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Selbstmordattentate: Phänomen islamistischer Kampfführung

Neben den Steine-werfenden Kindern sind es die sich-selbst-in-die-Luft-sprengenden „Märtyrer“, die dem Kampf der Palästinenser gegen das jüdische Israel einen einzigartigen Charakter verleihen.

Seit Beginn der sogenannten Al-Aqsa-Intifada Ende September 2000 haben sich 167 Palästinenser auf den Weg gemacht, um sich selbst in die Luft zu sprengen. Seit Abschluß der Verträge von Oslo im Jahr 1993 waren es 228 Araber, die sich bereit zeigten, für die „Sache Palästinas“ ihr Leben zu geben. Bis zum September 2000 hatten sich 43 Palästinenser in 38 Anschlägen in die Luft gesprengt. Danach gelang es 95 Selbstmordattentätern in 84 Anschlägen, die Zündung ihrer Sprengsätze zu betätigen.

147 dieser Terroristen kamen aus der „Westbank“, dem biblischen Judäa und Samaria, 23 aus dem Gazastreifen. Bei den restlichen 58 Terroristen konnte bislang die Herkunft nicht geklärt werden. Im Oktober 2002 behauptete die israelische Armee, 175 Palästinenser inhaftiert zu haben, die sich auf Selbstmordattentate vorbereitet hatten oder gar schon auf dem Weg zu ihrer Durchführung waren.

Ihr Ziel: Möglichst viele Israelis mit in den Tod zu reißen, ganz gleich, ob Frauen, Kinder oder alte Menschen. Diejenigen, die nicht direkt betroffen sind, sollen demoralisiert und in Panik versetzt werden.

Aber was motiviert einen jungen Menschen, sich selbst in die Luft zu sprengen? Bei der Frage nach dem Warum beginnt das große Raten. Das amerikanische „Time-Magazine“ meint: „Ursprünglich konnte man den potentiellen Selbstmordattentäter einfach beschreiben: Männlich, 17 bis 22 Jahre alt, unverheiratet, ungebildet, ohne Zukunft, religiös fanatisiert…“, muß dann aber zugeben: „Der Bomber von heute paßt nicht mehr in dieses Profil.“

Unter den Selbstmordattentätern der letzten Monate sind hochgebildete Universitätsabsolventen, denen die Welt offen stand, ein Vater von acht Kindern, Männer und Frauen, Kinder betuchter Eltern, sozial Engagierte, eine Studentin mit ausgezeichneten Leistungen, verlobt.

Je vielversprechender der Selbstmordkandidat, desto größer die Ehre für die Familie. Selbstmordanschläge gegen Israel sind in der palästinensischen Gesellschaft gemeinhin akzeptiert. Im Sommer 2002 sprachen sich bei einer Umfrage im Gazastreifen 78 Prozent der Befragten für Selbstmordanschläge aus. An Wänden und Toren der palästinensischen Städte prangen die Plakate der „Märtyrer“.

Am meisten zitiert und der westlichen Denkweise am nachvollziehbarsten ist die schlechte Lebenslage der palästinensischen Bevölkerung. Ganz gewiß trägt das Leben in den Autonomiegebieten, das oft jede Qualität vermissen läßt, seinen Teil zum Phänomen Selbstmordterrorismus bei. Aber die Palästinenser sind bei weitem nicht die einzigen Menschen auf Erden, die seit Jahren unter Besatzung, Ausgangssperren, Einschränkungen der Reisefreiheit, demütigenden Leibesvisitationen und furchtbarer Armut zu leiden haben. Warum also steht diese arabische Volksgruppe wie keine andere für Selbstmordattentate?

Im Juni 2002 ging das Bild des „Baby-Bombers“ aus Hebron, eines Kleinkindes in Selbstmordbomberausrüstung, um die Welt. Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde mühten sich zwar, das Bild als „billige israelische Propaganda“ abzutun, zeigten gleichzeitig aber Verständnis dafür, daß palästinensische Eltern ihre Kinder Gewalt gegen Israel lehren. Journalisten gegenüber bezeichnete Redwan Abu Turki die Verkleidung seines Enkels und das Bild dann schließlich als „Witz“.

Auf der Internetseite des militärischen Arms der radikal-islamischen Hamas-Bewegung Iss a-Din al-Kassam ist dieser Tage zu lesen: „Mit den Schädeln der Söhne Zions bauen wir eine Brücke ins Paradies!“ Daneben ist ein Adler zu sehen, der sich am gespaltenen Schädel des israelischen Premierministers Ariel Sharon gütlich tut. Seit Jahren gehört Hetze gegen Israel zum täglichen Leben in der arabischen Welt – trotz des sogenannten Friedensprozesses und oftmals zeitgleich mit Verhandlungen.

Die Hamas-Bewegung garantiert den Familien der Attentäter eine Pension, den Kindern von Selbstmordattentätern Absicherung im Krankheitsfall und die Kosten für die Ausbildung. Der irakische Präsident Saddam Hussein hat die Prämie, die an die hinterbliebene Familie gezahlt wird, mittlerweile auf 20.000 US-Dollar angehoben. Doch über die materielle Absicherung durch die moslemischen Brüder im Diesseits hinaus weiß der zweite Mann der Hamas-Bewegung, Mousa Abu Marzouk: „Der Märtyrer flieht nicht aus dem Leben. Er baut die Zukunft seiner Kinder.“

Vielleicht ist es wirklich die Aussicht auf ein Paradies mit Dutzenden von schwarzäugigen Jungfrauen, die den Märtyrer mit offenen Armen empfangen, die junge Menschen in ein so grausames Schicksal – für sich selbst, aber noch mehr für ihre Mitmenschen – treibt? Nach der Vorstellung dieser radikalen Islamisten reinigt das Martyrium von allen Sünden und garantiert dem Bomber, daß 70 seiner Anverwandten mit ihm in den Himmel kommen.

Seit sich aber auch mehr und mehr (ursprünglich sozialistisch motivierte) Fatah-Aktivisten zu Möchtegernmärtyrern mausern, muß man auch diese Theorie in Frage stellen. Denn welche Jenseitshoffnung hat schon ein ideologischer Urenkel von Marx oder Lenin? Die politischen Führer sehen indes einen durchaus diesseitigen Nutzen. „Seit diese Operationen begannen, hört man in der UNO die Rede von einem Palästinenserstaat, von israelischem Rückzug und von einem Recht auf Rückkehr für die Flüchtlinge“, meint Abu Marzouk von seinem Büro in Damaskus aus zu erkennen.

Was tun? Weder die kläglichen Versuche einzelner führender Palästinenser, Selbstmordattentate als „kontraproduktiv für die palästinensische Sache“ darzustellen, noch die Beteuerungen gemäßigter Muslime, diese Denkweise entspreche nicht dem eigentlichen Geist des Islam, haben bislang vermocht, die Flut der Todessüchtigen einzudämmen. Die Verurteilung dieser Kampfweise als „Kriegsverbrechen“ durch einzelne Menschenrechtsorganisationen haben auf Seiten der Terroristen wenig Eindruck gemacht.

Israelische Strafmaßnahmen haben sich als eingeschränkt effektiv erwiesen. Die Abriegelung der palästinensischen Autonomiegebiete hat in den vergangenen Jahren zwar manches Attentat verhindert. Aber die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind schrecklich und bestärken das Bild vom „kalten israelischen Besatzer“.

Die Zerstörung der Häuser von Selbstmordattentätern soll Familien von potentiellen Terroristen zeigen, daß sich derartige Aktionen nicht lohnen und sie deshalb alles tun sollten, um ein Selbstmordattentat durch ein Familienmitglied zu verhindern. In einer Gesellschaft, in der schon ein Bruder seine Schwester „um der Familienehre willen“ umzubringen vermag, kann der Verlust des Hauses die Ehre aber nur in seltenen Fällen wirklich aufwiegen. Hinzu kommt, daß die internationale Gemeinschaft die Sprengung von Wohnhäusern als Kollektivstrafe ablehnt und jede dieser Aktionen einen Gesichtsverlust für den jüdischen Staat bedeutet.

Weiterhin versuchen die israelischen Sicherheitskräfte gezielt die Infrastruktur des Terrors zu treffen. Dazu gehört auch die gezielte Tötung der Hintermänner und Terrorexperten, die Selbstmordattentäter vorbereiten, ausrüsten und auf dem Weg in den Tod begleiten. Selbstmordbombenanschläge sind hochkomplizierte militärische Operationen, die ein Expertenteam und ein effektives Netz von gut ausgebildeten Aktivisten voraussetzt. Deshalb haben die erfolgreichen Liquidierungen der Schlüsselfiguren der „Selbstmordbomberfabrik“ empfindlich zugesetzt. Natürlich ist die Tötung einzelner Menschen ohne Gerichtsverfahren nach rechtsstaatlichen Maßstäben äußerst umstritten.

Aus der Geschichte sind andere Beispiele von suizidaler Kampfweise bekannt: die japanischen Kamikazeflieger im Zweiten Weltkrieg; die Tamil-Tiger aus Sri Lanka; die Tausenden von Kindern, die im iranisch-irakischen Krieg als Minenräumer eingesetzt wurden und wahrscheinlich die Hisbollah inspiriert haben, in den 80er Jahren erste Selbstmordattentate im Libanon zu verüben.

Gemeinhin wird heute der Beginn der Selbstmordterrorwelle etwa zeitgleich mit den Verträgen von Oslo gesehen, im Jahr 1993. Auf diese These meldete sich in einem Leserbrief an Time-Magazine ein „altgedienter palästinensischer Fedai mit reicher Kampferfahrung und einem Insiderwissen über Opferoperationen (von den Medien als Selbstmord bezeichnet)“ zu Wort, der im Pariser La Santé-Gefängnis eine langjährige Haftstrafe verbüßt: Ilich Ramírez Sanchez.

Der als „Carlos der Schakal“ in die Geschichte eingegangene Topterrorist schreibt: „Seit 1967 war es allgemeine Praxis der Fedayeen, während der Operationen Sprengstoffgürtel zu tragen… Es gibt zahlreiche Beispiele von Aktivisten, die sich in den 70er und 80er Jahren in die Luft gesprengt haben.“

Gewiß, in den vergangenen Jahren wurden die „Opferoperationen“ perfektioniert und den „Freiheitskämpfern“ von heute stehen ganz andere Mittel und Erfahrungen zur Verfügung, als ihren Vorgängern. Aber vielleicht ist das Neue um die Selbstmordattentate weniger das Phänomen an sich, als vielmehr das Bewußtsein in der westlichen Welt dafür, in etwa vergleichbar damit, daß heute immer wieder Stimmen zu hören sind, die behaupten, mit den Anschlägen vom 11. September hätte sich der islamistische Terror gegen die westliche Welt gewandt. Die Geschichte zeigt eindeutig, neu ist nicht die Kampfweise, sondern das Bewußtsein dafür.

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