Ende Juni hatte Ägypten eine „Tahdija“, eine „Beruhigung“, zwischen Hamas und Israel vermittelt. Das war nur eine Absprache und kein unterzeichneter Vertrag. Denn für Israel ist die Hamas eine Terror-Organisation, mit der nicht verhandelt werden könne, während Israel für die Hamas ein illegitimes „zionistisches Gebilde“ ist, das es gar nicht gibt. Für Israel ist zudem allein die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als Repräsentant des palästinensischen Volkes der offizielle Gesprächspartner und nicht eine Organisation wie die Hamas, die noch dazu die PLO nicht anerkennt und gegen den Willen der Autonomiebehörde geputscht hat. Sie hat vor über einem Jahr gewaltsam die Macht im Gazastreifen an sich gerissen. Jenseits dieser diplomatischen Formalitäten gilt die normative Kraft des Faktischen: eine real existierende Hamas in Gaza und ein real existierender Staat Israel.
Zu den Absurditäten des Nahen Ostens gehört die Methode, einen Waffenstillstand auf sechs Monate zu befristen. Oder anders ausgedrückt: Man einigt sich von vornherein auf den Tag, an dem die Kämpfe im beiderseitigen Einverständnis wieder munter weitergehen dürfen. Dieser Stichtag ist diesmal Freitag, der 19. Dezember 2008.
Waffenstillstand bedeutete aber nicht, dass dann die Waffen wirklich ruhen. Während der „Tahdija“ enthielt sich Israel gezielter Tötungen und der Bombardements von Raketenfabriken im Gazastreifen. Gleichwohl drangen Truppen mehrmals einige hundert Meter tief in das Gebiet ein, um Tunnel zu sprengen, durch die Hamas-Kämpfer unter dem Grenzzaun hindurch nach Israel eindringen wollten mit dem Ziel, Soldaten zu entführen oder Anschläge zu verüben. In den letzten Tagen hat Israel vermehrt Raketenwerfer und deren Bedienmannschaften angegriffen, als die sich anschickten, Kassam-Raketen abzuschießen, oder nachdem sie Raketen aufsteigen ließen.
Livni für Einmarsch in Gazastreifen
Auch die Hamas blieb keineswegs untätig. Eine Zeitlang herrschte eine trügerische Ruhe, wie seit Jahren nicht mehr. Ab dem 4. November mehrte sich aber der Beschuss von Raketen und Mörsergranaten. Am Mittwoch allein explodierten 24 Geschosse in Sderot, Aschkelon und im Grenzgebiet. Eine Rakete traf den Supermarkt im Geschäftszentrum von Sderot. Autos und Weinflaschen gingen in die Brüche. Mehrere Menschen wurden leicht verletzt. Nach Angaben eines israelischen Militärsprechers wurden vom 19. Juni bis zum heutigen Donnerstag 234 Kassam-Raketen, fünf Grad-Raketen mit größerer Reichweite und 185 Mörsergranaten gezählt. Einige der 200 mm-Mörsergranaten mit Motor seien iranische Kopien von Granaten, die Israels Militärindustrie in den siebziger Jahren an den Iran geliefert habe. Das steht in einer offiziellen Erklärung des israelischen Außenministeriums zum „unerträglichen Zustand“. Die wahlkämpfende Außenministerin Zippi Livni zählt zu den lautstärksten Verfechtern eines Einmarsches in den Gazastreifen und erklärte vor einigen Tagen, dass nicht jeder in Gefangenschaft geratene Soldat zurückgeholt werden könne, wenn der Preis dafür unerträglich hoch sei. Livni löste große Empörung aus und verlor prompt Punkte bei Umfragen im Vorfeld der Parlamentswahlen.
Muschir el-Masri, Sprecher der Hamas im Gazastreifen, behauptete, während der vermeintlichen Feuerpause nur „reagiert“ zu haben, wenn Israel die Waffenruhe verletzt habe. Eine israelische „Verletzung“ des Abkommens ist auch das Töten der Bedienungsmannschaft eines Raketenwerfers, nachdem die gerade Israel beschossen hat. Ab Freitag, ohne eine genaue Uhrzeit zu nennen, werde die Hamas wieder ihre „nationale Aufgabe des bewaffneten Widerstandes“ aufnehmen, ohne israelische Attacken abzuwarten. Auch die israelische Regierung hat angeblich schon Beschlüsse gefasst, doch die Minister wurden verpflichtet, diese geheim zu halten.
Druck auf Israel steigt
Offen bleibt also, was beide Seiten wirklich wollen. Die Hamas will aus ideologischen Gründen Israel angreifen, jedoch keinen israelischen Einmarsch riskieren, der ihrer Herrschaft ein Ende setzen könnte. Umgekehrt steigt der Druck auf die israelische Regierung, endlich dem lebensgefährlichen Spuk ein Ende zu bereiten. Gleichzeitig will Israels Regierung weder ein Blutbad in Gaza anrichten noch im Falle eines Einmarsches die vorhersehbaren Verluste unter ihren Soldaten. Zudem hat Israel kein Interesse, die Bürde einer erneuten Besatzung des Gazastreifens auf sich zu nehmen, nachdem es erst im Sommer 2005 alle Siedlungen geräumt und sich völlig aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Außerdem wagen israelische Politiker keinen unbedachten Schritt, der den sicheren Tod des entführten Soldaten Gilad Schalit bedeuten würde. Schalit sitzt seit über 900 Tagen bei der Hamas in Geiselhaft und ist dadurch zum Mythos aufgestiegen. Die Stadt Paris verlieh ihm die Ehrenbürgerschaft, weil er auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt. In Israels Medien wird mehrmals täglich daran erinnert, wie viele Tage er schon in Gefangenschaft sitzt, ohne dass Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes ihn bislang besuchen durften.