Im Monat Oktober sind bisher durch palästinensische Anschläge und anschließende Reaktionen zehn Israelis, ein Eriträer und etwa 60 Araber aus dem Gazastreifen, Westjordanland und Israel ums Leben gekommen. Unzählige weitere Menschen wurden verletzt.
Inmitten dieser Ereignisse lädt Amit seine Freunde ein, um seine Wohnung einzuweihen. Es ist Samstagabend, zwölf junge Leute sind gekommen. Der Gastgeber ist aus Tel Aviv nach Jerusalem gezogen, um nach dem Jurastudium hier sein Referendariat zu absolvieren. Stolz zeigt er seinen Freunden die kleine Wohnung. An die Wand gequetscht steht ein elektrisches Klavier: „Vor fünf Jahren habe ich mal Stunden genommen, seitdem habe ich nicht gespielt. Nun will ich wieder anfangen. Bei dem Lehrer, den ich damals hatte.“
Anna, eine alte Schulfreundin von Amit, ist gebürtige Russin. Kurz vor ihrem zweiten Geburtstag ist ihre Familie mit ihr nach Israel eingewandert. Auch sie ist am Klavierunterricht interessiert: „Wo trefft ihr euch denn?“ Amit erzählt vorsichtig: „Es gibt die Möglichkeit, in der Straße neben der Cinemathek zu spielen. Aber dort ist es mir zu unheimlich. In diesen Zeiten sollte man sich dort wirklich nicht blicken lassen. Es gibt sicher einen Grund, warum das daneben liegende Tal Gehinnom ‚Höllental‘ genannt wird.“ Vor etwa einem Jahr war in besagter Straße ein
Attentat auf den Rabbiner Jehuda Glick verübt worden.
Statistik zur Beruhigung
Unter den jungen Leuten bricht eine Diskussion aus. Manche stimmen Amit zu, sie würden dort auch nicht hingehen. Andere sind gleichgültig. Anna winkt energisch ab: „So ein Quatsch! Natürlich kann man dort langlaufen.“ Amit erklärt sich: „Wenn ich aber doch die Möglichkeit habe, in der Jaffa-Straße zu spielen, warum soll ich dann zum ‚Höllental‘ gehen?! Mir reicht es, dass ich mir Gedanken machen muss, wenn ich jeden Tag zum Gericht hin und zurück laufen muss.“
Anna gibt nicht auf. Sie studiert Medizin: „Ich mache gerade einen Kurs in Statistik und statistisch gesehen ist es völlig unwahrscheinlich, dass ein Messerstecher auf mich losgeht. Wenn ich nach New York fahre, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass mir etwas zustößt, wesentlich höher.“ Sie lacht über Amit, während dieser den Kopf einzieht.
Den Vorteil im Nachteil gefunden
Szenenwechsel: Meital ist in der Schweiz aufgewachsen. Sie hat Verwandte in Israel und überlegt, Alija zu machen, nach Israel einzuwandern. Zur Zeit besucht sie zwei Mal wöchentlich einen Ulpan in Jerusalem, um ihr Schrifthebräisch zu verbessern. „Der Morgenulpan findet zur Zeit wegen mangelnder Teilnehmer nicht statt. Im letzten Kurs bestand etwa die Hälfte der Klasse aus Arabern, in diesem Kurs sind es nur zwei.“
Sie hat Angst, nach dem Abendunterricht zu ihrer Tante nach Kfar Saba zu fahren und fährt dann lieber am darauffolgenden Morgen. Das ist auch ganz praktisch, so kann sie gleich die Öffnungszeiten nutzen und sich um die bürokratischen Probleme der Einwanderung kümmern. „Seit einiger Zeit habe ich immer ein Pfefferspray bei mir. Ich habe Angst, dass mir etwas zustoßen könnte. Das Pfefferspray gibt mir Sicherheit und im Notfall würde ich es benutzen.“ Wenn Meital Bus fährt, beobachtet sie inzwischen ihre Mitfahrer sehr genau. „Da ist immer dieses Misstrauen vorhanden und ich überlege mir jedes Mal genau, ob ich überhaupt nach Jerusalem fahren soll oder nicht.“
In Erklärungsnot
Völlig anders empfindet John die Lage. Er kommt aus New York und wohnt seit Sommer 2014 in Jerusalem. Als promovierter Chemiker arbeitet er an der Hebräischen Universität. „Als Juden halten wir natürlich zu Israel. Aber meine gesamte Verwandtschaft findet es komisch, dass ich hier bin. Natürlich waren viele von denen schon mal hier für ein bis zwei Wochen, aber warum gleich für zwei Jahre? Sie verstehen mich nicht.“ In den letzten Wochen rufen seine Eltern ihn mehrfach täglich an. „Es ist jedes Mal dasselbe: ‚Komm nach Hause‘, sagen sie. Doch ich sage ihnen immer: ‚Wann versteht ihr endlich, dass ich einen Arbeitsvertrag hier habe? Ich bleibe bis nächsten Sommer.‘“ Manchmal ist ihm etwas seltsam zumute, wenn er auf die Straße geht, aber insgesamt ist der junge Mann gelassen: „Durch die Messerattacken werde ich mir nicht meine Karriere ruinieren.“
Angst durch Propaganda
Nicht nur für Juden ist die Situation in den vergangenen Wochen schwierig. Die gläubige Muslima Nur ist Beduinin und in Galiläa verheiratet. Als Beduinin trägt sie auch ein Kopftuch und den traditionellen Mantel, der bis zu den Schuhen reicht. „Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie schrecklich es für mich ist, aus dem Haus zu gehen. Diese Blicke, die alle auf mich werfen und dann die Angst, dass mich ein Polizist untersuchen wollte“, sagt sie ihrer Freundin aus dem Ausland am Telefon.
Von klein auf hat Nur Kontakt zu Juden, sie spricht fließend Hebräisch und hat einen Abschluss an einer israelischen Fachhochschule. Und trotzdem scheint die Propagandamaschinerie der arabischen Presse bei Nur zu wirken: Viele Presseberichte erzählen, dass die Sicherheitskräfte wahllos Palästinenser verprügeln oder erschießen würden. Der Erschossene wird als Märtyrer bezeichnet. Unerwähnt bleibt, dass er vorher eine Attacke auf Israelis ausgeübt hat.
„Wenn ich zum Arzt oder zum Studium muss, dann fahre ich auch mal nach Kirijat Motzkin oder nach Karmiel. Doch grundsätzlich bleibe ich lieber zu Hause und warte ab, bis der Spuk vorbei ist.“ Die junge Frau seufzt: „Früher hatte ich Angst, nach Jerusalem, zum Haram al-Scharif, zur Al-Aksa-Moschee zu fahren. Doch heute wird mir schon mulmig, wenn ich nach Haifa komme. Hast du denn keine Angst?“, fragt sie die Freundin. Die überlegt kurz und sagt: „Eigentlich nicht. Schau mal, die Wahrscheinlichkeit …“ Nur fällt ihr ins Wort: „Das solltest du aber!“ Und dann fügt sie nach einer kurzen Pause hinzu: „Wobei – vielleicht musst du wirklich keine Angst haben, du siehst nicht aus wie eine Araberin. Da hast du wohl tatsächlich nichts zu befürchten.“ (mh)