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Hebräische Passion

Der evangelische Theologieprofessor Stefan Schorch ist Ehrenmitglied der Akademie für die hebräische Sprache. Was dies für ihn als Deutschen bedeutet und warum er sich für das Hebräische begeistert, erzählt er im Gespräch mit Israelnetz. Die Fragen stellte Elisabeth Hausen
Lange Tradition: Stefan Schorch neben der Büste des Hebraistikpioniers Wilhelm Gesenius

Israelnetz: Sie sind seit vergangenem Herbst als erster Deutscher Mitglied der Akademie für die hebräische Sprache in Israel. Was war Ihre erste Begegnung mit der hebräischen Sprache?

Stefan Schorch: Meine erste Begegnung mit der hebräischen Sprache fand im Theologiestudium statt. Ich habe seit 1987 in Leipzig Theologie studiert, und wie alle evangelischen Theologiestudenten lernte ich auch Hebräisch. Mit dem Judentum hatte ich mich schon vorher beschäftigt. Ich bin in einem Haus großgeworden, in dem sehr viel gelesen wird, und auch mit biblischen Texten. Aber ich bin ja in der ehemaligen DDR aufgewachsen, hatte also seinerzeit überhaupt keine Aussichten, jemals nach Israel zu kommen, und hoffte nur vage, dass ich später als Pfarrer vielleicht doch einmal irgendwie eine Besuchsmöglichkeit haben könnte. Aber es gab ja keine diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der DDR, insofern war meine Hoffnung nicht sehr groß.

Und dann kam 1989 die Wende, die ich in Leipzig miterlebt und auch mitgemacht habe. Mit einem Mal ergab sich dann doch die Möglichkeit, von der ich geträumt hatte, und da bin ich zum Studium nach Israel gegangen. Ich hatte in Leipzig bei den Orientalisten schon ein bisschen gesprochenes Hebräisch gelernt, aber das war wie Trockenschwimmen, und ich hatte noch nie mit einem Israeli gesprochen. Die Aufnahmeprüfungen für den hebräischen Sprachkurs in Jerusalem, den Ulpan, habe ich mit sehr guten Noten abgeschlossen, denn die Grammatik konnte ich ja und schriftlich fand ich mich im Hebräischen ausgezeichnet zurecht. Als mich dann aber in Jerusalem, wo ich in die höchste Klassenstufe des Ulpan eingestuft wurde, die Lehrerin das erste Mal gefragt hat, wie ich heiße, da habe ich nicht einmal die Frage verstanden. (lacht)

Wann haben Sie angefangen, sich für das Hebräische zu begeistern?

Das Hebräische hat mich eigentlich vom Anfang des Sprachkurses an der damaligen Sektion Theologie der Karl-Marx-Universität in Leipzig begeistert: Eine völlig andere Welt, völlig anders als die Sprachen, die ich bis dahin kannte und gelernt hatte. Dazu kam, dass ich im Theologiestudium auch das erste Mal guten Sprachunterricht erlebt habe, denn der schulische Sprachunterricht in der DDR war im allgemeinen katastrophal, vor allem weil auf die mit den Sprachen verbundenen Kulturen und Literaturen kaum Wert gelegt wurde. Außerdem konnte man die meisten Sprachen ja überhaupt nicht anwenden. Ich habe acht Jahre Russisch gelernt und in dieser ganzen Zeit kaum einmal Gelegenheit gehabt, mich mit Russen persönlich zu unterhalten.

Und was fasziniert Sie an der hebräischen Sprache?

Ganz viele verschiedene Dinge. Es ist ja stets so: Je mehr man sich mit einem Gegenstand beschäftigt, desto mehr faszinierende Seiten findet man dort. Das wäre wahrscheinlich auch so gewesen, wenn ich Tschechisch oder Japanisch gelernt hätte. Aber das Hebräische hat natürlich auch besondere Seiten, die es von anderen Sprachen unterscheiden: Was mich bis heute fasziniert, ist, dass das Hebräische eine derjenigen Sprachen weltweit ist, deren Geschichte wir am längsten verfolgen können – über 3.000 Jahre hinweg ist Hebräisch gesprochen und geschrieben worden.

Wir können über diese lange Zeit hinweg sehen, wie sich die Sprache entwickelt hat, wie Texte und Literatur in dieser Sprache geschrieben worden sind, wie sich die Menschen, die diese Texte schreiben und lesen, ausdrücken, und wie sich ihre Ausdrucksmöglichkeiten und sie selbst verändern. Diese Möglichkeit bieten ganz wenige Sprachen. Man könnte auch noch das Aramäische nennen, das mich in ähnlicher Weise fasziniert und in vielerlei Hinsicht sogar eine noch vielfältigere Geschichte hat als das Hebräische.

In einer ersten Reaktion auf die Ernennung verwiesen Sie auf den „belasteten Hintergrund der Vergangenheit“. Was bedeutet es für Sie, als erster Deutscher überhaupt Mitglied der Akademie für die hebräische Sprache zu sein?

Wir sind mit der merkwürdigen Situation konfrontiert, dass in Deutschland einerseits eine der Wiegen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Hebräischen steht und die Beschäftigung mit der hebräischen Sprache auf eine großartige Tradition verweisen kann, unter jüdischen wie unter christlichen Gelehrten. Neben diesem großartigen Erbe aber steht die schreckliche Geschichte der Scho’ah, die uns weiterhin beschäftigt und beschäftigen muss. Das kann man auch am Beispiel meiner Fakultät hier in Halle zeigen: Einer meiner Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Bibelwissenschaften war Wilhelm Gesenius, der nicht nur das wichtigste Wörterbuch der hebräischen Sprache verfasst hat, sondern allgemein als der Begründer der Hebraistik gilt, also der neuzeitlichen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Hebräischen.

Aber die bedeutende Geschichte der Hebraistik an unserer Universität geht viel weiter zurück. Schon 1518 wurde in Wittenberg der erste Lehrstuhl für das Hebräische überhaupt in Deutschland begründet, seit fast 500 Jahren also werden die hebräische Sprache sowie jüdische Literatur und Kultur an unserer Universität unterrichtet, auch von jüdischen Dozenten. Dennoch blieben daneben auch Antijudaismus und Antisemitismus lebendig und konnten immer wieder neu entstehen, bis hin zum gezielten Massenmorden während der Scho’ah. Auch einer meiner Hallenser Fakultätskollegen fiel diesen Verbrechen zum Opfer. Er hieß Dr. Moisej Woskin und hat noch nach seiner Deportation in Theresienstadt im Konzentrationslager seinen Mitgefangenen Unterrichtsstunden in Hebräisch und Arabisch gegeben.

Dieser unfassbare Gegensatz ist nun Teil der Geschichte unseres Faches geworden, aus der meine Kollegen und ich nicht einfach heraustreten können. Er ist zugleich ein Aspekt, unter dem auch unsere Fachkollegen aus Israel auf uns Hebraisten in Deutschland blicken. Das ist eine große Verantwortung, die ich als ständige Herausforderung empfinde, als etwas, dem ich mich nicht entziehen kann und nicht entziehen möchte.

Wie kamen Sie in Kontakt mit der Akademie?

Über viele verschiedene Wege. Hebräisch wird weltweit an Schulen und Universitäten gelehrt, Kollegen von mir arbeiten in Australien, China und Japan ebenso wie in Europa oder in den Vereinigten Staaten, sogar in vielen Ländern der arabischen Welt. Ich bin seit einiger Zeit im Kontakt mit einem Kollegen aus dem Irak, der sich an der Universität von Bagdad mit mittelalterlichen Texten zur hebräischen Grammatik beschäftigt, und der hoffentlich auch bald einmal als Gastwissenschaftler zu uns nach Halle kommen kann.

Einerseits sind wir also ein international sehr gut aufgestelltes Fach. Andererseits aber ist Israel für alle, die sich mit der hebräischen Sprache beschäftigen, das Zentrum. Dort wird nicht nur Hebräisch gesprochen und ein reiches hebräische Kulturleben gepflegt, sondern dort sind auch die meisten Spezialisten für das Hebräische in allen seinen Facetten tätig, dort befinden sich die führenden Forschungseinrichtungen, und dort entstehen heute mit Abstand die wichtigsten Arbeiten zur hebräischen Sprache. Ohne die ständige Zusammenarbeit mit israelischen Kollegen kann man sich Hebraistik heute überhaupt nicht mehr vorstellen, und in der Akademie für hebräische Sprache sind die besten unter ihnen versammelt.

Welche Aufgaben haben Sie in der Akademie?

Meine Aufgabe ist zunächst einmal, meine Forschung fortzusetzen und mich weiter für das Hebräische einzusetzen, in Forschung und Lehre. Das ist nur in enger Zusammenarbeit mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen der Akademie möglich. Ob die Akademie darüber hinaus um meine Mitarbeit bei zukünftigen Projekten bittet, werde ich sehen. Das derzeit wichtigste Akademieprojekt ist das Historische Wörterbuch des Hebräischen.

Zudem liegt eine sogar gesetzlich vorgegebene Aufgabe der Akademie darin, das heutige Hebräische weiterzuentwickeln und als Ansprechpartner für alle das Hebräische betreffenden Fragen zu dienen. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass die Akademie Wörter vorschlägt, wenn neue Bezeichnungen notwendig werden, so etwa für neue Maschinen und Geräte, das Internet, Handytechnologie und so weiter, aber auch im Bereich der Geographie oder Mathematik. Wichtig ist auch, dass die Zusammenarbeit mit der Akademie keine Einbahnstraße ist, Kollegen der Akademie kommen also auch zu uns nach Halle, sei es für Forschungsprojekte, sei es für Gastprofessuren. So hat gerade im letzten Jahr der Präsident der Akademie bei uns an der Fakultät einen Kurs zum Hebräischen der Mischna unterrichtet.

Sie fahren regelmäßig nach Israel. Wie oft?

Ich bin im Jahr so etwa zwei Monate in Israel, das nächste Mal ab Mitte Februar. Diesmal werde ich zuerst an einem Seminar teilnehmen, zu dem sich seit längerer Zeit einmal im Jahr Mitarbeiter und Studierende aus Halle, Tel Aviv und Jerusalem treffen. Danach gehen wir gemeinsam ein Wochenende im Negev wandern. Dann werde ich mich noch etwa anderthalb Monate in Nablus und Jerusalem intensiv verschiedenen hebräischen Handschriften widmen, an denen ich derzeit arbeite.

Was wollen Sie für die Akademie erreichen?

Ich möchte an möglichst vielen Aufgaben der Akademie mitwirken und mich an der Erforschung und der Pflege der hebräischen Sprache nach Kräften beteiligen. Das ist nur in der Zusammenarbeit möglich. Deswegen ist es so wichtig, dass die Akademie auch ein Zentrum bleibt, das Kooperationen bündelt und zusammenführt. Meine eigenen Forschungen decken nur einen kleinen Teil der hebräischen Sprache ab, und die Akademie ist noch in vielen anderen Bereichen tätig. So versammelt sie auch ganz unterschiedliche Berufsgruppen, nicht nur Universitätsprofessoren und Forscher, sondern zum Beispiel einige der besten israelischen Schriftsteller und Journalisten. Sie haben oft ganz andere Zugänge zur hebräischen Sprache als wir Forscher, daher können wir viel von ihnen lernen.

Ich schätze an der Akademie, dass sie die Verantwortung für die hebräische Sprache in allen ihren Dimensionen mit verschiedenen Forschungsprojekten verbindet, und ich bin sehr froh, dass die ihre Arbeit ein großes Echo in der israelischen Bevölkerung findet und von den verschiedenen Regierungen stets unterstützt worden ist. So wird derzeit ein neues Gebäude für die Akademie errichtet, direkt im neuen Regierungsviertel in Jerusalem, neben der Knesset.

Sie bieten an der Martin-Luther-Universität auch Kurse in hebräischer Sprache an. Wer besucht sie?

Bei uns erlernen eine ganze Reihe von Studierenden in verschiedenen Studiengängen die hebräische Sprache, jedes Jahr fangen im Durchschnitt etwa 80 Studierende mit dieser Sprache an. Etwa die Hälfte von ihnen erreicht im Verlauf des Studiums ein sehr hohes Niveau. Einesteils handelt es sich um Studierende der Evangelischen Theologie, die meisten von ihnen wollen später Pfarrer oder Lehrer werden. Für Theologiestudierende ist nur das Biblische Hebräisch Pflicht, nicht die Kurse im gesprochenen Hebräisch. Aber nicht wenige finden die Sprache so spannend, dass sie freiwillig im Modernen Hebräischen weitermachen. Sie sind dann auch bald so gut, dass sie unsere Seminare, die auf Hebräisch stattfinden, besuchen können.

Neben dem Theologiestudium haben wir aber auch noch einen ganzen Studiengang, in dem das Moderne Hebräische unmittelbar Gegenstand ist, nämlich den Studiengang Nahoststudien. Dort erlernen die Studierenden sowohl Arabisch als auch Hebräisch, und zwar beide Sprachen sowohl in ihren alten „klassischen“ Formen als auch als gesprochene Sprachen. Wenn diese Studierenden vor der Bachelor-Abschlussprüfung stehen, also nach etwa zwei Jahren, dann sind sie fähig, sich sowohl auf Arabisch als auch auf Hebräisch zu unterhalten, aber auch ebenso die Hebräische Bibel oder eine Koransure zu lesen und zu analysieren. Auch sie schätzen es sehr, dass sie bei uns im Seminar auf hohem Niveau wissenschaftliche Fragen auf Hebräisch diskutieren können, oft auch mit Dozierenden aus Israel, und dadurch Anschluss an die israelische Spitzenforschung haben.

Inwiefern profitiert Ihre Arbeit am Lehrstuhl in Halle von der Tätigkeit für die israelische Akademie?

Sie profitiert sehr stark davon. Wie könnte man denn heute anders Hebraistik betreiben als in Zusammenarbeit mit israelischen Kollegen? Viele von ihnen kommen auch gern und oft zu uns nach Halle. Im letzten Jahr hatten wir zwei israelische Gastprofessoren an der Fakultät, von April bis Juli kommt ein weiterer israelischer Kollege.

Das sind hervorragende Gelegenheiten, gemeinsame Forschungsprojekte zu konzipieren und voranzutreiben. So sind israelische Kollegen derzeit an mehreren Forschungsvorhaben zum Hebräischen der Zeit des Zweiten Jerusalemer Tempels und zum Samaritanischen Hebräisch beteiligt. Dazu beginnen wir gerade ein weiteres Forschungsprojekt, ein Wörterbuch der samaritanisch-hebräischen Sprache.

Daneben aber unterrichten israelische Kollegen bei uns auch regelmäßig. Sie wissen, dass sie bei uns mit Studierenden arbeiten können, die hoch motiviert und hervorragend ausgebildet sind. Unser Institut ist bekannt dafür, in Israel, aber auch weltweit, dass bei uns Lehrveranstaltungen zur hebräischen Sprache auch auf Hebräisch stattfinden, auch das interessiert viele Kollegen. Umgekehrt ist es für unsere Studierenden eine großartige Chance, dass viele der führenden Gelehrten des Hebräischen regelmäßig nach Halle kommen und sie dadurch Gelegenheit haben, bei ihnen zu studieren.

Sie haben sich intensiv mit den Hebräischtraditionen der Samaritaner befasst. Hatten Sie auch schon Gelegenheit, die Feste zu erleben – zum Beispiel das Laubhüttenfest Sukkot oder Pessach? Wenn ja – welche Unterschiede sind Ihnen besonders aufgefallen?

Ich bin in engem Kontakt mit den beiden samaritanischen Gemeinden in Holon in Israel und in Nablus im Gebiet der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ich habe auch schon an vielen samaritanischen Festen teilgenommen, sowohl an den hohen Festen wie Pessach und Sukkot, als auch an Familienfesten, wie etwa Beschneidungsfeiern. Das hängt schon mit meinen beruflichen Interessen zusammen, so sind etwa die samaritanischen Gebete eines meiner Forschungsgebiete. Aber es gibt auch immer eine persönliche Ebene, denn viele Samaritaner und samaritanische Familien kenne ich seit Jahren sehr gut und freue mich, wenn ich zum Mitfeiern eingeladen werde. Manchmal lassen sich die berufliche und die persönliche Seite gar nicht so leicht trennen.

Die Unterschiede zwischen den jüdischen und den samaritanischen Festen sind gerade für das Auge sehr auffällig. Die Samaritaner bauen ihre Laubhütte nicht außerhalb des Hauses wie Juden, sondern im Haus, indem sie die Zimmerdecke mit Früchten schmücken. Am bekanntesten und auffälligsten sind wahrscheinlich die Unterschiede beim Pessachfest, denn die Samaritaner opfern ja nach wie vor Schafe.

Das hat Touristen und Forscher immer wieder angezogen. Mindestens seit dem 17. Jahrhundert und bis heute fahren Besucher extra nach Nablus, um das samaritanische Pessachopfer zu erleben. Natürlich geht es da sehr blutig zu, denn jede Familie schlachtet ein Schaf, aber das Fest ist sehr schön und stimmungsvoll. Ich möchte in meinen Arbeiten allerdings die Aufmerksamkeit vor allem darauf richten, was die Samaritaner selbst mit diesen Festen verbinden, theologisch, historisch, kulturell, und was die einzelnen Teile der Feste bedeuten, also zum Beispiel die Gebete und Riten.

Oder dass es überhaupt noch einen Hohenpriester gibt bei den Samaritanern.

Oder das. Die meisten Besucher der samaritanischen Feste über diese vielen Jahrhunderte hinweg haben sich eben kaum dafür interessiert, was die Samaritaner in ihren Gebeten sagen, was die samaritanische Liturgie eigentlich bedeutet. Auch in interessierten Fachkreisen, jenseits der wenigen Spezialisten, sind die Gebete und liturgischen Texte der Samaritaner kaum bekannt, ebensowenig die vielen Besonderheiten des samaritanischen Textes der Torah.

Da das samaritanische Hebräisch sich dialektal sehr stark von den verschiedenen Formen des jüdischen Hebräisch unterscheidet, gerade vom heute in Israel gesprochenen Hebräisch, versteht man ohne eine eingehende Beschäftigung damit auch kaum ein Wort. In verschiedenen Forschungsprojekten arbeiten wir gerade daran, die wichtigsten samaritanischen Texte zu erschließen und zu verstehen, was da gebetet und gesungen wird, welche Traditionen eingeflossen sind und welche kulturellen Wirkungen die Texte gehabt haben und noch immer besitzen.

Was ist Ihnen da bei Ihren bisherigen Forschungen besonders aufgefallen als Unterschied, eine bestimmte Liturgie oder ein bestimmtes Gebet, ein bestimmter Aspekt?

Der Unterschied zwischen Samaritanern und Judentum, der natürlich allgemein bekannt ist, aber mich weiterhin beschäftigt, weil er sehr vielfältige Konsequenzen hat, ist die Frage des heiligen Ortes – also Jerusalem bei den Juden versus der Berg Garizim bei den Samaritanern. Jerusalem kommt ja in der Torah, im Pentateuch, überhaupt nicht vor, der Berg Garizim schon. Das ist für die Samaritaner ein wichtiges Argument gegen die jüdische Deutung. Aus wissenschaftlicher Sicht können wir zudem heute feststellen, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Massoretische Text in Deuteronomium 27,4 verändert worden ist …

… also der hebräische Bibeltext, der im Judentum als allgemein verbindlich angesehen wird und schon seit dem Altertum verbreitet ist.

Genau – wir wissen heute, dass die Samaritaner in Deuteronomium 27,4 eine ältere Version des Bibeltextes bewahrt haben als die Juden. Nach diesem älteren Text sollte der erste Altar, den die biblischen Israeliten nach dem Durchzug durch den Jordan errichten sollten, nicht später in Jerusalem gebaut werden, und nicht auf dem Berg Ebal – wie es im jüdischen Text steht und daher auch in unseren Bibeln –, sondern auf dem Berg Garizim. Die Differenz zwischen Juden und Samaritanern hat also ihre Begründung auch in der Textgeschichte der Torah.

Hinzu kommen unterschiedliche Verständnisse des Bibeltextes. Mich beschäftigt sehr, wie zwei Gruppen, Juden und Samaritaner, mehr oder weniger denselben Text lesen, die Torah, und damit völlig verschiedene Vorstellungen verbinden konnten, in diesem Fall vor allem hinsichtlich der Geographie und der Konzeptionen eines Heiligtums. Auch in archäologischer Hinsicht ist der Garizim sehr bedeutend, denn dort kann man die Überreste eines alten israelitischen Heiligtums sehen, anders als in Jerusalem, wo wir auf Rekonstruktionen angewiesen sind.

Als eine weitere Besonderheit der Samaritaner, die viele interessante Aspekte aufweist, könnte man auch das Verständnis von Mose nennen. Bei den Samaritanern ist Mose der Prophet schlechthin, er wird also viel stärker in den Vordergrund gestellt als im Judentum oder aber auch in unserer Tradition. Ich habe gerade einen samaritanischen Text gelesen, der Moses Spucke dafür preist, dass sie als Medizin jegliches Leiden heilen konnte.

Sie haben wieder einen längeren Israel-Aufenthalt vor sich. Woran möchten Sie in dieser Zeit arbeiten?

Ich werde mich vor allem bemühen, dass der erste Band meiner kritischen Ausgabe der Samaritanischen Torah fertig wird und in diesem Jahr endlich erscheinen kann. Das Buch ist so gut wie fertig, wir arbeiten schon seit fast drei Jahren „nur noch“ an den Korrekturen. Aber weil wir jedes Detail aus über 30 Handschriften berücksichtigen und dokumentieren, weil das Buch daher eine riesige Sammlung von Textdaten darstellt, bei denen es vor allem auf Genauigkeit ankommt, sind die Korrekturen sehr langwierig.

Wir finden noch immer kleinere Fehler, die wir korrigieren müssen. Ich wünsche mir, dass ich nach diesen anderthalb Monaten in Israel zurückkomme und sage: So, jetzt geht das Buch endlich in Druck. Der Einband ist schon fertig, das Buch sieht von außen schon perfekt aus, aber wir möchten es erst aus der Hand geben, wenn wir alle Angaben mehrfach überprüft haben.

Noch eine abschließende Frage: Ihre Webseite hat das Länderkürzel „at“. Haben Sie eine besondere Beziehung zu Österreich, oder steht es für „Altes Testament“?

Sowohl als auch. (lacht) Meine Frau ist Österreicherin, und insofern habe ich natürlich auch eine besondere Beziehung zu Österreich. Gleichzeitig hält sich das Internet ja nicht an nationale oder historische Grenzen, insofern ist das Länderkürzel auch eine Art Spiel. In meiner wissenschaftlichen Arbeit aber steht natürlich das Thema im Vordergrund, unabhängig von dem Ort, an dem ich mich befinde, und in diesem Sinne verstehe ich das „at“ eben auch als Altes Testament, auch wenn ich anstelle dieses Begriffes oft von der „Hebräischen Bibel“ spreche.

Vielen Dank für das Gespräch.

Am Vorabend ihrer Hebräischprüfung legen die Studenten einen Stein an der Grabstätte von Wilhelm Gesenius ab Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Am Vorabend ihrer Hebräischprüfung legen die Studenten einen Stein an der Grabstätte von Wilhelm Gesenius ab
Mit offiziellem Regierungsauftrag: Die Akademie für die hebräische Sprache in Jerusalem Foto: דניאל צבי, Wikipedia
Mit offiziellem Regierungsauftrag: Die Akademie für die hebräische Sprache in Jerusalem
Imposant: Der Hohepriester Abed-El Ben Ascher (l.) und der samaritanische Priester Husney Cohen 2016 in einer Laubhütte Foto: Israelnetz/mh
Imposant: Der Hohepriester Abed-El Ben Ascher (l.) und der samaritanische Priester Husney Cohen 2016 in einer Laubhütte

Stefan Schorch wurde 1966 in Erfurt geboren. Er studierte ab 1987 Evangelische Theologie und Semitistik in Leipzig, Jerusalem und Berlin. Seit 2009 ist er Professor für Bibelwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ein Schwerpunktthema seiner Forschung sind die Samaritaner.

Elisabeth Hausen

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