Der Direktor für Recherchen am Pariser Institut für internationale und strategische Studien (IRIS), Karim Bitar, fasst dem gegenüber die große Sorge der Nationalen Rettungsfront zusammen, in der sich so bekannte Persönlichkeiten wie der ehemalige Chef der Arabischen Liga, Amr Mussa, der Linkspolitiker Hamdien Sabahi oder auch der ehemalige Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed el-Baradei, zusammengeschlossen haben. „Sie stellen sich gegen Totalitarismus, Willkür und Verwirrung der jetzigen Machthaber“, erklärt Bitar.
Am 22. November hatte sich der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens, Mohammed Mursi, selbst per Dekret umfassende Vollmachten verliehen und damit gerichtlicher Kontrolle entzogen. Zweieinhalb Wochen später, am 9. Dezember, beschloss er eine Steuererhöhung – und nahm diese Entscheidung noch am selben Tag wieder zurück, weil sie selbst von seiner eigenen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit abgelehnt wurde. Die Folge waren gewaltsame Ausschreitungen. In Alexandria gingen rivalisierende Fraktionen mit Knüppeln, Messern und Macheten aufeinander los, steckten Autos in Brand. Acht Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Mehrere Berater des Präsidenten traten zurück. In der ägyptischen Gesellschaft wurde ein tiefer Riss offensichtlich.
Jetzt soll ein Volksentscheid über einen Verfassungsentwurf aus der Krise führen, die Vollmachten, die der Präsident sich selbst erteilt hat, bestätigen und dabei offensichtlich die unabhängige Gerichtsbarkeit und die nicht-islamistische Opposition ausspielen. Der Ex-Muslimbruder Mursi, in dessen politischem Vokabular das Wort „Kompromiss“ fehlt, hofft auf ein Vertrauensvotum.
Liberale, säkulare und christliche Kritiker befürchten, dass das Gesetzeswerk, das eine in elf Abschnitte unterteilte Präambel und 236 Artikel umfasst, die Rechtsgrundlage zur Einschränkung bürgerlicher Freiheiten bietet. So sollen künftig islamische Gelehrte Gesetzesvorlagen auf ihre Übereinstimmung mit der Scharia, dem islamischen Recht, überprüfen. Gegner des islamistischen Verfassungsentwurfs vermissen einen angemessenen Schutz der Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten. Sie sehen darin die verfassungsrechtliche Basis für eine Religionspolizei im Stil Saudi-Arabiens, eine Institutionalisierung der Verfolgung religiöser Minderheiten. Immer lauter wird die Sorge, der arabische Frühling habe Ägypten nicht auf den Weg in Richtung Demokratie geschickt, sondern lediglich eine säkulare Diktatur durch eine offensichtlich islamische ersetzt.
„Dokument von Ungläubigen“
Doch auch von rechts wird das Vorgehen des islamistischen Präsidenten Ägyptens kritisiert. Während ein Großteil der Salafis den Verfassungsentwurf der Muslimbruderschaft unterstützt, lehnen ihn salafitische Dschihadisten als „Dokument von Ungläubigen“ ab. Sie beklagen, dass der Verfassungsentwurf auf westlichen Prinzipien beruhe, dass Alkoholkonsum, Prostitution und Homosexualität nicht verfolgt werden und vor allem, dass das Volk als Souverän bezeichnet wird – was sie als Unterminierung der Souveränität Allahs verstehen. So unterstrich Muhammad al-Sawahiri, Bruder von Al-Qaida-Chef Ajman al-Sawahiri und Anführer der salafitischen Dschihadisten in Ägypten: „Souveränität gebührt allein Allah, ohne jeden Partner!“ Gleichzeitig bedrohen diese Extrem-Salafiten aber auch diejenigen – Liberale, Säkulare, Christen –, die gegen die religiöse Natur der neuen Verfassung protestieren.
Die neue Verfassung Ägyptens ist ein entscheidender Schritt hin zu einem mehr islamischen Charakter des Landes. Bereits im Vorfeld war klar, was der erste Wahlgang bestätigt hat: Eine Mehrheit der Ägypter ist für den Verfassungsentwurf der Muslimbruderschaft. Im ersten Wahlgang stimmten fast 57 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja, während sich nicht einmal 30 Prozent gegen den neuen Verfassungsentwurf aussprachen. Nur eine absolute Mehrheit ist zur Bestätigung der neuen Verfassung in Ägypten notwendig. Wenn das Volk die neue Verfassung bestätigt, wird es voraussichtlich innerhalb von zwei Monaten Neuwahlen für das Parlament geben, die aller Wahrscheinlichkeit nach wieder von den islamistischen Parteien gewonnen werden, die schon bei den letzten Parlamentswahlen eine Zweidrittelmehrheit errungen haben.
Wenn westlich orientierte Gegner des Verfassungsentwurfs ihre Ablehnung damit begründen, er werde die größte arabische Nation nur noch tiefer spalten, müssen sich diese Liberalen, Säkularen und Christen aber auch die Frage gefallen lassen, ob der Graben im Land am Nil tatsächlich noch größer werden kann. Wird jetzt nicht offenbar, was seit langem von denen, die sich jetzt dagegen wehren, zementiert wurde? Jahrzehntelang wurde das säkulare Regime von Hosni Mubarak vom Westen hofiert und hat gleichzeitig Muslimbrüder, Salafiten und Dschihadisten grausam verfolgt. Jeder, der Ägypten auch nur oberflächlich kannte, wusste darum. Der Westen, seine Medien und alle, die sich heute als „säkular“ und „liberal“ bezeichnen, haben geschwiegen.
Islamischer Winter
Der arabische Frühling und jetzt dezidiert die jüngste Entwicklung in Ägypten zeigen, dass Demokratisierung nicht automatisch zu einer liberalen, freiheitlichen Gesellschaftsordnung nach westlichen Vorstellungen führen muss. Gesellschaften, die nicht von den Idealen der europäischen Aufklärung geprägt und von der westlichen Welt zutiefst enttäuscht sind, werden andere Wege bevorzugen. Dabei hilft nicht, den Kopf in den Sand liberaler Träume zu stecken. Was jahrzehntelang von ganz unterschiedlichen und nicht selten einander gegnerisch gesinnten Akteuren gesät wurde, geht jetzt auf und wird Früchte tragen. Der säkulare Liberalismus streckt angesichts des radikalen Islam seine Waffen. Auf den arabischen Frühling folgt nach einem heißen, blutigen Sommer der islamische Winter.