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Theologe: Innerisraelische Kritik nicht zu Israelkritik machen

WETZLAR (inn) – Ein Deutscher in Israel hat es schwer, angesichts des komplexen Nahostkonfliktes seinen Standpunkt zu finden. Das hat der Theologe Rainer Stuhlmann am Donnerstagabend bei einer Lesung aus seinem Buch „Zwischen den Stühlen“ deutlich gemacht.
Stuhlmann sieht keinen palästinensischen Verhandlungspartner, plädiert aber für Versöhnung.
Rainer Stuhlmann ist Studienleiter des internationalen ökumenischen Dorfes Nes Ammim in Nordisrael. Die Mitarbeiter bemühen sich um Versöhnung zwischen Deutschen und Israelis, zwischen Juden und Arabern. Der evangelische Theologe hält Beobachtungen über aktuelle Ereignisse und Begegnungen in seinem Blog „stuhlmannzwischendenstuehlen“ fest. Nun hat der Neukirchener Verlag ausgewählte Stücke unter dem Titel „Zwischen den Stühlen“ als Buch herausgebracht. In einer Lesung im mittelhessischen Wetzlar betont Stuhlmann, dass es sich um seine persönliche Wahrnehmung handle. Doch auch die Auswahl etwa der Organisationen, denen er sich widmet, lässt schon eine Positionierung erkennen. Eines macht der Referent während seines gesamten Vortrages deutlich: Dass er Israel als jüdischen Staat nicht nur unterstütze, sondern für unabdingbar halte. Der banale, alltägliche Antisemitismus treibe Juden aus aller Welt nach Israel. Als Beispiel nennt er die Erfahrungen einer britischen Jüdin, die sich wegen der antisemitischen Diskriminierung in den 1950er Jahren zur Auswanderung gezwungen sah. So habe sie mit 18 Jahren in London Probleme gehabt, eine für Juden zugelassene Wohnung zu finden. In Israel sei sie zu einer vehementen Friedensaktivistin geworden.

„Palästinensische Israelis“ als Selbstbezeichnung

Zum Einstieg erklärt der Theologe, warum Nes Ammim im Jahr 1963 gegründet wurde: Erschrocken über den Massenmord an den europäischen Juden hätten Christen aus mehreren Ländern den Wunsch nach einer deutlichen Umkehr gehabt. Denn sie sahen auch den jahrhundertealten christlichen Antijudaismus als eine Wurzel des Hasses, der zu den Gräueltaten der Nazis geführt hatte. Hieraus folgte für die Pioniere eine radikale Absage an jegliche Art der Judenmission. Sie wollten einen Lernort inmitten der jüdischen Welt schaffen, wo jüdische Feiertage und Speisevorschriften den Alltag bestimmen. Bis heute sei Nes Ammim ein Ort der Begegnung. Dort kämen Kinder aus palästinensischen und jüdischen Dörfern bei Sommerlagern zusammen, die sich im Normalfall nicht gegenseitig besuchen könnten. Jüdische und palästinensische Frauen entdeckten, dass sie beide in patriarchalischen Gesellschaften lebten. Auf Nachfrage aus dem Publikum erläutert Stuhlmann, dass es sich um palästinensische Israelis handele, nicht um Bewohner des Westjordanlandes oder des Gazastreifens. Weil jede Bezeichnung für diese Araber ideologisch sei, habe er deren Selbstbezeichnung übernommen.

Neue Dialogfähigkeit zwischen Deutschen und Israelis

Ein weiteres Thema der Lesung ist das Verhältnis von Deutschen und Israelis. Der Autor wundert sich über das große Interesse an Deutschland in Israel: „In Haifa lernen Israeli im Rentenalter Deutsch oder frischen es auf. Sie wollen mit den ‚neuen Deutschen‘ sprechen, sagen sie und haben nicht nur die Anwendung ihrer Sprachkenntnisse im Sinn. Sie brechen die Tabus ihrer Kindheit und arbeiten die Verdrängungen in ihren Elternhäusern auf.“ Stuhlmann fragt: „Was ist da geschehen siebzig Jahre nach dem Holocaust?! Der wird nicht verschwiegen. Aber er verhindert nicht mehr die Kommunikation. Es ist wie ein Wunder. Israelische Juden und nicht-jüdische Deutsche sind dialogfähig geworden. Sie bejahen die Rollen der Opfer und der Täter, aber sie lassen sich nicht mehr darauf beschränken.“

Mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen illegale Siedler

Um „verstörende Begegnungen mit Siedlern“ geht es in einem dritten Teil: „Wir haben uns von einem Rabbi aus einer der jüdischen Siedlungen in der Westbank einladen lassen. Ein überaus freundlicher und zuvorkommender Gastgeber, der uns stolz durch seine Siedlung führt. Sie wirkt wie ein Villenvorort im Speckgürtel einer amerikanischen Großstadt. Grüner künstlich bewässerter Rasen und blühende Sträucher passen nicht zu der Situation in den palästinensischen Nachbardörfern, denen von der israelischen Besatzungsmacht unangekündigt immer wieder für Tage das Wasser abgedreht wird. Vom Dach der Talmudschule haben wir einen herrlichen Blick über die vielen Siedlungen, die völkerrechtswidrig in das seit fast fünfzig Jahren von Israel besetzte palästinensische Land gebaut werden.“ Dass viele palästinensische Dörfer kostenlos Wasser von Israel erhalten, findet hier keine Erwähnung. Doch vor allem geht es Stuhlmann um die „Ungerechtigkeit“, welche die christlich-palästinensische Familie Nasser erdulden müsse. Diese besitzt zwischen den Siedlungen von Gusch Etzion einen unbebauten Hügel, das „Tent of Nations“ (Zelt der Nationen), mit der mehrsprachigen Mitteilung versehen: „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Deshalb kämpften sie mit rechtlichen Mitteln gegen israelische Übergriffe auf ihr Land – was aus Sicht des Theologen beweist, dass Israel ein Rechtsstaat ist. Nur müsse das Militärgericht die Rechtsprechung des Obersten Gerichtes, das den Besitz den Palästinensern zuspricht, noch anerkennen. „Unser Gastgeber hat noch nie davon gehört“, schreibt der Autor. „Er weiß nicht, dass jüdische Siedler die Familie Nasser vor Jahren überfallen, die Zufahrtsstraße aufgerissen und blockiert und in einer Nacht 250 alte Ölbäume abgehackt haben. Noch immer ist da niemand, der die Opfer dieser Gewaltakte schützt. Israels Soldaten müssen die Täter schützen. Der Siedler zuckt verlegen mit den Schultern. So recht wollen uns seine Kekse nicht mehr schmecken.“ In seinem Vortrag geht Stuhlmann auf die Anfänge des Siedlungsblockes Gusch Etzion ein: Dort standen einst vier Kibbutzim, deren männliche Bewohner 1948 im Unabhängigkeitskrieg von den Jordaniern getötet wurden. Frauen und Kinder mussten die Ortschaften verlassen. 1967 kehrten sie mit ihren Nachkommen zurück, um die Kibbutzim wieder aufzubauen. Das hält der Studienleiter für rechtens, aber nicht die Tatsache, dass sich dort mittlerweile 150.000 Israelis angesiedelt haben.

Israelkritische Patrioten

Auch das israelische Militär ist ein Thema in dem Buch. Zu Wort kommt ein Sohn russischer Einwanderer namens Alon, der in einer Siedlung aufgewachsen ist. Er hat mittlerweile zwar nicht seinen dreijährigen Militärdienst bereut, aber den unfairen Umgang der Besatzungstruppen mit den Palästinensern. „Wie übt man die Erstürmung eines palästinensischen Hauses? Man erkundigt sich“, zitiert Stuhlmann den jungen Israeli, „beim Inlandsgeheimdienst Shin Bet nach einer unbescholtenen ungefährlichen Familie, um seine unerfahrenen Jungs nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Und dann umstellt man nachts um zwei deren Haus, tritt die Türe ein, wenn sie nicht gleich nach dem Klopfen geöffnet wird, isoliert Frauen und Kinder in einem, Männer in einem anderen Raum, durchsucht das Haus Zimmer für Zimmer, Stockwerk für Stockwerk, hinterlässt unermessliche Verwüstungen, verhaftet den Vater und die älteren Söhne, die dann nach einiger Zeit freigelassen werden, weil nichts gegen sie vorliegt.“ Der Autor analysiert: „Mit diesen wenigen Sätzen macht der junge Israeli deutlich, wie Besatzung funktioniert, was sie für das palästinensische Volk bedeutet und warum die Kritik in Israel so leise ist. Natürlich werden die Soldaten nie erfahren, dass es sich nur um eine Übung gehandelt hat. In der Logik des Systems kommen auch dem Commander keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit seines Tuns. Jede Nacht passieren solche Übergriffe – begründet und unbegründet, auf Verdacht oder zur Übung. Den Zynismus können die nicht spüren, die sich vom Terror bedroht fühlen. Und sie können nicht sehen, wie solche Aktionen langfristig Terror mehr produzieren als verhindern. Die Fragwürdigkeit dieses Systems der Abschreckung und Terror-Abwehr wird erst von außen sichtbar und durchschaubar.“ Die vor allem von der Hamas kritisierte Zusammenarbeit zwischen palästinensischen und israelischen Sicherheitskräften kommt hier nicht zur Sprache. Alon hat sich der in Israel umstrittenen Organisation „Breaking the Silence“ (Das Schweigen brechen) angeschlossen. „Er ist darüber nicht zum Kriegsdienstverweigerer oder zu einem Gegner Israels geworden“, merkt Stuhlmann an. „Im Gegenteil. Er fühlt sich als israelischer Patriot, der seinen Landsleuten die Augen öffnet, der wagt, das System aufzubrechen, das Sicherheit suggeriert, aber in Wahrheit Menschen in Hass und Gewalt gefangen hält.“ Patriotische Israelis entdeckt der Theologe auch unter den Frauen von „Machsom Watch“, die Unrecht an den Checkpoints dokumentieren. Oder bei den „Juden gegen Siedler“ in Hebron. Bei alledem ist dem Deutschen eines wichtig: Innerisraelische Kritik dürfe nicht zu Kritik an Israel werden. Wer die Ausprägungen der internen Auseinandersetzung einfach übernimmt, zählt für ihn zu den „falschen Freunden Palästinas“. Er vergleicht dies mit der Theologie. Innerjüdische Kritik, wie sie sich etwa bei den Propheten oder auch bei Jesus finde, dürfe nicht zu Kritik an Juden werden. Vielmehr müsse sie eine Vorlage für Kirchenkritik bilden.

Landverheißung neu deuten

Theologisch wird der Vortrag auch bei der immer wieder gestellten Frage: Wem gehört das Land? „Das Land gehört uns“ – diesen Anspruch erhöben unterschiedliche Gruppen in der Region. Jüdische Siedler beriefen sich „auf Worte der Bibel, wenn sie den Palästinensern das Land wegnehmen“. Manche muslimische Palästinenser verträten die Ansicht: „Alles Land gehört den Muslimen, in dem der Islam einmal Fuß gefasst hat.“ Manche christliche Palästinenser hingegen konterten: „Wir waren schon hier, bevor es den Staat Israel und bevor es den Islam gegeben hat.“ Stuhlmann zitiert aus Josua 1,13: „Der Herr, euer Gott, schafft euch Ruhe und gibt euch dieses Land.“ Er wertet den Bibelvers als „uralte Zusage an ein Volk ohne Land, das die Wüsten dieser Welt durchzieht und keine Ruhe finden kann. Gott wird euch einen Ort geben, wo ihr Ruhe finden könnt. Dieses Versprechen hat Jüdinnen und Juden immer wieder aufgerichtet und ermutigt, wenn ihnen in einer dreitausendjährigen Geschichte ihr Ort streitig gemacht wurde, wenn ihre Existenz auf dem Spiel stand“. Doch für Juden, die in Israel sesshaft geworden sind, gelte ein anderes Bibelwort. „Darum sollt ihr das Land nicht verkaufen für immer; denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir“, spricht Gott in 3. Mose 25,23. Die Menschen, die dort lebten, seien seine Untermieter. „Haltet euch an den Mietvertrag! Lebt mit den anderen Mietern in Frieden und Gerechtigkeit!“, legt der Referent Gott die Bedingungen in den Mund. Israel als jüdischer Staat sei notwendig. „Aber Ruhe finden können sie in diesem jüdischen Staat nur, wenn dieser die Rechte seiner Minderheiten schützt, wie es jede Demokratie und das jüdische Gesetz fordern.“ In dem Zusammenhang verweist Stuhlmann auf Hesekiel 47, wo es unter anderem um die Grenzen des Landes geht. Doch die letzten Verse würden meist weggelassen: „Und ihr sollt dies Land austeilen unter die Stämme Israels, und wenn ihr das Los werft, um das Land unter euch zu teilen, so sollt ihr die Fremdlinge, die bei euch wohnen und Kinder unter euch zeugen, halten wie die Einheimischen unter den Israeliten; mit euch sollen sie ihren Erbbesitz erhalten unter den Stämmen Israels, und ihr sollt auch ihnen ihren Anteil am Lande geben, jedem bei dem Stamm, bei dem er wohnt, spricht Gott der HERR.“ (Hesekiel 47,21-23) Zu der Autorenlesung eingeladen hatten die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar und die Evangelischen Kirchenkreise Wetzlar/Braunfels. Gastgeber war die Evangelische Kirchengemeinde in Wetzlar-Hermannstein. (eh) Rainer Stuhlmann: „Zwischen den Stühlen. Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina“, Neukirchener/Aussaat, 160 Seiten, 12,99 Euro, ISBN: 978-3-7615-6179-9

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