.

Bereitwillig nimmt mich Ahmad, Musas ältester Sohn, mit in seine Wohnung und zeigt mir im Kreise seiner eigenen fünf Kinder das Video von der Zerstörung des Familienhauses. Das palästinensische Fernsehen war trotz der frühen Morgenstunden rechtzeitig zur Stelle gewesen. Ausführlich werden alle Einzelheiten erörtert.

Von Nachbarn erfahre ich noch, daß Musa und seinen Söhnen Mafiaaktivitäten und Autodiebstähle nachgesagt werden. Aber die Sachlage bleibt mir zu unsicher, als daß ich darüber schreiben könnte. Nachforschungen im Internet sind schwer, weil der Familienname sehr unterschiedlich in lateinischer Schrift wiedergegeben ist, einmal als „Alan“, ein andermal als „Alaan“ oder auch mit „Alian“. Ich entscheide mit für „Al´an“, weil das nach meinem Gehör der ursprünglichen Aussprache am nächsten kommt.

Am frühen Morgen des 18. März 2003 ist eine Reserveeinheit der Jerusalem-Brigade in Koordination mit dem israelischen Inlandsgeheimdienst („Shabak“) zu einer Routineoperation unterwegs in dem kleinen arabischen Dorf Merah Revah, südlich von Bethlehem, zwischen den jüdischen Ortschaften Efrat und Tekoa im wilden judäischen Bergland. Auf dem Dach eines Hauses fällt den Soldaten eine verdächtige Person auf. Bei der Durchsuchung des Gebäudes kommt es unerwartet zu einem heftigen Schußwechsel. Der 27jährige Obergefreite d.R. Ami Cohen aus Netanya wird aus nächster Nähe von einem Feuerstoß aus einer AK-47 getroffen und ist sofort tot. Der kommandierende Offizier Major Ohad erschießt den Terroristen.

Erst sieben Stunden nach dem Vorfall gelingt es den Israelis, die Identität des Palästinensers festzustellen: Es ist Ali Musa Ahmad Al´an, der auf Platz eins der Liste der vom Shabak gesuchten palästinensischen Terroristen steht. Plötzlich fügen sich Einzelteile zu einem Gesamtbild, nicht zuletzt, weil jetzt vorher schweigsame „Quellen in Sicherheitskreisen“ zu Pressevertretern (wenngleich immer noch anonym) reden dürfen.

Geheimdienstbeamte sind erstaunt, Ali Al´an in Merah Revah gefunden zu haben. Der ansonsten gut informierte Shabak war davon ausgegangen, daß sich Ali irgendwo im dichtbesiedelten Großraum Hebron versteckt hielt. Mehrfach war der Befehlshaber des militärischen Armes der Hamasbewegung in Judäa im letzten Augenblick gezielten Anschlägen israelischer Spezialeinheiten entgangen.

Schon in Verhören während seiner Haft zwischen 1994 und 1998 hatte Ali Al´an zugegeben, an Bombenanschlägen, der Planung von Hinterhalten und der Entführung von israelischen Soldaten beteiligt gewesen zu sein.

Unmittelbar nach seiner Freilassung zog er nach Nablus. Dort wurde er von dem Sprengstoffexperten Mahanad Tahar zum Spezialisten für Sprengsätze ausgebildet. Je mehr Hamasaktivisten militärischen Operationen zum Opfer fielen, desto weiter stieg er in den Rängen der radikal-islamischen Organisation auf, bis er es schließlich zum „Ingenieur“ brachte, einem Experten, der es versteht, Sprengstoffgürtel für Selbstmordattentäter herzustellen.

Als Zahal im Rahmen der Aktion „Schutzwall“ im April 2002 den Druck auf das samarische Hamasnetzwerk verstärkte, sah sich Ali Al´an gezwungen, nach Judäa umzuziehen. Dort baute er eine vollkommen neue Einheit auf. Unter seiner Leitung gelang am 8. Juni 2002 der Selbstmordbombenanschlag auf die Jerusalemer Buslinie 32 an der Pat-Kreuzung, bei dem 19 Israelis getötet und 50 verletzt wurden.

Am 21. November 2002 sprengte sich der 23jährige Nael Abu Hilail aus Bethlehem in einem Stadtbus im Jerusalemer Stadtteil Kirjat Menachem in die Luft. Ali Al´an war auch Drahtzieher dieses Anschlags, bei dem 17 Israelis ums Leben kamen und weitere 45 zum Teil schwer verletzt wurden. Naels Vater, Azmi Abu Hilail, brüstete sich: „Unsere Religion lehrt uns, daß wir bis zum Tag der Auferstehung auf ihn stolz sein dürfen.“

Ein Cousin Ali Al´ans gab nach seiner Verhaftung zu, Nael Abu Hilail nach Jerusalem gebracht, Sprengstoffgürtel und andere Sprengsätze vorbereitet, Selbstmordattentäter angeworben und Ali unterstützt zu haben, weitere Terroristen auszubilden. Gleichzeitig mit diesem Cousin Al´ans wurden sechs junge Leute, die sich auf Selbstmordattentate vorbereitet hatten, und weitere 15 Terroristen festgenommen.

Nach Erkenntnissen des Shabak fand Ali auch in seiner Frau Amal eine tatkräftige Hilfe. Die Mutter eines zweieinhalbjährigen Sohnes half bei der Beförderung der Selbstmordattentäter und bei der Übermittlung von Nachrichten zwischen den Mitgliedern der Terroreinheit. Ironischerweise hat Amal Al´an jetzt nach dem Tod ihres Mannes Anspruch auf Entschädigung und Unterstützung durch die israelische Sozialversicherung, weil Ali einen israelischen Personalausweis besessen hatte.

Nach diesem Bombenanschlag erhielt Ali Al´an von der Hamasführung in Gaza und Damaskus den Auftrag, eine ähnliche Einheit in Hebron aufzubauen. So entstand in Südjudäa eine Terrorzelle, die vollkommen unabhängig vom ursprünglichen Hamasnetz operierte. Zu den alteingesessenen Kadern des Islamischen Jihad entstand bald eine Konkurrenzsituation.

In den darauf folgenden Monaten veränderte sich die Sicherheitslage in Hebron spürbar. Während nach der Tötung des Hamasführers Jamal Jadallah durch Zahal mehr als ein Jahr zuvor eine auffallende Ruhe im Raum Hebron eingekehrt war, kamen in den drei Monaten nach dem November 2002 bei sieben Anschlägen 25 Israelis ums Leben.

Am 7. März 2003 organisierte Ali Al´an den Doppelanschlag, dem in Kiryat Arba das Ehepaar Eli und Dina Horowitz zum Opfer fiel. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Die zweite Terroreinheit, die die jüdische Ortschaft Negohot südlich von Hebron angreifen sollte, während die Sicherheitskräfte in Kirjat Arba konzentriert waren, wurde von der Armee entdeckt, die beiden Terroristen erschossen, bevor sie Schaden anrichten konnten.

Auch der Anschlag am 5. März 2003 in der nordisraelischen Hafenstadt Haifa geht auf das Konto Ali Al´ans. Er war es, der Muhammad Kawasme aus Hebron entsandte, um 17 Menschen mit sich in den Tod zu reißen, die meisten von ihnen Schulkinder und Studenten des Haifaer Technion.

Wenige Stunden nach dem Vorfall in Merah Revah tötete Zahal einen weiteren, ebenfalls 27jährigen Hamas-Aktivisten. Nasser Assida war für den Tod von 25 Israelis verantwortlich und hatte sich in der Nähe von Nablus in einer Höhle versteckt. Der Oberkommandierende des Zentralabschnitts der israelischen Armee, Brigadegeneral Gershon Yitzhak, erklärte Journalisten, daß Zahal in neun Monaten mehr als 30 Male versucht habe, Assida gefangenzunehmen oder zu töten. In derselben Nacht nahmen die Sicherheitskräfte noch weitere acht gesuchte Palästinenser in Judäa, Samaria und dem Gazastreifen fest.

Immer wieder wird in Israel und im Ausland die Frage aufgeworfen, ob anhaltende Militäroperationen, Häuserzerstörungen, Festnahmen und gezielte Tötungen dem palästinensischen Terror Einhalt gebieten können. Die Statistik der vergangenen Jahre und die Sicherheitslage in der israelischen Öffentlichkeit scheint diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Allein zwischen März und Mai 2002 ging die Zahl der Anschläge in der Westbank von 500 pro Monat auf 100 zurück, bei weiter fallender Tendenz. Während in den ersten Monaten des Jahres 2002 monatlich noch 31 Anschläge in Israel verübt werden konnten, waren es seit April 2002 nur noch 13 pro Monat.

Zu der Einsicht, daß die Aktionen der israelischen Armee nicht erfolglos sind, scheinen auch deren erbittertste Feinde zu kommen. Am Morgen des 7. April 2003 gab Yussuf a-Shyuch, die rechte Hand Ali Al´ans, auf und stellte sich in Bethlehem den israelischen Sicherheitskräften.

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