Meinung

Die Tugend des Machtverzichts: Moses politische Philosophie im Buch Deuteronomium

Micah Goodman legt mit seinem englischsprachigen Werk eine faszinierende Studie zur politischen Philosophie des Buches Deuteronomium vor. Dabei betont der israelische Denker die Relevanz für den heutigen politischen Diskurs in Israel. Eine Rezension.
Von Nicolas Dreyer

Der Philosoph Micah Goodman gehört dem Schalom Hartman-Institut an, einer Forschungs- und Bildungseinrichtung in Jerusalem, die sich dem pluralistischen jüdischen Denken widmet. The Last Words of Moses (Die letzten Worte Moses) würdigt das Buch Deuteronomium vor allem als Ausdruck eines neuen religiösen und politischen Bewusstseins, das Religion von politischer Macht trennte und diese begrenzte.

Goodman betrachtet das Deuteronomium als ein menschliches Dokument, das von Mose verfasst worden sei und dennoch göttliche Autorität besitze, weil es in die Bibel aufgenommen wurde. Er möchte das 5. Buch Mose so verstehen, wie es sich selbst darstellt. Dazu interessieren ihn weder ausschließlich der wissenschaftliche Forschungstand noch vor allem die klassischen Tora-Kommentare zu Deuteronomium.

Er widmet sich vor allem der im Buch ausgedrückten politischen Philosophie. Damit bezeichnet er die psychologischen, religiösen und politischen Ideen, die Moses Idealbild einer israelitischen Polis charakterisierten. Goodman widmet seine Abhandlung „Allen, die durch das Fenster zu blicken suchen, das Mose in die biblische Philosophie hinein öffnete. Es ist auch all jenen gewidmet, die durch Deuteronomium die Herausforderungen des modernen Israel zu verstehen wünschen.“

Perspektivwechsel

Während die ersten vier Bücher Mose aus der Perspektive Gottes erzählt worden seien, stelle Deuteronomium, Moses letzte Ansprache in Moab an das Volk am 1. Tag des jüdischen Monats Schwat, den Wechsel der Erzählperspektive hin zu Mose dar. Deuteronomium wiederhole die Erzählung der ersten vier Bücher Mose und verleihe ihnen dabei eine neue Interpretation, und zwar die von Mose: „Das letzte Buch der Tora ist auch ihr erster Kommentar“.

Mose habe in seiner Rede dem Volk eine bedeutende Rolle zugestanden und es dialogisch an seinen Entscheidungen teilhaben lassen. Demnach sei Deuteronomium als eine kollektive, egalitäre Offenbarung zu verstehen. Die mosaische Skepsis gegenüber politischer Hierarchie liege in einer politischen und psychologischen „offenen Wunde“ aus der Zeit der Wüstenwanderung begründet, der Sünde des Goldenen Kalbes. Der Tanz um das Goldene Kalb sei zum großen Trauma im israelitischen kollektiven Gedächtnis geworden.

„Wo war Mose?“ war demnach die alles überragende Frage. Denn ohne ihn sei das Volk führerlos gewesen. Moses Neuerzählung dieser Episode im Deuteronomium habe dazu gedient, die übertriebene Verehrung seiner Person als Anführer als die eigentliche Sünde darzustellen. Mose habe das kollektive Gedächtnis der Israeliten dahingehend beeinflussen wollen, dass sie ihr Urteilsvermögen weniger von seiner Führungsrolle abhängig machten.

In vieler Hinsicht unterscheidet sich Deuteronomium damit nach Ansicht des Autors vom Buch Exodus. Der Bund Gottes mit Israel sei im Deuteronomium nicht zwischen Gott und Mose, sondern zwischen Gott und dem Volk geschlossen worden. Der Bundesschluss am Sinai sei signifikant anders erzählt worden als im Exodusbuch; Mose habe im Deuteronomium keine Rolle mehr gespielt.

Schon in der jüdischen Auslegungstradition hätten solche widersprüchlichen Erzählungen in der Tora zu Fragen zu ihrem göttlichen Ursprung geführt – diese seien durchaus Teil der Tradition von „polyphonen“ Interpretationen und Ideen in der Tora, heißt es weiter. In dieser hermeneutischen Tradition werde keine Notwendigkeit innerer Folgerichtigkeit oder menschlicher Kriterien vorausgesetzt. Es könne „die Stimme Gottes als Vielfalt“ verstanden werden.

Religiöse Revolution

Der Autor entwickelt eine dreiteilige, kontraintuitive These vom Deuteronomium als einem revolutionären Buch, das die Stiftshütte und den Tempel für unwichtig erklärt und die Monarchie ihrer Macht beraubt habe, um den Monotheismus und die Rolle Gottes zu stärken. Zuerst habe Mose den rituellen Gottesdienst außerhalb des Tempels verboten; später habe er erklärt, Gott sei im Tempel überhaupt nicht gegenwärtig. Die Religion sei zuerst monopolisiert, dann abgewertet worden.

Goodman sieht darin eine antike Variante der modernen Trennung von Staat und Religion, wie sie etwa auch Theodor Herzl gefordert habe. Mose habe die religiösen Aktivitäten auf einen bestimmten Raum beschränken wollen, um damit die rituellen Opfer aus dem öffentlichen Raum fernzuhalten. Dies habe einer „reformierten Frömmigkeit“ geglichen, die nicht das Darbringen von Opfertieren, sondern die Liebe zum Nächsten als die eigentliche Verantwortung des Menschen vor Gott erkannt habe.

Foto: Shalom Hartmann Institut
Als einflussreicher jüdischer Philosoph ist Micah Goodman ein vielgefragter Kommentator der israelischen Gesellschaft und Politik

Eine neue religiöse Aktivität sollte die alte ersetzen: die des multivokalen und polyphonen Textes durch jene des Rituals, um eine Tora-erfüllte Welt zu erschaffen, in der Gott mit ganzer Seele, ganzem Herzen und ganzer Kraft geliebt würde. Mit dieser Schwerpunktsetzung, so argumentiert Goodman, habe sich Mose im Deuteronomium radikal vom Buch Levitikus gelöst.

Er habe damit ein neues religiöses Bewusstsein vom „Judentum der Worte“ und dem Studium von Gottes Wort anstelle des Rituals vorbereitet – und damit die Theologie mancher Psalmen und späterer Propheten. Die Begrenzung der Staatsmacht und die Entfernung Gottes aus dem Tempel sei auf ein neues Gottesverständnis hinausgelaufen, auch im Vergleich zu den umgebenden heidnischen Kulten: dies habe in „einem authentischen geistlichen Bewusstsein und sozialer Verantwortung“ bestanden.

Der Autor geht auch auf die Psychologie des Menschen als Grundlage für seine religiösen und politischen Aktivitäten ein, besonders auf die Angst als Ausdruck existentieller menschlicher Bedingtheit: Um die Angst vor der Zukunft zu minimieren, um die Zukunft zu erkennen und um das Gefühl der Kontrolle über sie zu wahren, habe der Mensch Magie und Religion, Politik und Tyrannei entwickelt.

Moses Vision für die Politik sei Hand in Hand mit seinem Verständnis vom Monotheismus gegangen: Die Menschen sollten ihre Machtlosigkeit akzeptieren, und die Politik die Begrenztheit ihrer Macht. Durch Mose hätten die Israeliten sogar den antiken Griechen vieles voraus gehabt, schreibt Goodman: Während die Demokratie in Athen entstanden sei, sei der „liberale“ Teil der „liberalen Demokratie“ eben in Jerusalem, und im fünften Buch der Tora, entstanden.

Zwischen Macht und Machtlosigkeit

Das Schwierige am Monotheismus sei es also, sich dem Verlust an menschlicher Kontrolle über das Schicksal und an politischer Macht über die Gesellschaft zu stellen. Diese Botschaft hätten auch lange nach Mose die Propheten verkündet. Neben der priesterlichen Stimme und religiösen Welt im Levitikus koexistiere sie gleichberechtigt in der Tora, in einer polyphonen und teils widersprüchlichen Vielfalt göttlicher Wahrheit.

Goodman sieht Moses vorausschauendes Anliegen seiner „letzten Worte“ darin, dass er dem Volk habe verdeutlichen wollen, wie es seine Erfolge assimilieren könne, ohne machthungrig zu werden und endlos nach Wohlstand zu streben. Zusammen mit der Forderung nach dem Schutz des Privateigentums der Israeliten vor der Steuer- und Requirierungspolitik der späteren Könige habe der deuteronomische Mose eine politische Philosophie umrissen, die Naturrechte anerkennt, das Privateigentum respektiert, soziale Fürsorge sowie eine Gewaltenteilung fordert. Damit habe sie in ihren Grundzügen dem erst viel später in der Moderne entwickelten Modell einer liberalen Demokratie und sozialen Marktwirtschaft entsprochen.

Daraus ergibt sich für Goodman die Frage nach dem Ausweg aus der von Mose erkannten „Machtfalle“ – der Dynamik, in der die Unabdingbarkeit politischer Macht schnell zum Selbstzweck werden kann: ein „schützendes Gedächtnis“, das vor dem moralischen und religiösen Verfall bewahren soll.

Psychologie und Pädagogik

Diese von Mose geforderte „erzieherische Philosophie“ habe vor allem in der Hingabe an Gott und die Tora bestanden. Hinzu komme eine Kultur der Weisheit, in der das Lernen und das Studium des Gesetzes für das Volk und besonders die Leiterschaft hochzuhalten seien. Mose habe die Entstehung der israelitischen Nation als Geschichte der Unterdrückung nacherzählt, um das Volk gegen politische Dominanz zu versichern; als Geschichte der von Gott durch Wunder geschenkten Siege, um das Volk gegen seine Furcht zu immunisieren, und als Geschichte der Sünde, um es vor Ungerechtigkeit zu warnen.

Die Tora ist für Juden ein besonderer Grund zur Freude Foto: Israelnetz/mh
Die Tora enthält für Juden die Grundlagen von Glaube und Ethik. Die fünf Bücher Mose stehen im Zentrum der Religionspädagogik.

Mose habe erkannt, dass die psychologische Gefahr des Vergessens für das Überleben seines Volkes größer war als jede physische Bedrohung von außen. Mit dieser in seiner letzten Ansprache an das Volk enthaltenen Interpretation der Tora und Geschichte habe Mose auch die jüdische Tradition begründet, die Halacha, die Gesetze der Tora. Sie sei durch die Aggada, den antiken erzählerischen Korpus, zu ergänzen. Damit habe dem Volk die „richtige Erzählung zur richtigen Zeit“ angeboten und das richtige „emotionale nationale Gleichgewicht“ hergestellt werden können.

„Mosaischer Imperativ“

Aufbauend auf einer solchen „gemäßigten Macht“ konnte demnach die ideale israelitische Polis den „mosaischen Imperativ“ umsetzen, eine emanzipatorische Gesellschaft zu werden. Die Erfahrung der Befreiung aus der Sklaverei sei zum deuteronomischen Ethos geworden. Die anti-hierarchische Metapher einer Bruderschaft habe dem Anspruch entsprochen, gegenüber den Schwachen, Sklaven und Fremden Sensibilität zu zeigen.

Selbst der wichtigste jüdische Feiertag, der Schabbat, habe eine Demokratisierung der Ruhe von der Arbeit dargestellt. Im Unterschied zum Marxismus, der eine Gleichbehandlung in der Arbeit fordere, biete die Tora dem Menschen die Gleichheit in der Erholung an, befreit von Dominanz oder Hierarchie. Am Schabbat sei der Mensch sogar Gott gleich in seinem Machtverzicht.

Genauso seien auch die Tempelopfer demokratisiert worden: es sei betont worden, dass das Opferfleisch von den Fremden, Waisen und Witwen gegessen werden sollte. Die deuteronomische Religiosität habe in einer imitatio Dei bestanden – einer Nachahmung Gottes, einer Manifestation Gottes auf Erden durch menschliches moralisches Handeln. Die Liebe Gottes zum Fremden könne imitiert und der Mensch dadurch Gott ähnlich werden.

Religiöse Aktivität sei hier zu sozialer Aktivität geworden; der Fokus habe sich, wie später auch bei den Propheten, verschoben von der ritualisierten Beziehung des Menschen zu Gott zur Beziehung der Menschen untereinander. Moses deuteronomische, soziale Exegese der Tora lasse sich also als Wende vom religiösen zum sozialen Bewusstsein beschreiben.

Antiker Text und moderne Sensibilitäten

Um eine herausragende Gesellschaft basierend auf den biblischen Werten zu schaffen, musste sich das Volk demzufolge von den heidnischen Einflüssen trennen und die kanaanitischen Völker zerstören. Die Landnahme habe eine „religiöse Revolution“ und damit eine Art revolutionärer Ausnahmesituation dargestellt: „Um eine neue Gesellschaft zu errichten, die moralische Verantwortung praktiziert“, sei ein Handeln nötig gewesen, das aus heutiger Sicht als unmoralisch betrachtet würde.

Die Landnahme, die nach heutigen Maßstäben Kriegsverbrechen bedeuten würde, bringe einen modernen Leser in Gewissensnöte; man erlebe einen Konflikt zwischen den Werten der Tora und den humanistischen Werten der heutigen Gesellschaft mit ihrer „universalistischen moralischen Sensibilität“. 

Goodman erörtert wichtige Fragen zum heutigen Umgang mit dem Text: Wie können moderne Leser mit dieser Spannung umgehen? Verstehen sie den Text wörtlich oder bildlich, also wie bewerten sie die Autorität des Textes? Verhält man sich als fundamentalistischer oder anarchistischer Leser, der sein eigenes Wertesystem entweder der Autorität des Textes unterwirft, oder eine apologetische Lesart entwickelt?

Er fragt auch, ob der Text eine fehlgeleitete Moral enthält oder gar die moderne Exegese fehlgeleitet ist. Können die moralischen Gegensätze irgendwie „harmonisiert“ werden? Goodman empfiehlt, sich vom biblischen Text „verblüffen“ zu lassen und die eigene Verständnislosigkeit zu akzeptieren. Zur Heiligkeit und Größe der Tora gehöre eben auch ihre Komplexität sowie das Paradox zwischen Gewissen und Bekenntnis einerseits, und das der multivokalen Stimme Gottes andererseits. Diese könne sich im Text genauso wie auch im Gewissen des Lesers unterschiedlich ausdrücken und sich dabei sogar widersprechen.

Rückblick und prophetische Vorausschau

Goodman sieht Deuteronomium, dessen Erzählung vor der Landnahme endet, als Dreh- und Angelpunkt des biblischen Dramas von der Schöpfung bis zum Exil. Das Buch blicke auf die Geschichte zurück, interpretiere sie neu und sehe die Zukunft voraus. Zwei biblische Führungspersönlichkeiten der Zeit nach Mose stachen aus seiner Sicht dabei besonders heraus: Josua, der die mosaische Vision umgesetzt, und Salomo, der sie wieder ausgehebelt habe.

Das Buch Josua beschreibe einen nationalen und religiösen Höhepunkt in der Geschichte Israels, indem es den zwei großen Herausforderungen begegnet sei: einerseits ohne Zwang die nationale Einheit und Solidarität der Stämme untereinander herzustellen und damit einen Bürgerkrieg zu vermeiden; und andererseits die religiöse Verehrung auf den Gott Israels zu konzentrieren.

Folgen Sie uns auf Facebook und X!
Melden Sie sich für den Newsletter an!

König Salomo habe nach Goodman einerseits die biblische Utopie vom Leben jedes einzelnen „unter seinem eigenen Feigenbaum“ verwirklicht und seine Herrschaft das „goldene Zeitalter“ der biblischen Geschichte dargestellt. Andererseits habe er durch seinen Götzendienst all dies wieder zerstört.

Kriterien für die Eignung zur Macht

Salomo habe drei moralische und religiöse Kriterien für seine Herrschaft erfüllt: er sei gottesfürchtig, vertrauenswürdig und unbestechlich gewesen. Er sei den deuteronomischen Kriterien für die Königswürde gerecht geworden: er habe Weisheit und Gerechtigkeit gesucht, nicht den Intellekt – obwohl er auch diesen besessen habe, nicht nur als Bauherr und Dichter, sondern auch als passionierter Biologe und Botaniker. Auch Salomos ursprüngliches Religionsverständnis sei deuteronomisch-transzendental gewesen: er habe keine Opfer gefordert, sondern den von ihm erbauten Tempel eher als Haus des Gebetes betrachtet, wie eine Synagoge.

Demnach brach er den Bund mit Gott durch seine Ehe mit der Tochter des Pharao, durch seine Vielgötterei, seine heidnischen und selbstherrlichen Bauprojekte, die selbst den Tempel in den Schatten gestellt hätten, und seine immer tyrannischere Herrschaft. Diese habe sich beispielsweise in Zwangsarbeit ausgedrückt.

Somit habe Salomo das Erbe Abrahams, sich vom Polytheismus zu lösen, abgewickelt und die Stammesstruktur durch exzessiven Zentralismus zerstört. Seine zügellose Herrschaft einschließlich der Zwangsarbeit sei zu einem Spiegelbild des Pharao geworden, womit Ägypten zum Volk Israel zurückgekehrt sei. Die israelitische Gesellschaft habe nach Moses Vorstellung „soziales Bewusstsein, nicht opulente Arroganz; eine begrenzte, keine absolute Monarchie; und die Befreiung, nicht die Knechtschaft“ anstreben sollen.  

Eignet sich das 5. Buch Mose als Vorbild für das moderne Israel?

Mit der Entstehung des modernen Zionismus habe die Hebräische Bibel erneut eine prominente Stellung erlangt: die israelischen Gründungsväter und -mütter hätten sich auf die Bibel berufen, im Unterschied zur Verehrung des Talmuds im osteuropäisch geprägten Judentum.

Goodman bewertet den heutigen jüdischen Staat als politisch erfolgreich, jedoch als „textlich erfolglos“. Die Bibel habe nicht den Status erhalten, den David Ben-Gurion ihr zuschreiben wollte; die Zionisten hätten die Bibel schnell vergessen.

Foto: Nicolas Dreyer
Auf dem Schreibtisch von David Ben-Gurion (hier in seinem Haus in Tel Aviv) befand sich auch immer eine Bibel, die der Staatsgründer gerne las. Er lud regelmäßig zu seinem Bibelstudienkreis ein.

Nach dem Sechs-Tage-Krieg sei sie jedoch von der Siedlerbewegung für sich in Anspruch genommen worden: Mit der Eroberung von Judäa und Samaria, dem Westjordanland, hätten sich plötzlich viele biblische Gedächtnisorte unter israelischer Kontrolle befunden, so dass die Bibel zum Mandat der Siedlerbewegung geworden sei.

Wie zu Moses Zeiten sei auch das heutige Israel eine Nation an der Schwelle zur Macht. Deuteronomium biete jedoch weniger eine Rechtfertigung für die Macht, als dass es eine gerechte und unbestechliche Gesellschaft fordere. Auch die israelische Unabhängigkeitserklärung beinhalte die Ideale der Propheten: Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit.

In der heutigen, dritten Generation der Israelis, die sich wieder neu zur Bibel hingezogen fühle, könne der Zionismus auch im deuteronomischen Sinne erfolgreich und zur zweiten Chance werden. Dafür müsse die politische Macht entsprechend der mosaischen Vorstellungen gestaltet und die Gesellschaft dort erfolgreicher werden, wo sie in der Bibel versagt habe.

Goodmans Analyse vom Deuteronomium, die noch vor den Angriffen der terroristischen Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 auf Englisch erschien, ist dabei vor allem auch als gelungener Debattenbeitrag zum aktuellen israelischen politischen Selbstverständnis zu verstehen. Seit einigen Jahren ist die Politik in Israel von großen Debatten und Protestbewegungen über die politische und rechtliche Verfasstheit des Staates, seine Gewaltenteilung sowie die Rolle und Macht verschiedener staatlicher Ämter, Organe und Funktionsträger geprägt.

Universelle Lehren aus dem 5. Buch Mose

Jedoch ist Goodmans Buch auch außerhalb des israelischen Kontextes eine Bereicherung und Anregung. Zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen und politischer Polarisierung, terroristischen Gefahren, Pandemien, äußeren Bedrohungen sowie der sich rasant verbreitenden Sehnsucht nach einem „Goldenen Zeitalter“ und nationaler Größe kann möglicherweise mit der „richtigen historischen Erzählung“ für unsere Zeit begegnet werden.

Somit könnte ein „nationales emotionales Gleichgewicht“ zurückgewonnen werden: Das Bewusstsein der vergangenen Sünde und moralischer Schwäche kann vor Hochmut, Ungerechtigkeit und Machtstreben schützen, wie gleichzeitig auch die Erinnerung an Gottes Wunder und Gnade vor Verzagtheit und Unentschlossenheit bewahren kann.

Nicht zuletzt fordert das Buch Deuteronomium heute dazu auf, die delikate Balance zwischen bürgerlichen Freiheiten und der Staatsmacht, und damit die Legitimität der liberalen Demokratie an sich, nicht zu gefährden. Insofern unsere westliche freiheitliche Verfassung und die ihr zugrunde liegende politische Philosophie in bedeutendem Maße von der Bibel und der jüdisch-christlichen Tradition geprägt wurde, mag eine Rückbesinnung auf diese die vielleicht nachhaltigste Demokratieförderung überhaupt sein.  

Micah Goodman: „The Last Words of Moses“, Amerikanische Übersetzung aus dem Hebräischen von Ilana Kurshan, Reihe „Maggid Tanakh Companions“, Koren, 257 Seiten, 29,40 Euro, ISBN: 9-781592-645589.

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

2 Antworten

  1. …Das Bewusstsein der vergangenen Sünde und moralischer Schwäche kann vor Hochmut, Ungerechtigkeit und Machtstreben schützen, wie gleichzeitig auch die Erinnerung an Gottes Wunder und Gnade vor Verzagtheit und Unentschlossenheit bewahren kann…
    Amen, so sei es!

    0

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen