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Heiß diskutiert: Ein Nationalstaat für das jüdische Volk

In den letzten Wochen des Jahres 2014 erregte ein Gesetzesvorschlag die Gemüter in Israel und weit darüber hinaus. Die Regierung Netanjahu will Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes gesetzlich verankern. Warner riechen ein Wiederaufleben rassistisch motivierter Unterdrückung.
Benjamin Netanjahus Vorschlag zum Nationalitätsgesetz stößt vor allem im Ausland auf Kritik.
Die Wurzeln des jüdischen Volkes lassen sich über etwa 4.000 Jahre zurückverfolgen. Fast genauso alt ist der Slogan: „Lasst uns sie ausrotten, dass sie kein Volk mehr seien und des Namens Israel nicht mehr gedacht werde!“ (Psalm 83,5; Luther 1984). Die Angst vor der Vernichtung, das Gefühl, ständig bedroht zu sein, prägt jüdisches Denken zutiefst. Deshalb lassen Juden ihre Jarmulke verschwinden, wenn sie in Frankfurt das Flugzeug verlassen. Deshalb werden gewöhnlich sehr breitspurig daherkommende Israelis mancherorts plötzlich ganz kleinlaut. Wer Israel verstehen will, muss dieses Gefühl ernst nehmen – auch wenn es nicht immer logisch und heute vielleicht weniger gerechtfertigt erscheint denn je. Rein rational gesehen, war es noch nie so gut um die Sicherheit des jüdischen Volkes bestellt, wie heute. Noch nie in der Geschichte hatten Juden so viel militärische Macht und so großen Einfluss weltweit, um sich selbst zu verteidigen. Demografische Gespenster, die aufgrund von Geburtenraten eine jüdische Minderheit in Israel prophezeien, beruhen auf veralteten Zahlen. Die neuesten Trends sprechen für ein jüdisches Israel, möglicherweise sogar im Falle einer Ein-Staaten-Lösung. Ein nuklear bewaffneter Iran ist eine viel größere Bedrohung für dessen arabisch-sunnitische Nachbarstaaten als für Israel. Die westliche Welt, allen voran Europa, ist von einer Atombombe der Mullahs, verbunden mit einem weitreichenden Raketenarsenal, mindestens ebenso bedroht, wie der Staat Israel. Aber Angst hat nur selten mit Ratio zu tun. Und dann präsentiert sich die schwedische Parlamentsabgeordnete Hillevi Larsson lächelnd vor einer Palästinenserflagge mit einer Landkarte von „ganz Palästina“ im Arm – also inklusive des Staatsgebiets von Israel! Zeitgleich anerkennt ihr Land, gewissermaßen als Avantgarde Europas, Palästina als unabhängigen Staat, dessen Präsident Mahmud Abbas nicht müde wird, zu verkünden, „sechs Millionen Palästinenser“ wollten in ihre Häuser nach Israel zurückkehren – er selbst eingeschlossen. Angesichts des Gesetzesvorschlags wettert Abbas gegen das Apartheid-System der Israelis und gelobt, den jüdischen Charakter Israels niemals anzuerkennen. Geräuschkulisse zu diesem Szenario bildet aus israelischer Perspektive der Gefechtslärm auf den Golanhöhen, wo sich auf der anderen Seite der Grenze Syriens Al-Qaida, die so genannte Nusra-Front, mit Präsident Baschar Assads Truppen blutige Gefechte liefern. Die Kulisse des „arabischen Frühlings“, der nun schon seit einigen Jahren zeigt, wie arabische Selbstbestimmung aussehen könnte, ist genauso wenig dazu angetan, alteingesessenen jüdischen Ängsten entgegenzuwirken, wie europäische Beteuerungen, die Idee der Nationalstaaten sei überholt. Das jüdische Volk sieht sich selbst als ethnische und religiöse Minderheit, das in die Ecke gedrängt um seine Existenz kämpfen muss. In diesem Kontext muss der Vorstoß, ein „Grundgesetz, das Israel als den Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definieren soll, beurteilt werden. Dabei ist allerdings noch gar nicht klar, wie der genaue Gesetzestext überhaupt aussieht. Mindestens drei Entwürfe liegen bislang auf dem Tisch. Alle benennen als Zweck des Staates Israel, Heimstätte und Zufluchtsort des jüdischen Volkes zu sein. Alle betonen die demokratische Staatsform des Staates, beschreiben seine Symbole und Sprache, seinen Kalender und seine gesetzlichen Feiertage.

Entwürfe bieten wenig Neues

Der erste Entwurf stammt aus dem Jahr 2011, ausgerechnet von der als „Mitte-Links“ geltenden Kadima-Partei, deren ehemalige Chefin Zippi Livni heute so vehement dagegen auftritt. Ein zweiter Gesetzesentwurf stammt von Abgeordneten des „Mitte-Rechts“ einzuordnenden Likuds von Premierminister Benjamin Netanjahu und der Rechtsparteien HaBait HaJehudi (Jüdisches Haus) und Israel Beiteinu (Israel, unsere Heimat). Der wirklich bemerkenswerte Unterschied zwischen diesen beiden Vorlagen ist, dass die „gemäßigte“ Kadima-Partei Arabisch zu „einer Sprache mit besonderem Status“ degradieren wollte – während der Entwurf der „rechten“ Abgeordneten den Status des Arabischen als zweiter Amtssprache nicht antastet. Ansonsten steht in dem Gesetzesentwurf nichts Neues, etwa im Vergleich zur Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel aus dem Jahr 1948. Sie spricht bereits von einem Nationalstaat des jüdischen Volkes und baut damit auf die Balfour-Erklärung von 1917, das Völkerbundmandat von 1922 und den so genannten UNO-Teilungsplan von 1947 auf. Einziger Problempunkt: Die Unabhängigkeitserklärung hat in Israel bislang keinen rechtlich bindenden Charakter. Der Staat Israel hat keine Verfassung, sondern nur einige Grundgesetze. Bereits 1948, unmittelbar nach der Gründung des Staates, hätte die Nationalversammlung zwar innerhalb von sechs Monaten eine Verfassung erarbeiten sollen. Da sich die israelischen Gesetzgeber bis heute aber nicht einigen konnten, ist die Sechs-Monats-Frist eben noch nicht verstrichen. Grundlegende Rechte wurden im Laufe der Jahre durch eine Reihe von Grundgesetzen verbindlich formuliert. Diesen Grundgesetzen will Netanjahu jetzt ein weiteres hinzufügen, das Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes definiert – um diesen Aspekt der Unabhängigkeitserklärung rechtlich festzulegen. Dabei soll an der nicht selten spannungsgeladenen Tatsache, dass Israel gleichzeitig ein jüdischer Staat und eine Demokratie sein will, ebenso wenig verändert werden, wie an den Rechten der nichtjüdischen Bürger und dem freien Zugang zu allen heiligen Stätten auf dem Territorium des Staates.

Kritik aus der Schweiz und aus Deutschland

Die meisten israelisch-jüdischen Kritiker des Grundgesetzentwurfs, zu denen nicht zuletzt Staatspräsident Reuven Rivlin gehört, scheinen sich weniger an Inhalten zu stoßen, als vielmehr Angst vor den internationalen Reaktionen zu haben. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht. Tatsächlich wetterte denn auch „Der Spiegel“ reflexartig, die arabischen Israelis, immerhin 20 Prozent der Bevölkerung, würden durch das neue Grundgesetz zu Bürgern zweiter Klasse abgestempelt. Die „Neue Zürcher Zeitung“ echauffiert sich darüber, dass jüdisches Recht als eine – wohlgemerkt nicht die – Quelle der Gesetzgebung Israels festgelegt werde. Dabei scheint man in der Schweiz ganz übersehen zu haben, dass zum Beispiel der jüdische Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ die Verhältnismäßigkeit von Vergehen und Bestrafung festlegt und zu den Grundsätzen europäischer Rechtsprechung gehört. Auch das Gebot „Du sollst nicht morden“, das hoffentlich in der Schweiz noch gültig ist, entspringt jüdischem Recht. In Deutschland beurteilt „Die Zeit“ die rechtliche Verankerung Israels als jüdischer Nationalstaat als Symptom dafür, „wie sehr Politik und Gesellschaft [in Israel] nach rechts gerückt sind“. Übersehen wurde dabei offensichtlich, dass es „die Rechten“ Israels waren, die den ursprünglich „linken“ Gesetzentwurf von der Diskriminierung der arabischen Landessprache als sekundär befreit haben. Oder ist „rechts“ nicht mehr „rechts“ und „links“ nicht mehr „links“? Vielleicht haben die israelischen „Rechten“ diesen Aspekt des neuen Gesetzes auch bislang nur übersehen, und werden ihn, sobald ihnen das auffällt, schleunigst korrigieren, um so wieder nach „rechts“ zu den „Linken“ zu rücken, damit dann vielleicht auch die frühere Kadima-Parteichefin Livni dem Gesetzentwurf zustimmen kann? Aber das ist alles Spekulation. Tatsache ist, dass bislang weder ein gültiger Gesetzestext vorliegt, noch ein von einer Mehrheit der Knesset verabschiedetes Gesetz. Sicher scheint allerdings schon jetzt, dass ein neues Grundgesetz, das Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes deklariert, nur unwesentlich von den Aussagen der Unabhängigkeitserklärung abweichen dürfte. Damit dürfte es dann in etwa dem jüdischen Volk garantieren, was das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dem deutschen Volk garantiert. So gewähren viele Länder der Welt Menschen mit einem bestimmten ethnischen Hintergrund vereinfachte Einwanderungsbedingungen, das heißt, ein „Recht auf Rückkehr“. Dazu gehört auch die Bundesrepublik Deutschland, etwa im Blick auf deutschstämmige Menschen wie die Wolga-Deutschen. Ein Drittel der 196 Staaten unseres Planeten tragen religiöse Symbole in ihren Flaggen. 31 Staaten bekennen sich so zum Christentum, 21 zum Islam, elf zu südamerikanischen oder asiatischen Religionen – ganz ungeachtet übrigens der andersgläubigen Minderheiten in diesen Ländern. Dass die Flagge Israels dem jüdischen Gebetsschal nachempfunden ist und den Davidsstern im Zentrum trägt, ist somit einzigartig, aber nichts Besonderes. 57 Mitglieder der weltweiten Staatengemeinschaft identifizieren sich ausdrücklich als muslimische Staaten und haben sich genauso mit der Spannung zwischen Religion und Demokratie auseinanderzusetzen – sofern eine Demokratie überhaupt in ihrem Interesse liegt.

Palästinensische Absage an Zwei-Staaten-Lösung?

Eigentlicher Adressat der diskutierten Gesetzesinitiative bleibt aber der palästinensische Präsident Mahmud Abbas. „Abu Masen“, wie sein Volk ihn nennt, wird nicht müde zu wiederholen: „Die Palästinenser werden Israel niemals als jüdischen Staat anerkennen.“ Sollte das wahr sein, wäre dies eine grundsätzliche Absage der Palästinenser an die Zwei-Staaten-Lösung. Und alle, die den Nahostkonflikt mit zwei Staaten lösen wollen, werden nach dem Aufwachen oder der „Ent-Täuschung“ vermutlich ganz schnell zu großen Anhängern eines Textes werden, der Israel zum Nationalstaat des jüdischen Volkes neben einem Nationalstaat des palästinensischen Volkes erklärt.

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