Manchmal geht es bei den Entscheidungen des Mustafa Abu Awwad um Leben und Tod, etwa bei Blutrache. Als bei einem Autounfall ein junger Mann getötet wurde, nahm Abu Masen den schuldigen Autofahrer in Schutzhaft bei sich zu Hause auf. Bei der geschädigten Familie erreichte er einen Aufschub der Ausführung der Blutrache. Dann begannen die Verhandlungen. Der Schuldige kam erst frei, als seine Sippe an die Familie des Getöteten eine Summe von 10.000 Jordanischen Dinaren – umgerechnet etwa 9.200 Euro – gezahlt hatte. Bei wichtigen Geschäften bezahlen die palästinensischen Araber auch heute noch mit der Währung des haschemitischen Königreichs, nicht etwa mit israelischen Schekeln, amerikanischen Dollars oder europäischen Euros.
Aber Mustafa Abu Awwad steht der Sinn momentan weder nach Ausgleich noch nach Geschäft. „Die ganze Welt anerkennt das Recht der Palästinenser, in ihr Land zurückzukehren. Aber wo bleiben Gerechtigkeit und Gleichberechtigung?!“, klagt der Mann, der unter seinen Landsleuten für Ausgleich und Verständigung sorgt. Die Unabhängigkeitsfeiern des Staates Israel kennt er aus dem Fernsehen – und er bekommt sie zu spüren, weil die Autonomiegebiete während solcher Festtage traditionell abgeriegelt werden. „Die Juden feiern auf Land, das sie geraubt haben. Wir Palästinenser gedenken der Katastrophe – arabisch ‚Al-Nakba‘ -, bei der viele von uns ums Leben kamen, und durch die wir zu Heimatlosen wurden.“
Mit zwölf Jahren aus Heimatdorf geflohen
Im Alter von zwölf Jahren musste Mustafa Abu Awwad aus seiner Heimat Subarin, einem kleinen Dorf in der Nähe von Haifa, fliehen. Heute liegen dort auf den südlichen Ausläufern des Karmel-Gebirges nur noch die israelischen Ortschaften Amikam und Givat Nili, unweit der bekannteren Dörfer Sichron Ja´akov und Benjamina. „Im Februar 1948 kamen die jüdischen Organisationen Stern und Haganah ins Dorf“, erzählt Mustafa, „einige von uns haben sie getötet, andere verhaftet, die meisten vertrieben.“ Laut UNO haben im darauf folgenden Jahr zirka 700.000 palästinensische Araber ihre Heimat verlassen. Heute sind es schätzungsweise drei Millionen Menschen, die sich als palästinensische Flüchtlinge bezeichnen und ein Recht auf Rückkehr einfordern.
Auf die Frage, welche Gräueltaten der Juden er selbst miterlebt habe, weiß Mustafa Abu Awwad keine Antwort. Erst auf weiteres Drängen fallen dem alten Mann die Namen von Leuten aus Subarin ein, die damals ums Leben kamen: Fuad Fares, Abdul Rahim Irhaiem, Abdul Wahab Abu Hassan, Fatima Abu Lubda, Dschamil Hweidi – „ach ja, und mein Großvater Mustafa Hassan Abu Awwad wurde auch in dieser Zeit ermordet“, fällt ihm dann wieder ein. „Die Juden haben alle Männer zusammengetrieben. Wir haben keinen Widerstand geleistet, denn wir hatten keine Munition. Aber andere Dörfer in der Gegend haben noch bis Dezember gekämpft.“
Von Subarin aus irrte die Großfamilie Abu Awwad seit dem Frühsommer 1948 einige Monate in der Gegend um Dschenin umher. „Rumana“, „Jamun“, „Al-Araka“ sind Ortschaftsnamen, die Mustafa aus seiner Teenagerzeit einfallen: „In manchen Dörfern mussten wir mehrfach umziehen. Es war nicht leicht, für die Kamele eine Unterkunft zu finden.“
Begeisterung für Kamele
Wenn Mustafa an die Kamele seines Vaters denkt, kommt er ins Schwärmen: „Mit einem Kamel kann man überall hin reisen, durch ganz Palästina, nach Jordanien, bis nach Damaskus und Ägypten. Was heute das Auto ist, war damals das Kamel: Taxi, Lastwagen. Wir haben zwischen Haifa und den umliegenden Dörfern Melonen transportiert“, erinnert er sich, „und wurden dafür mit Melonen bezahlt. Pro Transport bekamen wir vier Melonen. So war das immer: Man wurde mit einem Teil der Ladung entschädigt.“
Vor einem halben Jahrhundert war das Kamel für die palästinensischen Araber die Quelle des Familieneinkommens. Nicht nur zum Reisen oder Lastentransport wurde das genügsame Tier eingesetzt, sondern auch in der Landwirtschaft. „Zwei Kamele garantieren einen Lebensunterhalt für 15 Personen“, erinnert sich Mustafa Abu Awwad. Wolle und Fleisch der Kamele werden verwertet, aber – das weiß Mustafa ganz genau: „Auch die Milch ist sehr nützlich. Sie vermehrt das Blut und die sexuelle Leistungsfähigkeit.“ Eine Braut wird während der Hochzeit aufs Kamel gesetzt.
Eiskalter Winter 1950
Den Winter 1950 wird Mustafa Abu Awwad nie vergessen: „Es war sehr schlechtes Wetter mit furchtbar viel Eis und Schnee. Es war so kalt wie seit Menschengedenken nicht mehr. Bis heute sagen die Leute: ‚Der ist im Jahr des Eises geboren!'“ Andere nannten ihre Töchter, die in diesem Winter geboren wurden, „Theldsch“, was übersetzt „Eis“ oder „Schnee“ bedeutet. Allerdings ist das kein Kosename, wie etwa der Name „Schneewittchen“ für die Deutschen, bei denen die Vorstellung einer verschneiten Landschaft immer eine romantisch-heimelige Atmosphäre mit sich trägt – vor allem, wenn sie sich in Staub und Hitze des Orients herumschlagen. „Theldsch“ ist ein Fluch, betont Mustafa, „denn Eis und Schnee machen das Leben unmöglich – oder zumindest unerträglich schwer.“
Abu Masen und seine Familie fanden schließlich eine vorläufige Unterkunft im Flüchtlingslager „Dschansour“, das die Vereinten Nationen in Dschenin aufgebaut hatten – „ganz in der Nähe, wo die irakischen Soldaten begraben sind. Dort wurden wir von der UN versorgt.“ Mit 18 heiratete er ein Mädchen aus seinem Heimatdorf. „Ich musste 50 Dinare für sie bezahlen. Vielleicht war sie so billig, weil sie ebenfalls ein Flüchtlingskind war. Normalerweise hätte sie 100 Dinare gekostet.“ Für 100 Dinare bekam man damals vier Kamele.
1957 schloss er sich der jordanischen Armee an – „nicht, um für mein Land zu kämpfen, sondern um zu überleben und etwas zu verdienen. Genau so, wie das heute auch viele arbeitslose junge Männer tun.“ Mustafa erinnert sich an seinen ersten Sold in der Armee des jungen Haschemitenherrschers Hussein: „Ich verdiente fünf Jordanische Dinar im Monat und blieb 17 Jahre bei der Armee.“
Letztendlich hat Mustafa Abu Awwad dann aber mit seiner Familie eine Bleibe im Flüchtlingslager Nur a-Schams am Ostrand der palästinensischen Autonomiestadt Tulkarm gefunden. „Nur a-Schams“ heißt übersetzt „Licht der Sonne“ – „Sonnenschein“. Dort hat er jahrzehntelang für die UNWRA – die „United Nations Relief and Works Agency“ – gearbeitet. Heute hat der 72-Jährige drei Söhne, drei Töchter und eine ganze Reihe von Enkeln.
Schlüssel vom Haus seiner Kindheit
In dem bescheidenen Haus zeigt er bereitwillig den Schlüssel von seinem Haus in Subarin, die Schere, mit der einst die Wolle der Kamele geschoren wurde, seine Geburtsurkunde von der britischen Mandatsverwaltung Palästina in arabischer, englischer und hebräischer Sprache, Steuerbescheinigungen und andere vergilbte Dokumente. Alle diese Dinge sollen das Recht auf die alte Heimat beweisen, die er vor mehr als einem halben Jahrhundert verlassen musste. Die Enkel Salaam, Salma und Nura zeigen das Festgewand des Urgroßvaters, der aus Subarin vertrieben wurde. An der Wand hängen die Bilder derer, die hervorragend die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge in der Weltöffentlichkeit zur Geltung gebracht haben: Jasser Arafat und Saddam Hussein.
Nachdem der obligatorische süße Kaffee aus kleinen Tassen geschlürft wurde, setzt sich Faisal Dawwas Mahmud Abu Awwad in Pose. Mustafas Sohn beweist durch einen Ausweis, dass er der Vorsitzende der palästinensischen Poetenvereinigung in Tulkarm ist. Mit theatralischer Vollkommenheit trägt er ein Gedicht vor, das unter der Überschrift „Al-Nakba“ die palästinensische Nationalkatastrophe aus Sicht der Familie Abu Awwad aus dem Dorfe Subarin beschreibt. Schwermütig bewegend trägt die orientalische Melodie die Worte hinaus in die engen beton- und hohlblockzermauerten Wände des Flüchtlingslagers Nur a-Schams.
Romantische Träume von vergangener Idylle
Im virtuellen Gespräch mit seinem Großvater besingt Faisal Abu Awwad die gute alte Zeit, die arabeske Idylle, in der es keinen Streit, keinen Hunger und kein Leid gegeben haben soll. Dann fragt der Enkel, der im Flüchtlingslager „Sonnenschein“ aufwachsen musste, den alten Großvater: Warum bist Du geflohen? Waren es wirklich so viele jüdische Angreifer? – Die Antwort des alten Heimatlosen ist historisch erstaunlich exakt: Es waren die Gerüchte, die Angst vor Massakern, „dass etwas Schlimmeres passieren“ könne, was „unseren Frauen angetan werden“ könnte, und dass „unserer Religion Schaden entstehen“ könnte, die sie zum Verlassen der Heimat veranlasste – und das Versprechen: „In zwei oder drei Wochen werdet ihr zurückkehren und alles wird, wie es war.“
Mit offenen Augen träumt der Poet von der Rückkehr in die alte orientalische Idylle, die geprägt ist vom Geschmack des wilden Oregano, dem Gegacker der Hühner, dem Gemurmel der Koran-Schüler, dem Gebetsruf des Muezzin und einer Unzahl weiterer romantischer Bilder: Die Frauen gehen zum Brunnen; holen den Weizen von der Tenne, während der Hirte mit seinen starken Muskeln, „der sich vor keinem Wolf fürchtet“, vorbeischlendert… Auch eine gestakste Übersetzung lässt den Reichtum der arabischen Volkspoesie erahnen.
Man spürt den Worten des Faisal Abu Awwad ab: Das palästinensische Flüchtlingsdasein ist Fluch und Adel zugleich. Vorrecht und Stigma sind zwei Seiten ein und derselben Münze. Er ist stolz darauf, gedemütigt zu werden. Ohne die verhassten Zionisten, ohne den Mythos von Vertreibung, blutigen Massakern und endloser Besatzung hätten diese Menschen ein Problem, ihre Identität und vielleicht sogar ihre Daseinsberechtigung zu erklären.