Arabische Erinnerungen an den Sechstagekrieg

Am frühen Morgen des 5. Juni 1967 begann Israels Präventivschlag gegen Ägypten und Syrien und damit der „Sechstagekrieg“, in den sehr bald auch Jordanien eingriff. Was von den einen als Befreiung Jerusalems und des Kernlandes Israels gefeiert wird, war für die anderen der Beginn einer vierzigjährigen Besatzung. Wo Israelis feiern, trauern Araber – so zumindest die „politisch korrekte“ Version. Und da sich die kritischen Stimmen zu dem „überragenden Sieg“ von 1967 und seinen Langzeitfolgen auch auf israelischer Seite mehren, wagt heute kaum jemand zu widersprechen.

Doch ein Gang durch die Altstadt von Jerusalem stellt so manche Klischees in Frage. Khairi Filat (Bild) bemüht sich, seine Wasserpfeife in Gang zu halten. Er sitzt in einem schummrigen Caféhaus unweit der Grabeskirche, in das sich kaum Touristen verirren. Der Muslim stammt ursprünglich aus Baka, das heute in Westjerusalem liegt. Seine Familie floh 1948 mit der Entstehung des Staates Israel in den Ostteil der Stadt. Als der Sechstagekrieg ausbrach, war Filat 25 Jahre alt und arbeitete als Angestellter im Postamt in der Salah-a-Din-Straße.

„Wir schauten aus dem Fenster und stellten fest: Die Armee der Juden ist da“, erzählt er seine erste Erinnerung vom Kriegsbeginn. „Und dann sahen wir, wie Fallschirmspringer über dem Rockefeller-Museum absprangen. Wir waren ungefähr 100 bis 150 Mitarbeiter in der Post. Einige von uns gingen auf die Straße, um zu sehen, was passiert. Andere wollten über die Straße in die Altstadt fliehen. Man sah die Kugeln einschlagen. Später habe ich zwei von ihnen tot am Boden liegen sehen.“

Khairi Filat, der stolz ist auf seinen amerikanischen Pass, George Bush gewählt hat, in der Hoffnung, er werde pro-arabisch werden, und überhaupt nur zu Besuch in seiner alten Heimat ist, erinnert sich, wie der Direktor des Postamts dann mit einem weißen Tuch in der Hand Kontakt mit den israelischen Soldaten aufgenommen hat. „Er konnte Hebräisch, weil er schon vor 1948 im Postamt gearbeitet hatte. Und damals kamen noch viele Juden in die Salah-a-Din-Straße.“

Alle Postangestellten, die sich ausweisen konnten, durften nach Hause fahren. Fast fünf Meilen waren es von der größten Geschäftsstraße Ostjerusalems am Rande der Altstadt bis nach Beit Hanina auf halbem Wege nach Ramallah, wo Filat damals wohnte. „Auf dem Weg sahen wir ausgebrannte jordanische Jeeps. Die waren mit Napalm bombardiert worden. Alles war schwarz und verbrannt. Wir sahen viele tote jordanische Soldaten, bestimmt mehr als 50 Leichen.“

Sein Glaubensgenosse Issam Alemam verkauft unmittelbar neben dem Damaskus-Tor billige Plastikschuhe. Die Familie Alemam stammt aus Hebron, aber Issam ist in Jerusalem aufgewachsen. Anfang Juni 1967 war er 16 Jahre alt und hat eine Schule im muslimischen Viertel Jerusalems besucht. „Wir haben die ganze Zeit Schießereien gehört“, erinnert er sich, „aber das hat überhaupt nichts gebracht. Überhaupt gab es gar keinen richtigen Krieg.“ – Vielen Arabern ist suspekt, dass der Krieg so schnell vorüber war. Sie vermuten eine Verschwörung, und dass das jordanische Königshaus von Anfang an ein geheimer Verbündeter des „zionistischen Regimes“ war.

„Die jordanischen und irakischen Soldaten auf der Stadtmauer sind ganz schnell geflohen.“ Alemams Nachbar, Raymond Hemo, war damals 13 Jahre alt und wohnte in einem Haus nur 20 Meter von der Mauer der Altstadt entfernt im Christenviertel. „An den Helmen konnte man die Iraker erkennen“, erklärt er, „das waren alte englische Helme.“ Hemo ist überzeugt, dass die Araber schon einige Zeit vorher wussten, dass ein Krieg ausbrechen würde. Deshalb waren auch die Iraker gekommen.

Er ist stolz darauf, zu den assyrischen Christen zu gehören. Sein Vater spricht noch Aramäisch, „die Originalsprache Jesu“. Am Damaskus-Tor bietet er den vorbeiströmenden Touristen aus aller Welt arabischen Kaffee, süßen Tee mit Nana-Minze und Wasserpfeifen an. „Hier kann man die ganze Welt sehen“, erklärt er stolz, während zwei Polen an ihren Wasserpfeifen saugen und mit ihren Digitalkameras vor dem Gesicht die vorübergehenden Menschen fixieren. Mit einem Seitenblick auf seinen muslimischen Nachbarn meint er: „Glaubt dem nichts. Die lügen alle. Nur ich sage die Wahrheit. Ich bin Christ.“

„Krieg! Krieg! Krieg! schrieen plötzlich alle am Vormittag des 5. Juni 1967, und dann bin ich nach Hause gerannt“, berichtet Hemo. „Nach der Flucht der Iraker und Jordanier versuchten sich die Einheimischen zur Wehr zu setzen. Aber die konnten mit ihren alten Gewehren und der schlechten Munition nichts ausrichten.“ „Wir hatten Angst“, erinnert sich der Palästinenser, dessen Großvater aus Syrien eingewandert ist. Seine Frau ist koptische Christin und stammt aus Ägypten. „Von den Juden wussten wir nur, dass sie wie Affen sind – das hatten sie uns in der Schule erzählt – die Israelis haben Schwänze wie Affen. Vier oder fünf Tage lang haben wir uns im Keller versteckt.“

Als dann die Israelis kamen, um die Häuser nach Waffen und Soldaten zu durchsuchen, waren sie ganz freundlich. „Absolutely“, versichert Raymond Hemo und gebraucht sein englisches Lieblingswort, das in fast jedem seiner Sätze vorkommt: „Sie haben den Leuten Geleetuben verteilt. Gelee, das man aufs Brot streichen kann, wie Butter. Marmelade in Zahnpastatuben – absolutely! Aber das alte Schrotgewehr, das mein Vater unter den Weinranken versteckt hatte, haben sie nicht gefunden. Absolutely.“ – „Ja, zu uns Kindern waren die israelischen Soldaten nett“, fügt Nachbar Issam Alemam hinzu, „Aber zu den Erwachsenen waren sie nicht so nett. Und für die Männer zwischen 25 und 30 war es richtig schwierig.“

„Überhaupt keine Angst“ hatte Toros Seron Tahmasian. Der Armenier ist 1932 im Libanon geboren, 1938 nach Palästina eingewandert und hat bei Kriegsausbruch im Juni 1967 im Armenierviertel gelebt. Seelenruhig sitzt er auf den schmutzigen Treppenstufen am Rande der engen Gasse und kümmert sich überhaupt nicht darum, dass ein paar Jungs mit einem voll beladenen Handkarren gefährlich nahe kommen. „Wir haben während des Krieges wie Könige gelebt, wir hatten alles“, erzählt er mit einem verschmitzten Lächeln. „Weißt du, mein Onkelsohn ist ein sehr reicher Mann, er ist ein Millionär, hat sechs oder sieben Millionen Dollar. Aber davon will ich überhaupt nichts.“ Der alte Mann strahlt Zufriedenheit aus.

„Wir hatten Wächter und Waffen im Armenierviertel und hatten deshalb weder vor den Juden noch vor den Arabern Angst“, fährt Tahmasian fort. „Als die Israelis am Vormittag des 5. Juni kamen, habe ich gerade ein Haus gestrichen. Ich war damals Maler.“ „Sie haben an die Tür geklopft. Unser Bischof, der jetzt seit zwei Jahren tot ist, hat aufgemacht und versucht, mit den Soldaten Hebräisch, Arabisch oder Englisch zu sprechen. Aber das verstanden sie nicht. Er fragte sie: ‚Welche Sprachen könnt ihr?’ Sie sagten: ‚Französisch, Russisch.’ Er sagte: ‚Ich spreche auch Französisch. Woher kommt ihr?’ Sie sagten: ‚Wir kommen aus dem Ausland und helfen den israelischen Soldaten.’ Sie waren gekommen, um Israel zu helfen.“

Auf die Frage, was sich denn nach der israelischen Eroberung verändert habe, weiß keiner so recht zu antworten. Raymond Hemo, der assyrische Christ, der als einziger die Wahrheit sagt, meint aggressiv: „Sir, Sie stellen nicht die richtigen Fragen!“ Der 73-jährige Sari Rabadi, Vorsitzender der Vereinigung palästinensisch-arabischer Tourguides in Jerusalem, steht auf dem Platz vor der Grabeskirche und gibt sich wortkarg. Aber dann fängt er an zu erzählen: „Am Anfang war alles sehr einfach. Es kamen schon bald wieder Touristen und es gab Arbeit. Erst mit der Intifada 1987 wurde alles schwierig. Davor gab es keine Straßensperren, wie heute. Damals, als alles unter israelischer Besatzung war, konnte man ganz einfach nach Gaza oder in die Westbank gehen. Heute wird das Leben immer schwieriger. Alles bricht in sich zusammen.“

Der ehemalige Postmitarbeiter Filat hat noch als Lehrer gearbeitet, bevor er sein Land am 25. August 1968 in Richtung USA verlassen hat. Weil er bereits zwei Brüder dort hatte, war das kein Problem. „Alles Gerede von einem Palästinenserstaat ist Lüge“, weiß er und erwartet erst dann Frieden, wenn die Jordanier wieder zurückkommen. Aber warum soll das Westjordanland an die Jordanier zurückgegeben werden? „Die Israelis wollen uns nicht. Weißt du, man erzählt sich, dass ein israelischer Premierminister gesagt hat: Ich hoffe, eines Morgens aufzuwachen, um festzustellen, dass Gaza im Meer liegt.“

(Foto: Johannes Gerloff)

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