Der Brutalismus ist eine Gegenposition zur „heroischen“ ersten Phase der Moderne und kann nicht ohne das erlebte Trauma verstanden werden, das seine Protagonisten während des Zweiten Weltkriegs erlebten. Die Kriegs- und Schoa-Erfahrungen der jüdischen Vertreter und Vertreterinnen dieses Baustils fanden Eingang in die Gestaltung in die „ehrliche“ Materialästhetik der Betonbauten.
Der Brutalismus wurde von dem schwedischen Architekten Hans Asplund stark geprägt. Der Begriff leitet sich von béton brut, wörtlich „roher Beton“, dem französischen Ausdruck für Sichtbeton, auch Rohbeton, ab. Neben der Verwendung von unverputztem Beton kennzeichnen strenge geometrische Körper die Brutalismus-Architektur.
Die ästhetische Anmutung des Béton brut, des Rohbetons, beruht auf der Ablesbarkeit des Bauprozesses sowie seiner oftmals monolithischen Ausführung. Diese gewollte Monotonie birgt bei näherer Betrachtung eine ganz eigene und unverwechselbare Ästhetik. Sie ist als Ausdruck des Anspruchs der „Wahrhaftigkeit“ zu verstehen, der ethische Anspruch lautet: Die alltägliche Rolle des Gebauten im Leben der Bewohner, nach dem Motto Alltags- statt Hochkultur.
Langfristige Tendenzen der Architektur erproben
Eine interessante These lautet, dass im Brutalismus in kritischer Verarbeitung der klassischen Moderne und der Nachkriegsmoderne eine Laborsituation geschaffen wurde, in der langfristige Tendenzen der modernen Architektur erstmals erprobt wurden, wie etwa im Minimalismus. Soziale und politische Subtexte der brutalistischen „Alltagsarchitektur“ haben spätere Diskurse in Architektur und Stadtplanung nachhaltig beeinflusst.
Ob der Brutalismus als ästhetische Architektur betrachtet werden kann, das ist persönliche Ansichtssache und hat viele Diskurse ausgelöst, auch in Israel. Festgehalten werden muss, dass dem Brutalismus eine wichtige historische Rolle zukommt.
Er resultiert aus dem Generationskonflikt des CIAM (Congrès International d‘Architecture Moderne) der späten 1940er Jahre und dem Umfeld des folgenden Team 10 aus einer Aneignung und Transformation der „heroischen Moderne“ und ist zunächst ein diffuses Projekt.
Der Brutalismus steht für eine transparente Form des Bauens und als Gegenentwurf zur heroischen Architektur im Faschismus. Eine Architektur, die sich mit ihrer Formsprache und Schnörkellosigkeit von der Bourgeoisie, französisch für Bürgertum, bewusst distanziert, und sich vielmehr als Repräsentation des ideologiefreien Wohlfahrtstaates versteht.
London, Moskau und Frankfurt am Main
Internationale Beispiele sind das „Royal National Theatre“ in London, die russische Akademie der Wissenschaften in Moskau und in Deutschland das Hochhaus der Union Investment, Frankfurt am Main.
In der Schweiz ist im Kanton Bern die Siedlung Thalmatt1 in Herrenschwanden im Brutalismus-Stil, der auch „Graue Architektur“ genannt wird, erbaut worden.Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier, mit bürgerlichem Namen Charles-Édouard Jeanneret-Gris (1887–1965), war für diesen Architekturstil richtungsweisend. Als Mensch war Le Corbusier hingegen umstritten. Kritiker unterstellen ihm eine Sympathie für den Faschismus und verurteilen seine Sozialwohnungsprojekte, weil sie arme Bevölkerungsgruppen an die Ränder der Städte drängten. Sie interpretieren in seine urbanistische Vision das Modell eines faschistischen Staates.
In Israel hat der Brutalismus einen deutlich zionistischen Anstrich. Die Béton brut-Architektur von Ram Karmi und seiner Schwester Ada ist reich an Symbolen und dokumentiert ihre tiefe Verbundenheit mit dem Staat Israel. Wie ihr Bruder hat sich auch Ada nie für die Bauhaus-Architektur begeistern können, zumindest nicht als die passende Architektur für den Staat Israel: „Die Weiße Architektur ist zu poliert. Wir, mein Bruder und ich, sind Kinder des Betons und nicht des Verputzes. Unsere Architektur ist der Brutalismus. Er spiegelt den Charakter der Israelis wider, nicht die glatten und polierten Fassaden des Bauhaus und Internationalen Stils.“
Brutalismus nach Israel gebracht
Es war Ram Karmi, der den Brutalismus nach Israel brachte und etablierte. „Architektur sollte mit dem Standort authentisch sein, aber mit universeller Bedeutung“ lautet das Credo von Ada Karmi-Melamede und ihrem 2013 verstorbenen Bruder. Zudem plädieren beide für die ausschließliche Verwendung von lokalem Baumaterial.
Ram und Ada sind die Kinder des aus Odessa stammenden renommierten Architekten Dov Karmi. Nach dem Studium der Malerei an der Jerusalemer Bezalel-Akademie für Kunst und Design ging Dov Karmi nach Belgien, um an der Universität Gent ein Architekturstudium zu absolvieren. 1929 kehrte er nach Palästina zurück, heiratete und ließ sich zunächst in Jerusalem nieder. 1932 gründete er in Tel Aviv ein eigenes Architekturbüro.
Das El-Al-Gebäude in Tel Aviv, auch bekannt als „Beit El-Al“, wurde von Zvi Meltzer, Dov Karmi und seinem Sohn Ram entworfen und zwischen 1958 und 1963 im brutalistischen Stil errichtet. Es war das erste Hochhaus-Bürogebäude in Israel.
Ob jedes der vielen Gebäude der Geschwister Ram und Ada architektonisch gelungen ist, darüber lässt sich streiten, wie etwa im Falle des mittlerweile heruntergekommenen Zentralen Busbahnhofes in Tel Aviv. Ihr gemeinsamer Entwurf zum Obersten Gerichtshof in Jerusalem gilt hingegen unangefochten als Perle der Architektur.
Kunstmuseum als Parade
Das Kunstmuseum von Tel Aviv, entworfen von Preston Scott Cohen, ist ein Paradebeispiel brutalistischer Architektur. Dies gilt auch für das Charles-Bronfman-Auditorium in Tel Aviv, den Hauptsitz des Gewerkschaftsverbands Histradut, Dani Karavans skulpturale Elemente in der Betonwand des Gerichtshofs in Tel Aviv.
Giovanni Muzio entwarf die Verkündigungskirche in Nazareth im Stil des italienischen Brutalismus der 1960er Jahre. Die Béton brut-Architektur in Be‘er Scheva versucht, den spezifischen Ort zu interpretieren: die Wüste mit ihren vielen physischen Herausforderungen und unterschiedlichen kulturellen Schichten des Wüstenortes. Die Ben-Gurion-Universität verkörpert es eindrucksvoll.

Der Brutalismus ist das Herzstück vieler Wahrzeichen in der israelischen Landschaft und steht im Einklang mit der lokalen Geschichte und dem Ethos. Mit den Worten „die Kaktusfrucht Sabre steht für die israelische Mentalität: Außen stachelig, innen süß, so auch meine Architektur“, verabschiedet sich die vielfach preisgekrönte Ada Karmi-Melamede.
Ähnlich der Sabremag auchder Béton brut-Stil bei oberflächlicher Betrachtung abweisend wirken. Lassen Sie sich nicht davon abschrecken, eine architektonische Entdeckungstour lohnt sich, auch zum tieferen Verständnis des Staates Israel.
5 Antworten
Ich hab mir in Tel Aviv das Ding von außen angesehen, war aber noch nie drin, erstens bin ich kein großer Museumsflaneur und zweitens sieht das aus wie ein verunglücktes Raumschlachtschiff………….SHALOM ALEJCHEM
@Klaus
Mit dem Raumschiff muss ich dir Recht geben!👍🤣 Aber wenn du doch schonmal davor gestanden hast? Du weißt doch:nicht das Äußere zählt! Sondern die Inneren. Ich wäre da mal gucken gegangen.
Vielen Dank Frau Tegtmeyer für diesen sehr interessanten Bericht. Von Brutalismus hatte ich ehrlich gesagt noch nie etwas gehört. Wieder etwas gelernt!!!👍👍
Liebe Grüße Manu 🙋🏻♀️
Da gebe ich dir recht, Manu, vielleicht lasse ich mich diesmal überreden, mal reinzuschauen, bei meinem Urlaub Ende Mai.
Ich muss einfach mal schauen, wieviel Zeit ich erübrigen kann, aber ich bin so lange nicht mehr in Israel gewesen, und so viel ist passiert. Da sind familiäre Angelegenheiten weit wichtiger, und natürlich der Weg zum Herzlsberg…………………SHALOM ALEJCHEM
@Klaus
Ja,ist klar. Es ist ja auch kein „Muss“. Vielleicht kommst du ja dazu. Ich wünsche dir auf jeden Fall eine schöne Reise und Zeit mit der Familie!
Gruß Manu 🇮🇱🕊✈️
Dem Baustil des Kunstmuseums in Tel Aviv kann ich nichts abgewinnen. Aber ich bin auch zum großen Teil ein Kunstbanause.🫣
Die Verkündigungskirche in Nazareth hingegen gefällt mir aber sehr gut. Auch modern, aber es sind auch noch Überreste der alten Kirche aus der Kreuzfahrerzeit integriert. Typisches Touriziel bei Israelreisen.