Gnade steht im Mittelpunkt des Großen Versöhnungstages Jom Kippur am 10. Tag des jüdischen Monats Tischrei. Viele Juden fasten etwa 25 Stunden von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang und bitten Gott um Vergebung für ihre Verfehlungen. In diesem Jahr beginnt der Feiertag am heutigen Mittwochabend.
Zu Jom Kippur heißt es in der von Joel Rappel herausgegebenen hebräischen Enzyklopädie „Mo’adei Jissrael“ (Die Feste Israels): „Der zentrale Gedanke, der im Ursprung dieses besonderen Tages steht, ist die Gnade des Schöpfers des Menschen, der ihn aufruft, Buße zu tun, und bereit ist, die Sünden desjenigen zu sühnen, der sich vor ihm reinigt.“
In der Synagoge wird das Buch Jona gelesen. Der biblische Prophet widersetzte sich Gottes Auftrag, den Menschen in Ninive eine Bußpredigt zu halten. Stattdessen bestieg er ein Schiff, das ihn möglichst weit in die westliche Gegenrichtung bringen sollte – nach Tarsis in Spanien.
Doch Gott brachte ihn zur Umkehr, er predigte den Menschen in Ninive das Gericht, und sie ließen von ihren bösen Wegen ab. Die Stadt im heutigen Irak wurde nicht zerstört, weil Gott mit Gnade auf die Bußbereitschaft der Bewohner reagierte.
Die ersten zehn Tage des jüdischen Jahres, von Rosch HaSchana bis Jom Kippur, heißen auch die furchtgebietenden Tage. Gläubige Juden wenden sich an Freunde und Verwandte, denen gegenüber sie sich im vergangenen Jahr falsch verhalten haben. Am Großen Versöhnungstag entscheidet Gott demnach, wer in das Buch des Lebens eingetragen wird. Deshalb ist vor Jom Kippur häufig dieser hebräische Wunsch zu hören: „Gmar Chatima Tova“. Das bedeutet etwa: „Möge eure Einschreibung ins Buch des Lebens gut abgeschlossen werden.“
Drei Ausdrücke für Vergebung
Das Hebräische kennt drei Wörter für „Vergebung“: slicha, mechila und kappara. Sie haben unterschiedliche Bedeutungen.
Im täglichen Leben ist in Israel oft „slicha“ zu hören. Damit bittet jemand etwa um Verzeihung für ein versehentliches Anrempeln im Gedränge. Die Mehrzahl bezeichnet die Bußgebete, „slichot“.
Das Wort „mechila“ kann neben der Vergebung auch das Graben eines Tunnels bedeuten, wenn beispielsweise Häftlinge auf solche Weise aus einem Gefängnis entfliehen. Übertragen heißt das: Wer einem Menschen vergibt, dass dieser ihn verletzt hat, ist von der damit verbundenen Last befreit.
Der Ausdruck „kappara“ wiederum ist mit „kippur“ verwandt. Die Betonung liegt hier auf der Reinigung. Durch die Vergebung ist es so, als wäre die Tat nie geschehen. Das macht Versöhnung möglich. Manche schlachten angesichts des Jom Kippur einen Hahn. Dieser geht quasi stellvertretend für den Menschen in den Tod. Die Zeremonie trägt den Namen „Kapparot“.
Nächtliche Bußgebete
Bereits in den Wochen vor Jom Kippur bestimmen das Streben nach Umkehr und die Slichot-Gebete das jüdische Leben. Viele versammeln sich nachts an der Klagemauer und in den Synagogen, um Gott um Vergebung für ihre Übertretungen zu bitten.
In 3. Mose 23,26–32 heißt es: „Und der HERR redete mit Mose und sprach: Am zehnten Tage in diesem siebenten Monat ist der Versöhnungstag. Da sollt ihr eine heilige Versammlung halten und fasten und dem HERRN Feueropfer darbringen und sollt keine Arbeit tun an diesem Tage, denn es ist der Versöhnungstag, euch zu entsühnen vor dem HERRN, eurem Gott. Denn wer nicht fastet an diesem Tage, der wird aus seinem Volk ausgerottet werden. Und wer an diesem Tage irgendeine Arbeit tut, den will ich vertilgen aus seinem Volk. Darum sollt ihr keine Arbeit tun. Das soll eine ewige Ordnung sein bei euren Nachkommen, überall, wo ihr wohnt. Ein feierlicher Sabbat soll er euch sein und ihr sollt fasten. Am neunten Tage des Monats, am Abend, sollt ihr diesen Ruhetag halten, vom Abend an bis wieder zum Abend.“
Wie in der Bibel geboten, steht das öffentliche Leben in Israel am Versöhnungstag still. Deutlich mehr noch als an einem gewöhnlichen Schabbat verzichten Juden auf das Autofahren, außer in Notfällen. Die freien Straßen bevölkern Kinder mit Fahrrädern, Skateboards und Rollschuhen. Säkulare Onlinezeitungen teilen mit, sie würden ihre Berichterstattung nach dem Ende des Fastens wiederaufnehmen. Selbst viele Juden, die sich als weltlich einstufen, gehen am Jom Kippur in die Synagoge und fasten.
Die meiste Zeit des Tages verbringen Juden im Gebet. Jom Kippur ist der einzige Tag, an dem sie fünf vorgeschriebene Gebete sprechen. Ohnehin üblich sind das Abendgebet (Aravit oder Ma’ariv), das Morgengebet (Schacharit) und das Nachmittagsgebet (Mincha). Wie auch an anderen Festtagen gibt es spezielle Zusatzgebete, die unter dem Begriff „Mussaf“ zusammengefasst werden. Einzigartig ist das Ne’ila-Gebet, das nach dem Nachmittagsgebet gesprochen wird. Es verdeutlicht unter anderem, dass der Mensch sich für ein Leben nach Gottes Geboten entscheiden kann.
Gebete ersetzten Tempeldienst
Bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 nach der christlichen Zeitrechnung betrat der Hohepriester am Jom Kippur das Allerheiligste. Er opferte einen Ziegenbock und schickte einen zweiten in die Wüste, nachdem er ihn symbolisch mit den Sünden des Volkes Israel beladen hatte. Nach dem Verlust des Heiligtums in Jerusalem ersetzten jüdische Gelehrte das Opfer durch Gebete. Viermal wirft sich ein Jude am Versöhnungstag zu Boden. Sonst wird im Stehen gebetet.
Viele Juden tragen an dem Fasttag weiße Kleider. Das erinnert auch an den Tod, der jederzeit eintreffen kann. In der Textsammlung, die dem Talmud zugrunde liegt, der Mischna, heißt es: „Kehre einen Tag vor deinem Tod um“ (Sprüche der Väter 2,10). Da niemand seinen Todestag kennt, enthielt dieser Satz die Aufforderung, jeden Tag so zu leben, als würde man am nächsten Tag sterben. Die einheitliche Kleidung soll zudem die Einheit des Volkes betonen.
Das traditionelle Widderhorn, der Schofar, verkündet das Ende des Feiertags. Gott besiegelt in diesem Augenblick nach jüdischer Auffassung sein Urteil über das weitere Leben der Betenden. Wie auch am Schabbat kennzeichnet das Havdala-Gebet, das zwischen Heiligem und Weltlichem trennt, den Beginn des Alltags. Nun beginnen die Fastenden wieder mit Essen und Trinken. Manche fangen schon an, die Laubhütte für das bevorstehende Sukkot-Fest zu bauen.
Jom-Kippur-Krieg: Überraschungsangriff am Fasttag
Vor 52 Jahren, am 6. Oktober 1973, griffen arabische Truppen während des hohen Feiertages Israel an. Trotz der Überraschung konnten die Israelis den Krieg am Ende für sich entscheiden, wenn auch mit hohen Verlusten. Er ging als Jom-Kippur-Krieg in die Geschichte ein. Araber nennen ihn „Oktoberkrieg“.
Der Terrorangriff der Hamas 50 Jahre später, am 7. Oktober 2023, weckte in älteren Israelis die Erinnerung an den Jom-Kippur-Krieg. Erneut kam der Angriff überraschend und wurde an einem jüdischen Festtag verübt – in dem Fall am Fest der Torafreude, Simchat Tora. Der Jom-Kippur-Krieg endete nach drei Wochen, der durch das Massaker der Hamas ausgelöste Krieg dauert nach fast zwei Jahren noch an.
2 Antworten
❤️🩹🙏❤️
Alles wichtig zu wissen für Juden, auch wenn sich längst nicht alle( sehr verlegen gestehe ich, dazu zu gehören)daran halten, ist nicht aber auch nicht viel anders bei Christen, weniger bei den Moslems……………SHALOM