Die meisten Touristenbusse fahren auf der Autobahn in Richtung Tel Aviv an dem malerischen Dorf Abu Ghosch vorbei, das sich westlich von Jerusalem ins judäische Bergland schmiegt. Legendär ist die Elvis-Tankstelle, auf der Tag und Nacht die Stimme des Altrockstars aus Lautsprechern tönt. Seit Mitte der 90er Jahre zieht das „Abu Ghosch Musikfestival“ zu den jüdischen Festen Schawuot und Sukkot Tausende von Besuchern an. Unter Israelis ist die arabische Ortschaft Abu Ghosch vor allem aber als „Mekka der Gaumenfreuden“ bekannt und beliebt, das heißt für seine orientalischen Restaurants.
Zur Zeit des Alten Testaments lag hier die Ortschaft Kirjat Jearim. Die Römer hatten ein Jahrtausend später ihre 10. Legion in der Gegend stationiert und 1099 soll Richard Löwenherz von Abu Ghosch aus seinen ersten Blick auf Jerusalem geworfen haben. Im zwölften Jahrhundert meinten die Kreuzfahrer dann das neutestamentliche Emmaus gefunden zu haben – und bauten ihre Auferstehungskirche. Eine moderne katholische Kirche, von französischen Ordensleuten betreut, steht heute an der Stelle, an der die Bundeslade zwei Jahrzehnte lang gestanden haben soll, bevor König David sie in seine Hauptstadt Jerusalem überführte.
„Abu Ghosch bestimmt die Tore Jerusalems.“ Das erkannte nicht nur der ehemalige israelische Staatspräsident Jitzhak Navon. Die strategisch wichtige Lage am Westzugang von Jerusalem bestimmte die Geschichte des Ortes. Wer nach Jerusalem will, muss an Abu Ghosch vorbei, denn das Dorf beherrscht das „Bab el-Wad“, das „Tor zur Schlucht“ oder „Scha’ar HaGay“, wie es heute auf hebräisch genannt wird.
Das hatte auch ein kaukasischer Söldner erkannt, der sich im 16. Jahrhundert in der Gegend niederließ und dem Dorf seinen Namen gab. Subhi Salah, der gerade das neue Restaurant „Ne’urah“ eröffnet, erzählt mir die Geschichte seines Stammes, während ich mir die Lammrippchen schmecken lasse. Die ungefähr 6.000 muslimischen Einwohner sind fast alle direkte Nachfahren des alten Abu Ghosch – eine Tatsache, die mittlerweile in einer genetischen Studie wissenschaftlich nachgewiesen wurde.
„Abu Ghosch“ ist derjenige „der viel Lärm macht“. Subhi Salah, der nach seinem ältesten Sohn auch „Abu Abed“ genannt wird, druckst herum. „Die waren nicht in Ordnung“, erzählt er über seine Vorväter und sieht mich prüfend von der Seite an. Als er merkt, dass mir Räubergeschichten Spaß bereiten, erzählt er bereitwillig, dass sich Abu Ghosch im Laufe der Jahrhunderte einen Namen als Nest von Wegelagerern gemacht hat. Wer nach Jerusalem wollte, musste hier Wegezoll bezahlen. Die Leute von Abu Ghosch beherrschten die umliegenden Dörfer – was offensichtlich nicht zu ihrer Beliebtheit beitrug.
Vom Stammvater Abu Ghosch erzählt man sich, dass er jedes Jahr eine neue Braut geraubt habe. Kein schönes Mädchen im judäischen Bergland war vor ihm sicher. Das ging so lange, bis er eines Tages mit seiner Meute in der Nähe des heutigen Latrun auf die zornige Mutter eines Mädchens stieß, die ihm Paroli zu bieten wusste. Lachend erzählt Subhi Salah, dass die Matrone den Männern von Abu Ghosch vollkommen nackt entgegen gegangen sei. Da hätten sich die Mädchenräuber dann doch geschämt und sie aufgefordert, sich zu kleiden. „Solange nur Weiber in der Nähe sind,“ erwiderte die zornige Mutter, „brauche ich mich nicht anzuziehen – und Leute, die Mädchen rauben, können keine Männer sein…“ Zutiefst in ihrer Ehre gekränkt, seien die Leute von Abu Ghosch abgezogen.
Zur Zeit der osmanischen Herrschaft wurde der Muchtar von Abu Ghosch zum Steuereintreiber und Herrscher der umliegenden Dörfer, bis er es gegen Ende der Türkenzeit gar zum Gouverneur von Jerusalem brachte.
Während der Unruhen in der britischen Mandatszeit und dann vor allem im israelischen Unabhängigkeitskrieg, bewahrte das Dorf eine einzigartige Neutralität und seine guten Beziehungen zu den benachbarten jüdischen Kibbutzim Kirjat Anavim und Ma’aleh HaChamischah. Von den 36 arabischen Dörfern, die es 1947 in dieser Gegend gab, existiert nur noch Abu Ghosch, „weil es gewagt hat, anders zu sein.“ Die Leute von Abu Ghosch sind stolz auf ihre Geschichte. „Wenn sich alle so verhalten hätten, wie wir, gäbe es heute kein Flüchtlingsproblem.“
Abu Ghosch ist ein Zeugnis dafür, dass sich unkonventionelle Kooperationsbemühungen im blutigen Wirrwarr des Orients bezahlt machen. Subhi Salahs neues Restaurant trägt den Namen „Na’urah“ nach dem Wasserrad, das im Vorgarten des Anwesens steht. „Na’urah“ heißen die Wasserräder, mit denen im Orontestal in Syrien das kostbare Nass auf die höher gelegenen Felder geschöpft werden. Im syrischen Hama sind die „Nurias“, wie sie dort genannt werden, bis zu zwanzig Meter hoch und Jahrhunderte alt. Die „Na’urah“ in Abu Ghosch ist ein Geschenk des syrischen Präsidenten Baschar el-Assad an die Familie Salah, mit der ihn eine jahrelange Freundschaft verbindet.
Gideon Esra, Israels Tourismusminister und ehemaliger Vize-Geheimdienstchef, bezeichnete bei einem Besuch des Restaurants „Ne’urah“ das syrische Wasserrad als Ausdruck eines einzigartigen jüdisch-arabischen Zusammenlebens, der für Abu Ghosch typisch sei. Subhi Salah sieht das etwas nüchterner: „Mein Vater ist hier geboren. Ich bin hier geboren. Hier ist unser Leben.“ Mit einer alten arabischen Weisheit bringt Abu Abed das Geheimnis des Überlebens der Wegelagerernachfahren an der Autobahn Jerusalem-Tel Aviv auf den Punkt: „Man spuckt doch nicht in den Brunnen, aus dem man trinkt.“