Bürgerkrieg liegt in der Luft

Die Straßen in Gaza-Stadt werden immer schlechter. Das hindert den Taxifahrer Fathi nicht daran, seinen dunkelblauen, überlangen Mercedes mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das chaotische Verkehrsgewühl zu jagen. Ungewöhnlich respektvoll hält er an der ersten roten Ampel. „Das ist unsere neue Polizei“, erklärt er und zeigt auf die vier uniformierten Angehörigen der Issadin-Al-Kassam-Brigaden, die an jeder Kreuzung stehen, das AK47-Schnellfeuergewehr im Anschlag.

Die Hamas-Regierung zeigt ihre Macht jetzt öffentlich und hat ihren militärischen Arm erstmals in Gazastadt für alle sichtbar aufmarschieren lassen. Die Stadt wimmelt von Polizisten aller Couleur und Waffen aller Art. Jeder trägt seine Macht zur Schau, seien es eine einfache Pistole, automatische Gewehre vom Typ „Kalatschnikov“ oder „M-16“, Panzerabwehrraketen, die auf der Schulter getragen werden, oder auch auf Jeeps und Pickups fest installierte schwere Maschinengewehre. Die Spannung liegt zum Greifen in der Luft.

An einer Kreuzung in den engen Gassen des Stadtteils Rimal geht nichts mehr. Kreuz und quer stehen die verbeulten Autos, teure Luxusfahrzeuge, uralte, abenteuerlich schief hängende Lastwagen und Eselskarren ineinander verkeilt. Fathi meint, eine Abkürzung nehmen zu können und überholt zu allem Überdruss auch noch. Er springt aus dem Wagen und schreit einen Verkehrsteilnehmer an, der nach europäischem Empfinden eigentlich im Recht gewesen wäre. Es kommt fast zur Schlägerei. Doch schließlich löst sich das Knäuel, und Fathi kehrt wutschnaubend auf seinen Fahrersitz zurück: „Jeder Hund von der Fatah ist besser als ein Scheich von Hamas.“

Überhaupt halten die Anhänger der Fatah-Partei von Präsident Mahmud Abbas nur schwer mit ihrer Meinung hinter dem Berg – und das trotz der allgegenwärtigen, schwer bewaffneten Hamas-Miliz. „Wir brauchen nur eine Polizei“, meint Muhammad, der Pizza-Verkäufer, und vor der Statue des vermissten Soldaten zeigt ein Mann mit traurigem Gesicht ein Plakat mit Bildern eines palästinensischen Polizisten, der von der Hamas grausam zu Tode gefoltert worden sein soll.

An einer kleinen Bude am Rande der Hauptgeschäftsstraße Omar al-Muchtar bietet Abdallah den Passanten Tee und Wasserpfeifen an. „Wir bräuchten einen Hitler, der hier endlich einmal für Ordnung sorgt“, schnaubt er. „Die Hamas sind schlimmere Terroristen als die Israelis.“ Den Einhundertschekelschein kann er nicht wechseln. „Ich habe kein Geld mehr!“ In der Dialyseabteilung des Schifa-Krankenhauses ist die Finanznot für die Patienten zu einer Existenzfrage geworden. Chefpfleger Chaled Assissi meint: „Wir haben keine Filter mehr, und selbst sterile Schläuche für die Dialyseapparate fehlen.“

In der Al-Quds-Bank wechselt der Bankdirektor persönlich den Einhundertschekelschein, der umgerechnet keine zwanzig Euro wert ist. Gleichzeitig packt ein junger Mann aus einem Plastikbeutel ein Bündel von 200-Schekel-Scheinen nach dem anderen auf den Tisch. Auf die Frage, ob sich der Finanzboykott des Westens nicht schmerzhaft bemerkbar macht, meint der Financier lächelnd: „Es wird gut werden. Allah wird uns helfen.“ Die Anhänger der Hamas begegnen der verzweifelten Wut ihrer politischen Gegner mit ruhigen, siegessicheren Bemerkungen.

So auch Premierminister Ismail Hanije. Die Stationierung seiner 3.000 Mann starken Streitkräfte in aller Öffentlichkeit rechtfertigt er als Unterstützung im Kampf gegen das Chaos und behauptet, alles geschehe „im Einklang mit dem Gesetz. Diese Sicherheitskräfte richten sich gegen niemanden. Sie stehen im Widerstand an forderster Front und schützen das Land und die Sicherheit.“

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas kontert dagegen während eines Besuches im benachbarten Jordanien, dass die uniformierten Issadin-Al-Kassam-Brigaden illegal seien und ohne seine Genehmigung nicht operieren dürften. Der altbekannte Chefunterhändler Saeb Erekat bezeichnet die Situation als besorgniserregend. Und der Kommandeur der Fatah-Sicherheitskräfte im Gazastreifen, General Suleiman Hilles, betont, dass nur die palästinensische Polizei für Recht und Ordnung sorgen könne.

Noch stehen Dutzende von Hamas- und Fatah-Kämpfern bunt gemischt um das Hauptquartier der palästinensischen Sicherheitskräfte in Gaza-Stadt. Manche reden miteinander und schlürfen den heißen Tee. Doch die Wächter, die sonst verschlafen auf ihren Wachtposten sitzen, haben die Waffen im Anschlag. Und die Spannung zwischen Hamas und Fatah ist bereits aus dem Gazastreifen auf das Westjordanland übergeschwappt. In Tulkarm haben wütende Fatah-Anhänger durch Schüsse in die Luft ein Treffen des stellvertretenden Premierministers Nasser Schaer mit dem Gouverneur der Stadt vorzeitig aufgelöst. Polizeikräfte mussten den Hamas-Politiker aus dem Gebäude des Gouverneurs eskortieren.
(Foto: Gerloff)

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