Die Parascha bestimmt die Lesung, die Gespräche und Auslegungen an den Sabbaten und den jeweils vorhergehenden Wochen. Manchmal wird, wie in diesem Fall, auch eine öffentliche Diskussion entfacht, wenn die aktuelle Lage dazu einen Anlass bietet. Die Parascha für den kommenden Sabbat (9. Januar 2010) trägt den Namen „Schemot“ und steht in 2. Mose 1,1-6,1.
Das 1. Buch Mose beschreibt die Erschaffung der Erde und das Entstehen einer Großfamilie. Das 2. Buch Mose schildert nun die Werdung eines Volkes. Doch schon bevor aus einem Sklavenheer eine Nation werden konnte, schmiedet der König von Ägypten Pläne, das Volk zu vernichten. Zur Einzigartigkeit Israels gehört, dass es sich von Beginn seiner Existenz an einem erklärten Vernichtungswillen ausgesetzt sieht. Eine entscheidende Rolle im Plan des ägyptischen Königs spielen die beiden Geburtshelferinnen Schifra und Pua. Der Pharao befiehlt ihnen, neugeborene Jungen sofort nach der Geburt zu töten. „Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte“ (2. Mose 1,17).
Obwohl es im biblischen Text eindeutig um die Ermordung von Neugeborenen geht, spricht und schreibt im modernen Israel dieser Tage, in denen die „Paraschat Schemot“ gelesen wird, alles über Abtreibungen. Im Radio erzählen junge Frauen, wie sehr sie ihre Abtreibung bereuen – und machen Werbung für die orthodoxe Anti-Abtreibungsorganisation „Efrat“. „Abtreibungen verzögern die Erlösung“ titelt die linksliberale und säkulare Tageszeitung „Ha´aretz“. In einem Schreiben an örtliche Rabbiner hatten die Oberrabbiner Israels darauf hingewiesen, dass jedes Jahr im jüdischen Staat 50.000 Babys abgetrieben werden. 20.000 dieser Abtreibungen sind laut den Abtreibungsgegnern von „Efrat“ illegal und unnötig. Die obersten geistlichen Vertreter des jüdischen Volkes bezeichnen es als „wahre Epidemie, dass Tausende von jüdischen Leben jedes Jahr verloren gehen“. Und: „Abgesehen von dem Vergehen zögert das die Erlösung hinaus!“
Heutige Geburtshelfer nicht mehr mutig
Durch die bewusste Parallele mit dem biblischen Text suggerieren die Rabbiner: So wie einst der ägyptische Pharao das Volk Israel durch Säuglingsmord zu vernichten suchte, bedrohen heute Wohlstand, Anspruchsdenken und Assimilation das jüdische Volk durch Abtreibungen. Aber im Gegensatz zu den mutigen Hebammen in der Antike stellen sich heute die Geburtshelfer dem Herrschaftsanspruch und Vernichtungswillen des „Pharao“ kaum entgegen. Die Abtreibungsgegner von „Efrat“ retten nach eigenen Angaben 4.000 bis 5.000 Babys pro Jahr durch Bereitstellung von finanzieller und psychologischer Unterstützung.
Die Oberrabbiner, Schlomo Amar und Jona Metzger, fordern in ihrem Schreiben die Rabbiner Israels auf, in den Sabbatpredigten zu betonen, dass Abtreibungen nach jüdischem Gesetz ein schwerwiegendes Vergehen sind. Ein „Anti-Abtreibungsrat“ unter Leitung des Rabbiners Jehuda Deri aus der Wüstenstadt Be´er Scheva soll gestärkt werden. Deri ist in den vergangenen Monaten vor allem deshalb bekannt geworden, weil ihn die messianisch-jüdische Gemeinde in Be´er Scheva wegen seiner anti-missionarischen Aktivitäten vor Gericht angeklagt hat. Die Aussage, dass Abtreibungen die Erlösung hinauszögerten, leiten die orthodoxen Rabbiner von einer Aussage des Talmud ab, der im Traktat Nidda erklärt, die Geburt eines jeden Kindes bringe die Erlösung näher.
Kritik von Frauenorganisationen
Ronit Ehrenfreund-Cohen verurteilt den Rabbinerbrief als „Verletzung des Wesens und der Werte der Gesellschaft und des Landes, in dem wir leben, und das auch ihre Gehälter bezahlt“. Ehrenfreund-Cohen leitet die Frauenrechtsabteilung der internationalen zionistischen Frauenorganisation WIZO (Women’s International Zionist Organisation). Irit Rosenblum, Leiterin der Organisation „Neue Familie“, wehrt sich gegen den religiösen Einfluss in Fragen der Ehe und Geburt. Zornig wirft sie einem „Haufen von Männern“ vor, Frauen vorschreiben zu wollen, „was sie mit ihrem Körper tun müssen“.
Hintergrund für diese innerjüdische Diskussion sind nicht nur ethische Überlegungen zur Abtreibung, die im orthodoxen Judentum ohnehin liberaler sind, als etwa bei konservativen Christen, sondern auch die demografische Entwicklung in Israel. Orthodoxe Rabbiner erlauben Abtreibungen nicht nur, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist, sondern auch in extremen Notsituationen. Messianische Juden, die in Jesus Christus den Messias Israels erkennen, teilen die ethischen Richtlinien konservativer Christen und lehnen Abtreibungen grundsätzlich ab. Durch die Organisation „Be´ad Chaim“ (übersetzt „Für das Leben“) engagieren sich messianische Juden in der israelischen Gesellschaft gegen Abtreibungen.