Wild gestikuliert der palästinensische Polizist auf dem Fußgängerüberweg am Al-Manara-Platz im Zentrum von Ramallah. Der Fußgängerstreifen ist nicht der einzige in der palästinensischen de-facto-Hauptstadt – aber gewiss der einzige, der seinen eigenen Polizisten hat. Die Autofahrer bremsen, sobald die Autorität gebietende Uniform des engagierten Ordnungshüters ins Blickfeld kommt, fahren dann aber gemächlich an ihm vorbei. Der Polizist, bei dem nicht ganz klar ist, ob er betrunken oder nur verrückt ist, ist der einzige, der sich am Wahltag aufregt.
Wenige Meter entfernt stehen gelangweilt eine ganze Reihe von Fahrzeugen der palästinensischen Sicherheitskräfte, die an diesem Tag eine Sondergenehmigung der israelischen Armee haben, Waffen öffentlich zu tragen. Die Polizisten ignorieren ihren eigenartigen Kollegen. Ein holländischer Fernsehjournalist winkt gelangweilt ab: „Wir haben ihn schon gefilmt.“ Auch der Berichterstatter des amerikanischen Nachrichtensenders CNN findet kein aufregenderes Motiv als die Hunderte von Wahlplakaten, die an jede nur denkbare Fläche geklebt sind, um seine Reportage zu illustrieren.
Dabei ist die Szene des verrückten Polizisten und seiner wegsehenden Kollegen in gewisser Weise typisch für den Zustand in den palästinensischen Autonomiegebieten. Korruption, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Familienclans oder kriminellen Banden, himmelschreiende Armut und protzender Reichtum direkt nebeneinander sind unübersehbar und werden auch kaum mehr geleugnet. Die Ordnungskräfte und Verantwortlichen in der Regierung sehen weg – soweit sie nicht selbst aktiv am Schlamassel beteiligt sind.
Im Vorfeld der Wahlen war es mehrfach zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen, die einer unbekannten Anzahl von Palästinensern das Leben gekostet hat. Am bekanntesten wurde der Fall von Achmed Jussef Abdel Dschabbar Hassuna aus dem Viertel Raffidijeh in Nablus. Zwei Tage vor der Wahl hatte er das Bild seines Kandidaten, Ghassan El-Schaka von der Fatah, an die Wand seines Hauses geklebt. Nachdem er einer Drohung, das Plakat zu entfernen, nicht nachgekommen war, versuchte er in der darauffolgenden Nacht eine Gruppe von Bewaffneten daran zu hindern, das Wahlplakat herunterzureißen. Kurzerhand töteten sie Hassuna mit einem Kopfschuss.
Im Hauptwahllokal in der Mukata’a, dem Amtssitz des Präsidenten, fotografieren sich amerikanische Wahlbeobachterinnen gegenseitig. Wähler sind weit und breit nicht zu sehen. An den Tischen und durchsichtigen Urnen sitzen die Wahlhelfer, fertig zur Aktion. „Heute Morgen, als der Präsident gewählt hat, waren viele Leute hier“, erklärt der Wahlleiter dienstfertig, „viele Journalisten.“
Dabei war die Wahlbeteiligung außerordentlich gut. Immerhin ist dies der erste Urnengang seit zehn Jahren, bei dem die Zusammensetzung des Palästinensischen Legislativrates (PLC) festgelegt werden soll. Kurz nach Schließung der Wahllokale berichtet die palästinensische Nachrichtenagentur Ma’an aus dem Gazastreifen eine Wahlbeteiligung von 76,8 Prozent, aus dem Westjordanland von 62,5 Prozent und aus Ostjerusalem von 40 Prozent. Allerdings hatten sich von den 120.000 palästinensischen Einwohnern Jerusalems nur 6.300 für die Wahlen registrieren lassen – ein Phänomen, das auch Faris Schukeirat vom Büro der Zentralen Wahlkommission im Nordjerusalemer Stadtteil A-Ram nicht befriedigend erklären kann.
Aus 728 Kandidaten haben die Palästinenser im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem am 25. Januar 2006 132 PLC-Abgeordnete gewählt. Die Aufgabe des PLC ist es, die Gesetze zu verabschieden, die das Leben in den Palästinensischen Autonomiegebieten regeln, und die Autonomieregierung zu stellen und zu kontrollieren. Fast 60.000 Polizisten hatten ihre Stimme schon in der Woche vor dem Wahltag abgegeben, um während der Wahlen für Ruhe und Ordnung sorgen zu können.
Allgegenwärtig sind die Idole der Palästinenser, Jasser Arafat und Scheich Achmed Jassin. Die Wahlplakate vermitteln den Eindruck, als stünden sich die beiden alten Herren direkt im Wahlkampf gegenüber. Jasser Arafat, Gründer der Fatah-Bewegung und erster Palästinenserpräsident, starb aus einer bislang geheim gehaltenen Ursache am 11. November 2004. Scheich Jassin, Gründer und geistlicher Führer der Hamas-Bewegung, war ein halbes Jahr vorher, am 22. März, einem israelischen Raketenangriff zum Opfer gefallen.
„Abu Amar war wie ein Vater!“ Mit Tränen in den Augen schwärmt der 50-jährige Isa Dscharadad von Arafat, während aus dem alten Kassettenrekorder unter dem vergilbten Bild des Freiheitskämpfers seine Stimme die alten Parolen verkündet, die dem palästinensischen Volk in Fleisch und Blut übergegangen sind: „Mit Millionen von Märtyrern marschieren wir nach Jerusalem!“
Die martialischen Kriegsrufe des Abu Amar und Dscharadads Bewunderung für ihn sind allerdings kein Widerspruch dazu, dass Isa Dscharadad, der gemeinhin nur Abu Rami genannt wird, zu den gemäßigten seines Volkes zählt. Der Vater von sechs Kindern bekennt sich offen zur Fatah-Bewegung, erklärt die Intifada – den Palästinenseraufstand – für beendet und denkt, dass Abu Masen, der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, Recht hat, wenn er gegen Terror und Gewalt vorgeht.
„Frieden“ will Dscharadad und „endlich wieder einmal die Verwandten in Jaffa und Haifa besuchen“ können. Als politische Lösung schlägt er einen gemeinsamen Staat für die beiden Völker, Juden und Araber, vor, ohne dabei zu bedenken, dass die bi-nationale Lösung aus Sicht der jüdischen Israelis angesichts der hohen Geburtenrate unter den Palästinensern das Gespenst birgt, zur jüdischen Minderheit in einem islamischen Staat zu werden.
Der 30-jährige Ra’ad will weder seinen Familiennamen nennen noch sich von Journalisten fotografieren lassen. „Hamas ist das Beste für das palästinensische Volk“, meint er, „weil sie von den Amerikanern keine zwei Millionen Dollar angenommen haben“, und spielt damit auf die allseits bekannte Hilfeleistung aus dem Ausland für den Wahlkampf der Fatah an. Er befürchtet, „dass die Palästinensische Autonomiebehörde nachts kommen und die Stimmzettel verändern wird“.
Aber das wird nach Ansicht von Ra’ad, der in Hebron Parfüm verkauft, nichts daran ändern, dass die Herrschaft über die Palästinenser ausgewechselt werden wird. „Vielleicht wird Hamas dieses Mal nur 25 Sitze im PLC gewinnen. In vier Jahren werden sie das ganze Parlament bestimmen. Mein Gott wird alles verändern!“, gibt er sich zuversichtlich. Wie viele seiner Landsleute sehnt er sich nach einem Ende des Chaos und der Besatzung. Auf die Frage, was er sich für die Zukunft wünscht, antwortet er kurz und bündig: „Allah karim! – Allah ist groß!“
(Foto: Johannes Gerloff)