Wahlstimme als Mittel Allahs – Am Vorabend der Parlamentswahlen in der Palästinensischen Autonomie

Die Familie Abu Saada lebt in zwei unbeheizten Räumen, die direkt neben Wohnzimmer und Küche des einfachen Hauses im Ortskern des Dörfchens Illar in den Bergen von Samaria liegen. Die Hände des 50-jährigen Amin Abu Saada sind von schwerer Landarbeit gezeichnet. Seine Frau Amina ist eine freundliche Bergbäuerin. Das Interesse der Weltpresse richtete sich auf diese Leute, nachdem sich ihr Sohn Lutfi Abu Saada am 5. Dezember 2005 vor einem Einkaufszentrum der israelischen Küstenstadt Netanja in die Luft gesprengt und ein Blutbad mit fünf Toten und 50 Verletzten verursacht hat.

„Meine Stimme ist ein Mittel, das Allah benutzen wird, um den schlechten Legislativrat zu verändern.“ Mit ruhiger Stimme erklärt Amin Abu Saada, warum er sich an den Parlamentswahlen in der Palästinensischen Autonomie beteiligen wird. Er redet von Korruption und Uneinigkeit, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit, die ihn bedrücken – und hofft auf das Gute und den Wohlstand, die Sicherheit und den Frieden durch die Neuwahlen. „Natürlich werden wir Hamas wählen“, gibt er ganz unverhohlen zu, „weil die so wahrhaftig und ehrlich sind!“

In 16 Wahlbezirken im Gazastreifen und im Westjordanland wählen am 25. Januar 2005 fast 1,5 Millionen wahlberechtigte Palästinenser den Palästinensischen Legislativrat (PLC). Von den 132 Abgeordneten wird eine Hälfte über nationale Listen, die andere Hälfte über lokale Direktmandate in das palästinensische Parlament einziehen. Die Legislaturperiode beträgt vier Jahre – obwohl die 88 Abgeordneten des ersten PLC fast zehn Jahre amtierten, seit die Legislative der Palästinensischen Autonomie 1995 durch das als „Oslo II“ bekannt gewordene Taba-Abkommen geschaffen wurde.

Bei der Wahl für den PLC gibt es eine Frauenquote – etwa 17 Frauen sollen allein über die Landeslisten in das Parlament einziehen – und sechs Mandate sind für christliche Palästinenser reserviert. Wie bei früheren Urnengängen wird jeder Wähler, der seine Stimme abgegeben hat, einen Finger blau gefärbt bekommen. Hunderte von Wahlbeobachtern aus aller Welt sollen einen korrekten Wahlverlauf garantieren.

Die israelische Armee hat für die Wahltage versprochen, keine Razzien in den palästinensischen Autonomiegebieten durchzuführen. Lediglich militante Aktivisten, die eine unmittelbare Bedrohung für Israel darstellen, sollten abgefangen werden. Im Rahmen der Operation „Weißer Winter“ sollen sich palästinensische Fahrzeuge, die im Rahmen der Wahl unterwegs sind, frei zwischen den einzelnen Autonomiestädten bewegen können.

Gleichzeitig sind allerdings israelische und palästinensische Sicherheitskräfte in erhöhter Alarmbereitschaft, weil am Wahltag gewaltsame Ausschreitungen befürchtet werden. Die 60.000 Polizisten der Palästinensischen Autonomiebehörde haben schon ein paar Tage vorher ihre Stimmen abgegeben, um am Wahltag uneingeschränkt für die Sicherheit geradestehen zu können. Vor allem von Seiten der Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, einer radikalen Abspaltung der Fatah-Partei von Präsident Mahmud Abbas, droht Gefahr, weil sich diese Gruppe durch die guten Umfrageergebnisse der islamistischen Hamas-Bewegung an den Rand gedrängt fühlt.

Hamas weigert sich nach wie vor, das Existenzrecht des jüdischen Staates Israel anzuerkennen. Jetzt ist die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung für die Islamisten mit ihrer Wahlliste unter dem Namen „Wandel und Reform“ in greifbare Nähe gerückt. In der westlichen Welt wurde die Hamas nach den Abkommen von Oslo vor allem dadurch bekannt, dass sie ihrer Ablehnung des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses durch mehr als hundert blutige Selbstmordattentate Ausdruck verlieh.

In der palästinensischen Bevölkerung hat die Hamas-Bewegung großen Zulauf, nicht nur weil „das Volk seine Märtyrer liebt“, wie ein hochrangiger Fatah-Vertreter erklärt, sondern auch weil die religiös motivierte Bewegung sich um die sozialen Nöte der Palästinenser kümmert, was die Autonomiebehörde trotz aller Finanzspritzen aus dem Ausland nicht geschafft hat. Außerdem haben sich die Hamas-Führer einen Ruf als ehrliche und unbestechliche Vertreter der palästinensischen Sache verdient – während die Fatah auf der Straße häufig als ineffektiv und korrupt charakterisiert wird.

Abdel Rachman Sidan kandidiert in Tulkarm für die Hamas. Mühsam quält er seinen gut zwanzig Jahre alten Subaru den Berg in seinem Heimatdorf Dir el-Ghussun hinauf. Ununterbrochen grüßen ihn die Passanten. Seine Volksnähe ist unübersehbar. In einem spartanisch eingerichteten Büro erklärt Sidan, der in den USA ein Ingenieursstudium absolviert und dann mehrere Jahre in Kuwait gearbeitet hat, seine Pläne. Weil er Leiter des militärischen Armes der Hamasbewegung in Nordsamaria war, hat er auch vier Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht. „Allerdings habe ich nie auch nur eine einzige Kugel abgeschossen“, beteuert der Zivilingenieur.

„Wir müssen die Mentalität der Leute verändern“, kommt Abdel Rachman Sidan auf die Zerrissenheit seines Volkes zu sprechen. „Ohne innere Einheit haben wir keine Chance, die brennenden Probleme der Korruption, Besatzung und Gesetzlosigkeit zu bewältigen.“ Ohne in das sonst übliche Lied über die Verantwortung der bösen Israelis am palästinensischen Leid einzustimmen, erklärt er ohne Umschweife, was sein Herz beschwert: „Wir müssen Recht und Ordnung herstellen!“ Dann mahnt der Mittfünfziger Chancengleichheit für alle politisch Aktiven an – ein gezielter Seitenhieb auf die bislang allmächtige Fatah und deren diktatorische Vorgehensweise – und: „Vor allem müssen wir unsere Wirtschaft von der israelischen Wirtschaft entflechten.“

Für Europäer und Amerikaner ist die Popularität der Hamas ein ebenso großes Problem wie für die Israelis. US-Diplomaten haben ihren israelischen Freunden versichert, die Anerkennung einer Regierung, an der Hamas beteiligt ist, widerspreche amerikanischen Gesetzen. In europäischen Diplomatenkreisen ist man überzeugt, bei einem Wahlsieg der Hamas wird es zuerst einmal „ein großes Palaver“ geben. Israel befürchtet, Europa werde wieder versuchen, zwischen politischen Aktivisten und aktiven Terroristen zu unterscheiden, oder die Hamas gar vollkommen von ihrer Terrorliste streichen.

Najef Asakra Al-Muati steht tagaus tagein mit seinem gelben Taxi an der Straße zwischen Jerusalem und Bethlehem, unmittelbar hinter dem israelischen Grenzkontrollpunkt. Er erhofft einen Wahlsieg der Fatah, rechnet gleichzeitig aber mit 25 bis 30 Prozent der Mandate für die Hamas – was er gar nicht so schlecht findet. „Die Fatah braucht die Unterstützung der Hamas, um möglichst schnell die Verhandlungen mit Israel wieder aufnehmen und eine Lösung für unsere Situation finden zu können.“ Und Al-Muati wünscht sich, dass die radikalen Islamisten durch einen Einzug ins Palästinenserparlament zu einer Teilnahme am Friedensprozess gezwungen werden.

(Foto: PA-Präsidentschaftswahlen im Januar 2005 – Johannes Gerloff)

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen