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An der Schwelle vom Okzident zum Orient

"Ist Zypern Orient oder Europa?" - "Soll das eine Beleidigung sein?", fragt unwirsch der Autovermieter am Flughafen von Larnaka. Beschwichtigend erkläre ich, dass ich lediglich erfahren wollte, ob in Zypern Kratzer am Auto deutsch-pingelig oder morgenländisch-großzügig zu betrachten seien. Aber klar, seit dem 1. Januar 2008 zahlen auch die Zyprioten mit dem Euro, und das ist schließlich das Entscheidende. Denn "Money makes the world go around…"

Wenige Autobahnkilometer in Richtung auf die Hauptstadt Lefkosia grüßt ein Schild vom Straßenrand: „Türkische Besatzungstruppen und Siedler raus aus Nordzypern!“ – Die Wortwahl kommt bekannt vor. Rein intuitiv scheint sie am Südostzipfel der europäischen Zivilisation fehl am Platze. „Flüchtlinge“, „Siedler“ und „Besatzer“ passen eher zu „Palästina“, „Israel“ und „Nahostkonflikt“. Oder sollte es in Europa Probleme geben, die wir gerne als „orientalisch“ bezeichnen und lieber im Nahen Osten lösen wollen?

Nach einer halben Stunde Fahrt auf einer unverschämt sauberen Autobahn („Littering“ wird ganz britisch mit hohen Geldstrafen bedroht – auch das verkünden Schilder am Straßenrand) erscheint am Horizont an einem Berghang über Lefkosia eine riesige Flagge. Den roten Halbmond auf weißem Grund haben die Türken dem Bergrücken Nordzyperns so aufgedrückt, dass ihn die griechischen Zyprioten täglich vor Augen haben. Ich biege von der Autobahn ab und erreiche das Haus von Demetris Shailis. Den lernten wir vor einigen Wochen bei einem Wanderurlaub kennen. Er überraschte uns mit orientalischer Gastfreundschaft.

Demetris ist Flüchtling. 1974, nach dem Einmarsch der Türken, musste er seine Heimat Morfu in Nordzypern verlassen. Der Vater, ein wohlhabender Bauunternehmer und Landbesitzer, verlor damals alles. „Einen Monat lang habe ich mich in den Plantagen versteckt, ehe ich in türkische Gefangenschaft geriet“, erzählt Demetris. Durch einen Gefangenenaustausch kam er aber bald frei und studierte ab 1975 in der damaligen DDR Bauingenieurwesen. Heute arbeitet Demetris als Reiseleiter. Der Traumberuf seines Vaters entsprach nicht seinen eigenen Träumen. Auf dem Weg in die Stadt zeigt er mir Siedlungen, die eigens für die Flüchtlinge aus den 70er Jahren angelegt wurden. Wenn dort Palästinenser lebten, würde man so etwas „Flüchtlingslager“ nennen.

Im Herzen von Lefkosia folgen wir den Spuren von Demetris Militärzeit. „Hier habe ich Wache geschoben“, erklärt er angesichts der Mauer, die die Stadt in einen türkischen Nordteil und einen zyprischen Südteil zerreißt. Erstaunt stelle ich fest, dass nicht nur Israelis und Palästinenser von einer Mauer getrennt sind. Es gibt auch Mauern in Europa – und einen Tag später stehe ich vor Mauer und Stacheldraht im Herzen der libanesischen Hauptstadt Beirut.

Im Unterschied zu der israelischen Mauer zwischen Jerusalem und Bethlehem ist im arabischen Beirut und im europäischen Lefkosia das „Fotografieren verboten!“ – Ich entdecke das Schild erst, als ich bereits ein Bild von den exerzierenden Soldaten in voller Kampfmontur am Ende der Fußgängerzone gemacht habe. „Aber solche Verbote sind bei uns eher Empfehlungen“, meint mein Begleiter – und ich stelle fest: „Also sind wir hier doch im Orient!“ Demetris lacht.

Das Bild von Soldaten der Europäischen Union, die martialisch ihre Verteidigungsbereitschaft gegenüber dem NATO-Land Türkei demonstrieren, lässt mich nicht los. Irgendwie erscheint mir unwirklich, dass EU und NATO die Gewehre aufeinander richten. Bei einem Glas guten zypriotischen Rotweins kommen mir verwegene Gedanken: „Könnte man von den Türken als Bedingung für einen EU-Beitritt nicht ganz einfach verlangen, Nordzypern zu räumen – um so verängstigten Islamophoben zu beweisen, dass die Türken keinerlei Expansionsgelüste haben?“

„Nein, nein, so einfach ist das nicht“, wendet ein Journalistenkollege ein, der seit Jahrzehnten aus dem Nahen Osten berichtet: „Immerhin sind die Türken erst in Zypern einmarschiert, nachdem griechische Nationalisten im Rausch eines Traums von Großgriechenland anfingen, ihre türkischen Mitbürger zu massakrieren.“ Demetris gibt zu, dass die Türkei nicht aus Expansionsgelüsten in Zypern einmarschiert ist. Die Türken hätten die ganze Insel besetzen können: „Militärisch hatten wir griechischen Zyprioten keine Chance.“

Gut, ich gebe zu, dass meine vergleichenden Gedanken zu kühn sind. Israel und seine Nachbarn sind schon etwas ganz Besonderes und es ist natürlich etwas ganz Anderes, wenn Juden an einer Situation beteiligt, für eine Lage verantwortlich oder an einem Zustand schuld sind. Deshalb kann man auch keine Unabhängigkeit für Kurdistan verlangen – obwohl Kurdistan im Gegensatz zu Palästina ein reiches und lebensfähiges Land wäre. Und wenn die Türkei tatsächlich der EU beitreten sollte, müssten wir uns überlegen, ob wir das Kurdenproblem tatsächlich europäisieren wollten. Dann könnten eines Tages ja auch noch Kirkuk und Mosul europäisch werden wollen – oder würde Europa orientalisch, wenn es an den Iran grenzte?

Auch das Eingeständnis einer Verantwortung für einen Völkermord an den Armeniern kann man unseren türkischen Freunden nicht abverlangen. Ich muss mir sagen lassen, dass wir Deutschen keinerlei Verständnis für orientalisches Ehrgefühl haben und die Sentiments des Morgenlandes einfach nicht nachvollziehen können. Deshalb werde ich künftig einfach darüber hinwegsehen, wenn in den Armeniervierteln Jerusalems oder Beiruts und an anderen Orten im Orient die Grausamkeit der türkischen Massaker grafisch eindrücklich dargestellt wird.

Apropos „Holocaust“: Dieses Wort, das tatsächlich ein halbes Jahrhundert vor dem deutschen Völkermord am jüdischen Volk von amerikanischen Zeitungen als Beschreibung für das verwendet wurde, was die Osmanen ihren armenischen Bürgern antaten, „stammt aus dem Griechischen“. Das erklärt mir Demetris bei Reis, Bohnen und schmackhaftem Lammfleisch. Ein „Holocaust“ war ein Ganzopfer, das dem Gott der Unterwelt, dem griechischen Hades oder dem römischen Pluto, dargebracht wurde und deshalb vollkommen verbrannt werden musste. Die Unterweltgötter ließen den Menschen nichts übrig, im Gegensatz zu den anderen Göttern, die ihre Anbeter zu Opfermahlzeiten einluden.

Nach dem Essen gibt es „zyprischen Kaffee“. Eigentlich ist das genau dasselbe Getränk, das man in Israel „Kaffee Botz“ (Schlamm-Kaffee) nennt und das ich vor fast 30 Jahren als „arabischen Kaffee“ kennen gelernt habe. Bei einem Besuch bei Beduinen war ich dann so naiv, den „arabischen Kaffee“ zu loben – und musste mich belehren lassen, dass dies kein „arabischer“, sondern „Beduinenkaffee“ sei. Wehe dem, der dieses Getränk, das in den schwäbisch-sparsam anmutenden winzigen Tassen serviert wird, in Griechenland als „türkischen Kaffee“ bezeichnet. Die Israelis reden wahrscheinlich auch nur dann vom „Kaffee Turki“, wenn sie ihren palästinensischen Freunden beweisen wollen, dass es vor ihnen schon andere Besatzer gab.

Kurz, selbst der Kaffee ist im Orient – pardon, Zypern ist natürlich Europa! – eine politische Ehrensache, wie mir einst ein Gastgeber in Tadmor, dem antiken Palmyra, in der syrischen Wüste anhand eines uralten Beduinensprichwortes erklärte: „Die erste Tasse ist für den Genuss. Die zweite gilt der Gastfreundschaft. Und bei der dritten Tasse zieht man das Schwert!“ Und daran ist mir, der ich aus gut-deutscher pazifistischer Tradition entstamme, natürlich in keiner Weise gelegen. Deshalb komme ich jetzt auch besser zum Schluss und enthalte mich künftig jeglicher unangebrachter Vergleiche – auch wenn sie mir noch so sehr ins Auge springen.

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