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Nahostkonflikt wie ein „verzwickter Ehestreit“

Deutsche sollten kritisch mit Informationen umgehen, die sie über den Nahostkonflikt erhalten. Dies hat der evangelische Theologe Gerhard Gronauer in einem Vortrag in Gießen empfohlen. Am Beispiel eines ZDF-Beitrages zeigte er auf, wie Medienberichte mitunter zu einer verzerrten Wahrnehmung führen.
Plädiert für einen fairen Umgang mit Israel: der Kirchenhistoriker Gerhard Gronauer
In seiner Doktorarbeit hat sich Gerhard Gronauer mit offiziellen protestantischen Verlautbarungen zu den deutsch-israelischen Beziehungen befasst – von 1948 bis 1973. Genau 50 Jahre nach dem Beginn der diplomatischen Beziehungen stellt er am Dienstag bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Gießener Mathematikum fest: Sie funktionieren trotz des Nahostkonfliktes und der Kritik daran. Er beobachtet eine Konzentration auf konfliktreiche Themen. Für den Vortrag hat er den Titel gewählt: „Gemeinsame Werte und Ziele: 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland“. Christen in der Bundesrepublik hätten bereits wenige Jahre nach der Staatsgründung von 1948 angefangen, Israel zu besuchen. Ab 1958 habe es kirchliche Gruppenreisen gegeben. Deshalb sei die Wahrnehmung des jüdischen Staates in Westdeutschland anders gewesen als in der DDR, wo die persönlichen Erfahrungen gefehlt hätten, meint Gronauer. Evangelische Christen hätten sich früh für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen ausgesprochen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) habe unter anderem durch ihren Ratsvorsitzenden Kurt Scharf versucht, Bundestagsabgeordnete für dieses Vorhaben zu gewinnen. Heute sei das Ansehen Israels in der deutschen Bevölkerung nicht hoch. Das zeige unter anderem die Bertelsmann-Studie, die Anfang des Jahres vorgestellt wurde. Umgekehrt hätten die Israelis eine hohe Meinung von Deutschland. Die beiden Völker hätten unterschiedliche Lehren aus der verbindenden Geschichte der Scho‘ah gezogen. Der Kirchenhistoriker erinnert an den immer wieder zitierten Satz: „Bei den Deutschen heißt es: ‚Nie wieder Krieg‘. Bei den Israelis heißt es: ‚Nie wieder Opfer‘.“

„Juden wurden umgebracht, aber Israel ist der Böse“

Welche Faktoren mitunter die Bewertung des jüdischen Staates beeinflussten, zeigt der Referent an einem Ausschnitt aus dem „heute journal“ vom 18. November 2014. An diesem Tag hatte er im Radio von dem Anschlag auf eine Jerusalemer Synagoge mit zunächst vier Todesopfern gehört und wollte mehr über die Hintergründe erfahren. Von dem ZDF-Beitrag sei er „geschockt“ gewesen. Gronauer hatte nach eigenen Worten Bedauern über den Tod der jüdischen Beter erwartet. Stattdessen kamen Angehörige der erschossenen Täter ausführlich zu Wort. Der Vater sei nicht über die Bluttat des Sohnes entsetzt gewesen. Als Motiv werde den Palästinensern „Verzweiflung“ über den Tod eines Busfahrers attestiert, der nach israelischer Darstellung Suizid begangen hatte. Die zu erwartende Hauszerstörung durch die israelische Armee stelle die Journalistin Nicole Diekmann hingegen als „Vergeltung“ dar. Der einzige Israeli, der gezeigt wird, sei ein „durchgeknallter Extremist“, der den Tod aller Araber fordere. Dies führt den Theologen zu der Frage: „Sind etwa zwei terroristische Juden in eine Moschee gestürmt und haben dort vier Beter getötet?“ Er spricht von einer „Inszenierung dieses Videobeitrages“, der Opfer zu Tätern mache. Eine solche Berichterstattung fördere nicht Frieden, sondern Ressentiments. Als antisemitisch will der Referent den Beitrag nicht einstufen. Er vermute eher, dass die Reporterin „in eine Falle getappt“ sei. Jemand habe ihr das Interview mit der Familie zugespielt. Sie sei der Versuchung erlegen, Originaltöne am selben Tag zu haben. „Vier Juden wurden umgebracht, aber Israel ist der Böse“, folgert Gronauer.

Kirchlicher und jüdischer Antisemitismus

Antisemitisch motivierte Gewalt stellt nach wie vor eine reale Gefahr für Juden in Europa dar. Der Referent erinnert an den Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris im Januar. Der Attentäter habe die Geiselnahme und den anschließenden Mord mit der „Unterdrückung der Muslime durch die Juden“ begründet. Damit habe er „die Juden“ als Kollektiv für die „Unterdrückung der Muslime“ verantwortlich gemacht und sich an unbeteiligten französischen Juden gerächt. Bis heute gebe es kirchlichen Antisemitismus – dies sei etwa an der Diskussion über die Jahreslosung von 2006 deutlich geworden: „Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ Diese Worte stehen in Josua 1,5 und damit im Kontext der Landnahme. Das stieß auch in kirchlichen Kreisen auf Kritik. Wie die Juden damals Kanaaniter vertrieben und getötet hätten, handelten die Israelis heute an den Palästinensern, lautete ein Vorwurf. Hier würden Juden verantwortlich gemacht für das, was vor 4.000 Jahren geschehen sei. Das habe mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun, betont der Kirchenhistoriker. Doch Gronauer nimmt auch einen „jüdischen Antisemitismus“ wahr. Als Beispiel führt er das Buch „Verhängnisvolle Scham“ des amerikanischen Juden Marc Braverman an. Dieser führe den Nahostkonflikt allein darauf zurück, dass sich die Juden für das auserwählte Volk hielten. Eine solche monokausale Herleitung werde der Komplexität des Konfliktes nicht gerecht. Ob Israel-Kritik antisemitisch gefärbt ist, lässt sich aus Sicht des Referenten an der 3D-Regel festmachen: Dämonisierung, Delegitimierung, Doppelte Maßstäbe. Diesen Test formulieren die Journalisten Esther Schapira und Georg M. Hafner in ihrem neuen Buch „Israel ist an allem schuld“.

Fair mit Israelis und Palästinensern umgehen

Ein Schlüsselerlebnis war für Gronauer die Begegnung mit einer Pfarrfrau, die pro-palästinensische Aktivistin ist. Sie habe ihm gegenüber israelische Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Als er nach palästinensischen Menschenrechtsverletzungen fragte, antwortete sie: „Das ist etwas anderes.“ Denn Israel habe die Menschenrechtscharta der UNO unterzeichnet, die Palästinenser hingegen nicht. Gemeinsame Werte und Menschenrechte, die für alle gelten, bezeichnet er in diesem Zusammenhang als Voraussetzung für Frieden. Man könne nicht an Israel strengere ethische Maßstäbe anlegen als an den Palästinensern. Gronauer ruft seine Zuhörer dazu auf, sich selbst die Frage zu stellen: „Wie nehme ich den Staat Israel und den Nahostkonflikt wahr?“ Dazu gibt er ihnen als Wissenschaftler einen Rat: „Alles, was wir über oder in Israel hören oder wahrnehmen, ist genauso zu reflektieren wie ein Buch oder eine alte Schrift, die wir entziffern wollen.“ Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erinnert den Theologen an einen verzwickten Ehestreit, in dem jeder notiert, was der andere Böses getan oder gesagt hat. Als Voraussetzung für israelisch-palästinensische Begegnung sieht er eine tiefe Fähigkeit zur Selbstkritik. Diese sei bei den Israelis wegen der inneren Diskussion eher vorhanden. Palästinenser zeigten hingegen weniger selbstkritischen Umgang mit dem Konflikt, sondern eine tiefe nationale Kränkung. Was können Deutsche und Europäer zu einer Befriedung in Nahost beitragen? Auf diese Frage entgegnete Gronauer, ein fairer Umgang mit Israelis und Palästinensern sei wichtig. Auch dürften sich Außenstehende nicht auf das hohe Ross setzen. Er nimmt Bezug auf die teilweise sehr emotionalen Wortgefechte, die er immer wieder zwischen pro-palästinensischen und pro-israelischen Aktivisten erlebe. Auch bei einem fairen Umgang werde es in Deutschland Unterschiede zwischen eher pro-israelischen und eher pro-palästinensischen Auffassungen geben. „Wenn wir es in Deutschland nicht schaffen, zwischen den beiden Lagern in ein konstruktives Gespräch zu kommen, wie sollen wir es dann im Nahen Osten tun?“ Gerhard Gronauer arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das „Synagogenprojekt“ der Augustana-Hochschule Neuendettelsau bei Nürnberg. Die Forscher wollen alle Synagogen erfassen, die um das Jahr 1930 in Bayern bestanden. Seine Dissertation erschien 2013 unter dem Titel „Der Staat Israel im westdeutschen Protestantismus. Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972“. (eh)

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