Die Zeitbombe tickt

Acht Schiffe und 1.000 Soldaten der Bundesmarine sind im östlichen Mittelmeer eingetroffen, um vor der libanesischen Küste zu verhindern, dass illegal Waffen in das Krisenland Libanon gelangen. Doch dass erstmals deutsches Militär in unmittelbarer Nachbarschaft des jüdischen Staates im Einsatz ist, berührt die israelische Öffentlichkeit nur peripher. In Israel wird die Bundesrepublik Deutschland als verlässlichster Freund nach den USA anerkannt. Außerdem ist die 340 Kilometer lange libanesisch-syrische Grenze, die vornehmlich durch unwegsames Bergland verläuft und als Schmugglerparadies gilt, das eigentliche Problem für diejenigen, die ein Rüstungsembargo gegen die Hisbollah durchsetzen wollen.

Viel Diskussionsstoff liefert dagegen die Nahostvisite der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice. Experten aus der Politik, dem Militär und ehemalige Geheimdienstler überlegen krampfhaft, welche Ergebnisse der Besuch zeitigen könnte, welche Erfolge die dynamische Politikerin vorzuweisen haben wird. Die Ratlosigkeit wird wortreich vom Tisch gewischt. Man einigt sich: „Condi“ ist interessiert, sie engagiert sich – auch wenn sie ganz offensichtlich keinen Plan hat. Und wenn sie einen hätte, bliebe noch immer die Frage offen, ob die Menschen vor Ort bereit wären, ihn wohlwollend zu erwägen. Nur zu deutlich haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die Einflussmöglichkeiten des Westens auf das, was man mancherorts noch träumerisch „Nahostfriedensprozess“ nennt, äußerst eingeschränkt sind.

In den palästinensischen Gebieten werden deutliche Worte laut. „Rice ist der Hamas nicht willkommen“, meint ein Sprecher der regierenden Islamischen Widerstandsbewegung und erklärt: „Ihr Besuch zielt lediglich darauf ab, den Palästinensern israelische und amerikanische Wünsche aufzuzwingen.“ In Richtung auf die vom Westen bevorzugte Fatah-Bewegung und den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas meint Hamas-Führer Chalil Abu Leila: „Alle Zugeständnisse der Palästinenser an Israel sind vom Winde verweht. Zehn Jahre nach Oslo wird die Situation immer schlechter.“ Der gemeinhin „Abu Masen“ genannte Palästinenserpräsident ist wie kein anderer Symbolträger der Verträge von Oslo, die er – und nicht Jasser Arafat – im Namen der PLO unterzeichnet hat. Im Blick auf die Zukunft stellt Abu Leila fest: „Es gibt keine neuen Initiativen!“

Die Palästinenser stehen am Rande eines Bürgerkriegs. Daran ändert weder das Bedauern von Frau Rice etwas, noch die verzweifelten Ultimaten des Herrn Abbas. Mehr als zehn Palästinenser sind der innerpalästinensischen Gewalt in der ersten Oktoberwoche schon zum Opfer gefallen, Dutzende wurden verletzt. „Ich werde einen Bürgerkrieg nicht zulassen!“, ruft Premierminister Ismail Hanije in das zunehmende Chaos seiner Selbstverwaltung, lässt dabei aber die Frage unbeantwortet, wie viel Macht er tatsächlich hat. Über das Schicksal des im Juni entführten israelischen Soldaten entscheidet offensichtlich nicht er, sondern sein Rivale, Hamas-Politbürochef Chaled Mascha´al im Exil in Damaskus. Mit Gilad Schalit hält Mascha´al den gesamten politischen Prozess als Geisel. Jede bedeutungsvolle Geste Israels zur Stärkung von Abbas, sei es die Freilassung von palästinensischen Gefangenen oder ein weiterer Rückzug, muss als Erfolg der Radikalen verstanden werden. Humanitäre Maßnahmen, wie Condoleezza Rice sie zugesagt hat, sind immer gut – aber die Palästinenser wollen nicht nur würdelos abgefüttert werden. Sie wünschen eine grundlegende Veränderung ihrer Lebensbedingungen.

In Israel bemüht man sich derweil noch immer, die Ergebnisse des zweiten Libanonkrieges zu verdauen und irgendwie einen Sieg zu erkennen. Keines der offiziell erklärten Kriegsziele wurde erreicht. Die beiden Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev sind noch immer gefangen. Die Hisbollah ist nach wie vor funktionsfähig und hat bis zum letzten Kriegstag Hunderte von Raketen auf Israel abgefeuert. Miri Eisin, Sprecherin von Premierminister Ehud Olmert, tut sich schwer, die Tatsache, dass die libanesische Armee jetzt doch erstmals seit 1968 wieder an der Südgrenze ihres Landes steht, als Erfolg zu verzeichnen. „Libanesische – und nicht Hisbollah-Flaggen wehen am Grenzzaun“, meint Eisin, und das Wichtigste ist: „Der Krieg hat ans Licht gebracht, was bis dato verborgen war: Die Iran-Frage.“

Darüber, dass das verborgene Potential des Iran ans Licht gekommen ist, freut sich nicht nur Israel. Das Stillschweigen der Arabischen Liga während des Krieges war ohrenbetäubend. Nicht nur in Jordanien, Ägypten und Saudiarabien hat man sich hinter verschlossenen Türen die Hände gerieben, weil der iranische Einfluss eine entscheidende Schlappe hinnehmen musste, sondern möglicherweise auch in Syrien. Das Bündnis der säkularen Alawiten-Diktatur in Damaskus mit Teheran ist keine Liebesehe, sondern ein Zweckbündnis gegen die verhasste „zionistische Größe“. Und dass Israel so ganz nebenbei auch nicht ungeschoren davon gekommen ist, dürfte keinem der arabischen Beobachter unrecht gewesen sein. Dass Israel jetzt einen Schulterschluss mit „gemäßigten“ arabischen Staaten, möglicherweise sogar Saudiarabien, sucht, darf niemanden verwundern. Der gemeinsame persische Feind macht’s möglich. Über ein israelisch-saudisches Treffen im Umfeld der UNO-Generalversammlung will sich kein Insider äußern. Aber, so meinen israelische Experten, „wo Rauch ist, muss auch irgendwo ein Feuer sein“ – selbst wenn das „Feuer“ sich letztendlich nur als Hoffnungssuche israelischer Journalisten herausstellen sollte.

Als eines der größten „Opfer“ des zweiten Libanonkrieges dürfte wohl jeder weitere einseitige Rückzugplan Israels gelten. Alle drei israelischen Soldaten wurden an Stellen entführt, an denen sich Israel auf die international geforderten Grenzen zurückgezogen hatte. Sie wurden von israelischem Staatsgebiet über eine international anerkannte Grenze hinweg verschleppt. Der Vorsitzende des Außen- und Sicherheitskomitees in der Knesset, Zachi Hanegbi, meint unumwunden: „Der Rückzug aus dem Gazastreifen war ein Fehler!“ Hinzu kommt, dass nach wie vor die überwiegende Mehrheit der entwurzelten Siedler arbeitslos ist und keiner von ihnen bislang seine endgültige Wohnung beziehen konnte. Wie sich die Rückzugspartei „Kadima“ unter diesen Vorzeichen neu definiert, bleibt abzuwarten.

Wie soll es weitergehen? Ehud Barak hatte bereits im Sommer 2000 die Schmerzgrenze der israelischen Öffentlichkeit überschritten, als er Jasser Arafat mehr als 90 Prozent der besetzten Gebiete für einen Staat anbot. Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre gibt es in Israel keine Mehrheit für weitere Zugeständnisse im Austausch für (leere) Versprechungen. Die palästinensische Öffentlichkeit wird sich andererseits nur schwer eingestehen können, dass sechs Jahre Intifada mit 4.348 Toten und fast 31.000 Verletzten umsonst waren. Die große Herausforderung für Politiker und Diplomaten ist jetzt, den Realitäten ins Auge zu sehen und einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden.

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