Am Morgen danach

Der Krieg ist aus. „Reservisten, Flüchtlinge, Feuerwehrleute und Polizisten, alle gehen nach Hause“, meint der Physiker Michael Cohen, „soweit vom Haus noch etwas übrig geblieben ist“ – spielt er auf die Raketenschäden in Nordisrael an. Und dann zieht der vor zwanzig Jahren nach Israel eingewanderte amerikanische Jude, der selbst jahrelang in der Artillerie seinen Wehrdienst geleistet hat, Bilanz: „Wir haben nicht viel erreicht. Aber wir haben auch nicht viel gemacht.“

Irgendwie gleicht der Gemütszustand der israelischen Gesellschaft nach 32 Kriegstagen dem Kater am Morgen nach einer durchzechten Nacht. Politiker und Militärs bemühen sich zwar, zu erklären, dass der „Krieg im Norden“ tatsächlich mit einem Sieg zu Ende gegangen sei. Aber irgendwie dringt das nicht so recht durch, denn Dan Chalutz hat allen anderen auf der politischen Bühne Israels die Show gestohlen. Ganze drei Stunden nach Kriegsausbruch hatte der Generalstabschef der israelischen Armee am 12. Juli nämlich noch die Zeit gefunden, seine Bank anzurufen und den Verkauf seiner Aktien im Wert von nicht einmal 22.000 Euro anzuordnen.

Bei allem guten Willen will keine Siegesstimmung aufkommen. Daran ist nicht nur die israelische Presse Schuld, die sich, sobald die Waffen schwiegen, an all die Skandale erinnerte, die man während des Waffengangs aufs Regal gestellt hatte: Die angeblichen Schäferstündchen des israelischen Präsidenten Mosche Katzav und ein daraus erwachsener Erpressungsversuch. Der unanständige Kuss, den Justizminister Chaim Ramon einer scheidenden Mitarbeiterin zum Abschied mit auf den Weg gegeben haben soll. Oder auch die Pöstchen-Vergabe des Olmert-Vertrauten Zachi Hanegbi. Generalstaatsanwalt Menni Masus will den Minister im Premierministerbüro wegen Amtsmissbrauchs vor Gericht stellen lassen.

Die letzten Söhne und Familienväter, die im Libanon gefallen sind, sind noch nicht begraben. Viele rückkehrende Flüchtlinge sorgen sich darum, wie sie bis zum Schulanfang im September, bis zur Festzeit und zum Winteranfang ein Dach über den Kopf bekommen. Da verkündet Hisbollah-Chef Scheich Hassan Nasrallah nicht nur einen „strategischen Sieg“, sondern auch, dass der Zeitpunkt für eine Entwaffnung seiner Miliz jetzt noch nicht gekommen sei – eine Forderung Israels, die zu den Grundpfeilern der Waffenstillstandsresolution 1701 gehört.

Überhaupt zerpflücken israelische Kommentatoren die Siegesbeteuerungen ihrer Regierung genauso wie die Resolution 1701 des UNO-Sicherheitsrates. „Wenn Hisbollah und Iran für den Waffenstillstand sind, muss etwas faul daran sein“, meinte eine Auslandsjournalistin schon vor Verkündung der Resolution. Seev Schiff verglich in der Tageszeitung HaAretz die politische und militärische Führung Israels mit einem Boxer, der nach dem K. o. benommen auf dem Boden liegt und zu verstehen sucht, was eigentlich geschehen ist.

Dass der Libanon angekündigt hat, seine Armee werde – erstmals seit 20 Jahren – an die Grenze mit Israel vorrücken, ist kein Trost. Die Überlegung, dass die libanesische Armee sich gegen die Hisbollah stellen könnte, bezeichneten ausländische Journalisten im Libanon als Witz. Wie sollte die nach wie vor von der inneren Zerrissenheit des Libanon und dem Bürgerkriegstrauma gezeichnete Armee anpacken, was die stärkste Armee des Nahen Ostens in drei Wochen heftigen Kämpfen nicht geschafft hat. Dass fünfzig Hisbollah-Kämpfer die israelische Armee allein in Bint Dschbeil zwei Wochen lang hinhalten konnten und jedes „Bint Dschbeil ist gefallen!“ der israelischen Kommandeure mit toten israelischen Soldaten quittierten, ist kein Ruhmesblatt für die israelische Armee. Schon während der Kämpfe wurde Bint Dschbeil als Stalingrad des zweiten Libanonkrieges gehandelt.

Im israelischen Generalstab wird mittlerweile laut überlegt, ob die israelische Armee nicht einige Monate lang im Südlibanon bleiben muss, bis eine multinationale Friedenstruppe dort stationiert sein wird – was den israelischen Alptraum, wieder im Sumpf des Libanon stecken zu bleiben, erschreckend real werden lässt. In Israel hat man wenig Vertrauen in die seit 1978 im Südlibanon stationierte UNIFIL-Truppe, weil sie noch nie Angriffe von palästinensischen oder Hisbollah-Kämpfern auf Israel verhindert hat. Auch die jetzt vorgesehene Aufstockung der UNIFIL auf 15.000 Soldaten wird in Israel sehr misstrauisch gesehen. UNIFIL-Kommandeur Generalmajor Alain Pellegrini meinte auf die Frage, was er denn tun werde, wenn Hisbollah und israelische Armee sich beschießen: „Ich werde die beiden Seiten anflehen, das Feuer einzustellen.“

Und innenpolitisch war der Krieg gegen die Hisbollah ein Desaster für die regierende Kadima-Partei. „Das Konzept eines einseitigen Rückzugs aus dem Westjordanland ist bankrott“, meint der Kadima-Knessetabgeordnete David Tal und schätzt, dass mehr als die Hälfte der Kadima-Abgeordneten nicht mehr hinter den Plänen von Premierminister Ehud Olmert steht. Damit fehlt der Rückzugspartei aber das verbindende Ziel, was gleichbedeutend wäre mit der Legitimation für einen Fortbestand – und die Frage: Was nun, Herr Olmert?

Mit viel Optimismus könnte man noch hoffen, dass die libanesische Bevölkerung und ihre Politiker bemerkt haben, dass der Vernichtungswahn der Hisbollah die Zedernrepublik in den Abgrund treibt. Wenn die Libanesen begreifen, dass sie zwischen Hammer und Amboss sitzen und somit in jedem Falle die Leidtragenden sein werden, und jetzt mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft die Hisbollah-Herrschaft genauso abschütteln, wie sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit die Syrer des Landes verwiesen haben, wäre das ein Licht am Ende des Tunnels. Wenn allerdings schon ein militärisches Kräftemessen zwischen Hisbollah und libanesischer Armee als Witz zu bezeichnen ist, muss sich die libanesische Gesellschaft die Frage gefallen lassen, ob der Herausforderung der radikalen Islamisten auf friedliche Art und Weise Herr zu werden, nicht noch viel schwieriger ist. Manchmal ist der Unterschied zwischen Optimismus und utopischem Wunschdenken leider nur sehr klein.

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