Die Tonscherbe wurde vor einem Jahr auf Tel Kaifa in einer ummauerten Stadt aus der Zeit des Königs Davids gefunden. Am Donnerstag stellten gleich vier israelische Schriftexperten erstmals ihre Versuche vor, die 50 Buchstaben in fünf Zeilen mit einem Trennstrich zwischen den Zeilen zu entziffern. Die Deutung des Textes auf diesem sensationellen Fund war der Höhepunkt eines eintägigen Archäologenseminars in Jerusalem, veranstaltet von der Antikenbehörde und der Hebräischen Universität.
Die Archäologen des historischen Hügels, der auch als erster Beweis für Davids Königreich gilt und auf das Ela-Tal blickt, wo David den Philister Goliath mit einer Steinschleuder getötet haben soll, wie auch die Schriftexperten, die mit der Entzifferung der Scherbe befasst sind, stehen offenbar bei einer ausländischen Fernsehgesellschaft unter Vertrag, weder die Inschrift noch die Umschreibung der Buchstaben zu veröffentlichen. „Die wollten uns daran hindern, die Forschungsergebnisse bei unserer Fachtagung zu veröffentlichen. Aber wir ließen keine Zensur zu“, verriet im Privatgespräch einer der Veranstalter.
„Nach den Vorträgen kamen die zu mir und beschwerten sich darüber, dass da ein Journalist alle auf die Leinwand geworfenen Bilder fotografiert habe“, sagte er schmunzelnd zu jenem Journalisten. Schon vorher hatte die Sprecherin der Altertumsbehörde dringend empfohlen, zu der auf Hebräisch gehaltenen Tagung zu kommen, „denn die Experten stehen unter Vertrag, mit Journalisten nicht zu reden“. Deshalb sei das wissenschaftliche Seminar die einzige Chance, etwas über die Inschrift zu erfahren. Offenbar war sonst kein anderer Journalist im Saal, denn in der israelischen Presse erschien weder eine Abbildung der Inschrift noch ein Bericht über das Seminar.
Eindeutig in Zeit Davids datiert
Die 15 mal 15 Zentimeter große und 6 Millimeter dicke Scherbe mit einem Text in proto-kanaanäischer Schrift (dem Vorläufer aller Alphabete) wurde in einem Zimmer des Kasemattentores der 700 Meter langen Stadtmauer entdeckt. Mit zwei verkohlten Olivenkernen aus dem gleichen Zimmer konnte der Fund mit der C-14 Methode einwandfrei auf die Zeit zwischen 1050 und 965 vor Christus datiert werden. Das ist die Eisenzeit II und entspricht exakt der Zeit des Königs David.
Die Archäologen Saar Ganor und Jossi Gurfinkel behaupteten, dass die befestigte Stadt nicht von Philistern errichtet und bewohnt war, sondern von Israeliten. Der Hügel, von Beduinen bis heute „Chirbet Daud“ (Davids Ruine) genannt, könnte mit dem biblischen Schaaraim („Zwei Tore“) identisch sein. „Wir haben bei der Grabungssaison 2009 ein zweites Stadttor entdeckt. Uns ist keine andere Stadt aus jener Periode mit mehr als einem Stadttor bekannt“, sagte Ganor. Zu den wichtigeren Kleinfunden zählte Ganor einen Stempel mit der Abbildung eines Löwen, der sich an einen Lebensbaum anlehnt. Die Forscher können diese Abbildung noch nicht deuten.
Die Schriftforscher Chagai Misgav, Ada Jardeni, Aahron Damski und Schmuel Ahituv präsentierten nacheinander ihre Lesart der rund 50 Buchstaben in fünf Zeilen. 30 bis 40 Buchstaben seien „klar“, sagt Misgav, und müssten von links nach rechts gelesen werden. Jardeni schlägt vor, den gleichen Text von rechts nach links zu lesen. Achituv glaubt, die Buchstaben – wie bei einem japanischen Text – von oben nach unten lesen zu müssen. Als Argument erwähnt er den Buchstaben „Alef“. Der kommt mehrfach vor: aufrecht, auf dem Kopf stehend und liegend. Offen bleibt, ob es ein magischer Text sei, eine Schreibübung, eine Auflistung von Worten, wie es sie auch in der Bibel gebe oder die Vorlage für eine monumentale Inschrift. Jardeni fragte sich, was eine solche Inschrift in einem „privaten Zimmer“ zu suchen habe.
Das israelische Publikum konnte problemlos den widersprüchlichen Thesen folgen. Denn die Buchstaben des ältesten Alphabets, aus dem später die lateinische, russische, arabische und griechische Schrift entstanden, sind dem modernen Hebräisch erstaunlich ähnlich. Und die entzifferten Worte versteht in Israel jedes Kind.