Meinung

Das Zwillingsparadoxon der Hamas-Entführung

Als der israelische Regisseur Schoval vor zehn Jahren Zwillingsbrüder für einen Spielfilm engagierte, konnte niemand ahnen, dass einer der beiden einmal von der Hamas entführt würde. Nun kommt sein Dokumentarfilm „A Letter to David“ in die Kinos.
Von Jörn Schumacher

Der Film „A Letter to David“ startet am 7. Oktober in den Kinos und damit an einem geschichtsträchtigen Datum: Am 7. Oktober 2023 griffen Terroristen der Hamas Israel an. Am härtesten getroffen wurde der Kibbuz Nir Os.

Aus diesem Kibbuz stammen zwei Brüder, die der Regisseur Tom Schoval einst für seinen Spielfilm „Youth“ (Jugend) engagierte. Nun arbeitet der Filmemacher anhand von Archivaufnahmen und Interviews die außergewöhnliche Geschichte dieses israelischen Brüderpaars auf. Entstanden ist ein beeindruckender Film, der mehr über das Massaker vom 7. Oktober zu sagen vermag als irgendeine Meldung in den Nachrichten.

David Cunio wurde am 7. Oktober gemeinsam mit seiner Familie von Hamas-Terroristen aus dem Kibbuz Nir Os verschleppt. Wie sein Zustand ist, weiß in Israel niemand. Regisseur Schoval ist ein langjähriger Freund der Familie, er gab David und seinem Zwillingsbruder Eitan 2013 Rollen in seinem Spielfilm „Youth“.

Darin ging es paradoxerweise ebenfalls um eine Entführung, wenn auch um eine vergleichsweise harmlose: zwei Brüder entführen aus Verzweiflung ein Mädchen, um mit dem Lösegeld die Schulden der Familie zu begleichen. „Youth“ lief unter anderem auf der Berlinale. Dem Regisseur ist klar: „Der Film wird nie wieder sein, was er mal war.“ Sein Dokumentarfilm „A Letter to David“ (Ein Brief an David) enthält auch unveröffentlichtes Material aus dem Spielfilm von damals.

Die Opfer bekommen ein Gesicht

Es ist wichtig, immer wieder an das Massaker und die Opfer zu erinnern. Längst findet vielerorts eine geradezu perverse Täter-Opfer-Umkehr statt, und Solidarität kippt auf die falsche Seite. Auch dieser Film trägt zum Erinnern bei.

Die beiden Brüder sagen in den alten Casting-Interviews, dass sie eine geradezu telepathische Verbindung zueinander haben – wie das bei Zwillingsbrüdern häufig der Fall ist. Ob diese Verbindung jemals getrennt werden könne, fragt der Interviewer. Beide schütteln den Kopf. „Nein. Das geht nicht.“

Eitan hofft noch immer, dass sein Zwillingsbruder lebt. „In einem dunklen Tunnel. Allein. Getrennt von deinem Bruder.“ Das Leid, das dieser Angriff im Leben von Eitans Familie, aber auch in so vielen anderen Familien ausgelöst hat, bezeugt der Film sehr anschaulich. Er ist somit weit mehr als ein „Brief“ an einen Bruder. Sondern ein Weckruf an alle, die ihn sehen.

Rückblende: David und Eitan als glückliche Teenager

Wir sehen den Kibbuz, in dem die beiden aufgewachsen sind, mittlerweile mit zerstörten und verkohlten Häusern. Der Gazastreifen ist nicht weit, man hört die Bombeneinschläge und die Düsenflugzeuge der Armee im Hintergrund. Wenig später sind Aufnahmen desselben Hauses zu sehen, dieses Mal allerdings intakt und aus der Zeit vor dem Angriff, im Jahr 2012. David und Eitan sind normale, glückliche Teenager.

Auch Ariel, der jüngere Bruder, ist auf den wackeligen Video-Aufnahmen zu sehen, auch er wurde am 7. Oktober der Hamas entführt und befindet sich noch immer in deren Geiselhaft. Die intakten Häuser von damals, die glücklichen Menschen, den Speisesaal, den Kindergarten und die spielenden Kinder auf dem Spielplatz zu sehen, ist plötzlich bedrückend.

Eitan berichtet minutiös, was an jenem schrecklichen Tag geschah. Sein Bruder Ariel textete noch: „Wir sind in einem Horrorfilm.“ Dann kam nichts mehr. Er selbst war mit seinen beiden kleinen Töchtern im Schutzraum eingesperrt, sie konnten nicht heraus, hatten eigentlich den sicheren Tod vor Augen.

Der Bruder – ein Spiegelbild des Entführten

Davids Ehefrau Scharon Cunio wurde ebenfalls mit den Töchtern entführt. Sie kam nach 52 Tagen frei, doch ihren Mann musste sie in der Gefangenschaft zurücklassen. In den zehn Jahre alten Aufnahmen sind auch Bewohner des Kibbuz zu sehen, die von der Hamas ermordet wurden. Sie alle bekommen hier ein Gesicht und sind nicht mehr nur Teil einer Statistik.

Die Eltern leiden sichtbar. Sie essen wenig, haben wieder mit dem Rauchen angefangen. („Ein Schwur: Wir hören erst wieder auf damit, wenn unsere Söhne wieder da sind.“) Das Paar zog 1988 aus Argentinien nach Nir Os. Und auch wenn sie mittlerweile in der Stadt wohnen, sind sie emotional immer noch gefangen an jenem Tag im Oktober.

Am Ende hat der Zuschauer mit David Cunio einen Menschen kennengelernt, seine Familie, seine Stimmungen, seine Mimik, sein Talent. Und es wird ein klitzekleines bisschen mehr vorstellbar, in welchem Alptraum die Angehörigen der entführten israelischen Geiseln seit jenem 7. Oktober 2023 leben.

Und Davids Bruder Eitan … er wird zu einem Spiegel, in dem der Zuschauer ein bisschen dessen Bruder sieht, er wird zu einer wichtigen Erinnerung an den Entführten, aber auch an all die anderen Opfer des Massakers. Wie bei einem Zwillings-Paradoxon in der Physik, wo ein Zwillingsbruder die Erde verlässt und ganz unabhängig vom anderen altert. Wie in der Quantenwelt, wo ein Teil auf unerklärliche Weise mit dem verschränkten anderen Bruderteilchen verbunden ist und doch niemand etwas über dessen Zustand sagen kann.

„A Letter to David“, Israel/USA 2025, Regie: Tom Schoval, 74 Minuten, Hebräisch mit deutschen Untertiteln, Kinostart: 7. Oktober

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2 Antworten

  1. Mir zieht es das Herz zusammen.😥😥 Zwillinge haben so eine enge Bindung, jeder spürt den Schmerz des anderen. Es besteht eine starke gegenseitige Empathie und trotzdem sind es zwei eigenständige Persönlichkeiten. Auch unsere Zwillingsenkel können ganz schlecht alleine, obwohl Mädchen und Junge und nicht eineiig.
    Ob David und Ariel noch leben? Ich leide da sehr mit. Es sind so tragische Geschichten der Geiseln, wie bei den Bibas. Wie soll man da Mut machen? Es vermischt sich Trauer und Wut.
    Meine Gebete sind auch heute wieder in Gaza bei den Geiseln. 🙏🎗🇮🇱
    A Letter to David, der Film interessiert mich sehr. Kommt er auch in deutsche Kinos?

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