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„Heiliges Sperma“

Der Dokumentationsfilm „Sacred Sperm“ widmet sich dem Masturbations-Verbot und der Sexualität ultra-orthodoxer Juden. Den Segen für das Projekt hat sich der gläubige israelische Regisseur Ori Gruder von seinem Rabbi und seiner Frau geben lassen. Mit dem Werk bricht der ultra-orthodoxe Filmemacher ein Tabu.
Der religiöse Regisseur Ori Gruder macht Filme für ein säkulares Publikum.

„Einer, der seinen Samen verschüttet, tötet wortwörtlich seinen Sohn“, sagt Rabbi Prosper Malka. Er blickt streng in die Kamera, gestikuliert mit seiner Hand, als wolle er die Wichtigkeit der Worte unterstreichen. Er zitiert aus der bedeutenden jüdischen Kabbalah-Schrift „Sohar“.
Diese Szene stammt aus der Dokumentation „Sacred Sperm“, übersetzt „Heiliges Sperma“. Der ultra-orthodoxe Regisseur Ori Gruder begibt sich in seinem Werk auf die Suche nach Antworten, er will seinen zehnjährigen Sohn über Sexualität aufklären. Gruder ist seit 14 Jahren ultra-orthodoxer Jude. Zum Glauben gelangte er auf der Suche nach Tiefe und Spirituellem. Zuvor lebte der heute 44-Jährige ein säkulares Leben.
Masturbation ist im ultra-orthodoxen Judentum Sünde und damit verboten. Auch wenn das Thema Sexualität elementar ist, ist es gleichzeitig ein gesellschaftliches Tabu, fast niemand spricht darüber. „Jugendliche und auch Erwachsene bleiben mit einem Problem zurück, über das sie mit niemandem sprechen können“, erklärt Regisseur Gruder im Gespräch mit dem „Israelnetz Magazin“.

„Die Mauer einreißen“

In diese Situation setzt Gruder seine Dokumentation. „Es ist ein heikles Thema. Niemand hat zuvor etwas darüber gemacht.“ Darum bat der Regisseur bei seinen Rabbinern um Erlaubnis, bevor er das Projekt startete. Er war „wirklich überrascht“ über deren Ja zum Film. Das moderne Zeitalter und damit verbundene Probleme vermutet Gruder als Grund für den Segen der Rabbiner: „Das Internet, alles ist offener, es gibt eine offenere Sexualität als früher. Das wirkt überall hinein. Überall auf der Welt ist es leicht, das zu bekommen, was du willst.“ Vor ein paar Jahren sei diese Verfügbarkeit noch kein Problem im ultra-orthodoxen, jüdischen Leben gewesen.
Auch von seiner Frau hat sich Gruder den Segen für den Dreh geben lassen. Sie selbst sei jedoch „nicht ganz glücklich mit dem Film“. Sie habe sich Sorgen gemacht, dass dieses Stück ihren Kindern schade, weil die Menschen in ihrer Gemeinde darüber reden werden. Sie fühle sich nicht wohl damit, zu denjenigen zu gehören, „die die Mauer einreißen“.
Neben den Rabbinern seien auch ultra-orthodoxe Eltern ganz neu gefordert. Ihre Kinder vor den weltlichen Einflüssen zu schützen, gelinge nur bedingt. In den religiösen Büchern stehe, wenn du sündigst, bist du ein schlechter Mensch. Gruder sieht eine Möglichkeit für Väter und Mütter, damit umzugehen: „Wir zeigen im Film den Weg der Liebe.“ Eltern sollten ihren Kindern vermitteln: „Ich weiß, dass du etwas falsch gemacht hast, aber ich liebe dich trotzdem.“
Den Film hat Gruder in Zusammenarbeit mit dem israelischen Gesellschaftssender „Kanal 8“ gemacht, nicht jedoch für die ultra-orthodoxe Gemeinschaft: „Er ist für die säkulare Welt, es ist ein Blick von draußen, er ist für die Welt, die unsere Gesellschaft nicht kennt.“ Gruder möchte mit seinem Film eine Diskussion anregen. Wenn das Publikum nach dem Filmende über den Inhalt sprechen oder ihn nochmal sehen will, dann ist es für den Regisseur ein Erfolg. Gleichzeitig hat er „Sacred Sperm“ für sich gedreht: „Jeder Film ist eine Kombination: Du möchtest der Außenwelt etwas sagen, aber auch dir selbst.“ Für seine Kinder hat er den Film nicht gemacht. Sie sollen ihn erst sehen, wenn sie Erwachsene sind: „Unsere Kinder sehen keine Filme, wir haben keinen Computer, wir haben keinen Fernseher, wir haben keine iPhones.“ Der Regisseur wisse aber, dass „tausende und abertausende“ Ultra-Orthodoxe den Film, zwar nicht direkt im Internet, aber in WhatsApp-Gruppen gesehen haben: „Ich weiß es. Alle sprechen darüber auf den Straßen der jüdischen Gemeinschaft, nicht nur in Tel Aviv.“

„Wie machst du einen Film über etwas, was du nicht zeigen darfst?“

Gruder sah sich mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. „Die größte Herausforderung war, einen Film über etwas zu drehen, was du nicht zeigen darfst.“ Nach religiösen Regeln darf gar nichts auf die Leinwand gebracht werden, das mit Sexualität verbunden ist. Er kam zu dem Schluss, dass jeder wisse, worüber er spreche und der Film ohne einschlägige Bilder funktioniere. Auch der Gedanke zermürbte ihn: „Wie kann ich einen Film für die Außenwelt machen, ohne gleichzeitig meiner Welt zu schaden?“
Er sieht seine Situation als „einen schmalen Grat, auf dem ich laufe“. „Ich könnte ein Witz sein für die säkulare Welt. Sie denken sowieso, dass wir verrückt sind, dass dies nichts für Menschen ist. Auch von unserer ultra-orthodoxen Seite könnten sie sagen: Er ist verrückt, warum spricht er darüber? Wie wagt er es, über etwas so Verborgenes von unserer Religion zu sprechen?“ Genau diese Sorge spiegelt sich im Film wider.Während des Drehs kamen Gruder immer wieder Gedanken aus seiner säkularen Vergangenheit. Welche Erinnerungen das waren, benannte der Regisseur im Gespräch nicht konkreter. Früher habe er gelebt und gehandelt, ohne von religiösen Regeln und Verboten zu wissen. „Der Filmdreh war wie eine Therapie für mich.“

„Im Judentum ist derjenige mutig, der seine Leidenschaft bezwingt“

Als er an „Sacred Sperm“ arbeitete, schwirrte dem Filmemacher eine Episode der amerikanischen Sitcom „Seinfeld“ mit dem Titel „The Contest“ (Die Wette) im Kopf herum, die er früher gesehen hatte. Darin wetten vier Freunde. Wer am längsten aushält, sich nicht selbst zu befriedigen, gewinnt. Als Gruder zum Glauben gekommen ist, lernte er: „Der Mutige ist im Judentum nicht derjenige, der geht und kämpft, der mutige Mann ist der, der seine Leidenschaft bezwingen kann.“ Gruders säkulare Vergangenheit befähigt ihn definitiv, dieses Thema ansprechend für Nicht-Ultra-Orthodoxe aufzubereiten.
Bei dem Verbot von Masturbation gehe es nicht um Fanatismus oder Konservativismus, sondern um die Heiligkeit des Lebens, erklärt Gruder. Diese könnten auch Nicht-Gläubige verstehen: „Du musst nicht einmal an Gott glauben. Die Person, die du magst, die Kinder, deine Familie – die sind heilig für dich. Sie sind wichtig für dich. Heilig ist wichtig. Du liebst sie. Wenn du jemanden liebst, empfindest du ihn als heilig. Wenn du das verstehst, dann verstehst du die heilige Samenzelle.“ Aus der Samenzelle könnte eine Person werden. „Als Gott darüber nachdachte, wusste er das und gebot uns, das heilige Leben zu bewahren.“ Gruder bemüht in der Dokumentation auch die Wissenschaft: Eine Samenzelle brauche 63 Tage, um sich zu bilden, andere Körperzellen durchschnittlich nur zwei Tage.
Nachdem Gruder den Film im Dezember auf dem Jüdischen Filmfestival in Jerusalem gezeigt hat, sei eine Gruppe jüdischer Frauen zu ihm gekommen und habe ihn für den großartigen Film gelobt. Nun müsse ein Film aus der Frauen-Perspektive kommen. Er selbst könne diese Aufgabe aber nicht übernehmen. Im Interview sagt Gruder, dass er aktuell nach einer Filmemacherin suche, die einen Streifen über die Sexualität der ultra-orthodoxen Frauen dreht.

Wie kann ein religiöser Jude Filmemacher sein?

Dass Gruder als Ultra-Orthodoxer Filme dreht, und das gar für ein säkulares Publikum, ist ungewöhnlich. Als er sein säklulares Leben ablegte und religiös wurde, beendete er auch seine Arbeit beim Fernsehen, lehnte immer wieder Angebote ab. Er widmete sich religiösen Studien. Doch die Ruhe, die er fand, währte nicht lange. „Ich glaube, dass jeder Künstler tatsächlich eine aufgewühlte Person ist, die nach außen hin die Dinge ausdrückt, die sie bewegt“, erklärt Gruder der israelischen Zeitung „Ha‘aretz“. „Die mich leitenden Rabbiner erkannten an einem bestimmten Punkt, dass ich mich wieder an die Arbeit machen musste, weil meine Aufregung zurückgekommen war.“ Gruder sagt, glücklicherweise habe er einen Rabbi gehabt, der ihn verstanden habe. Der religiöse Leiter habe ihm deutlich gemacht, Gruder müsse wieder beginnen, in dem Bereich zu arbeiten, in dem er vorher tätig war, „oder du wirst nicht ruhig sein“. Und auch der Künstler fühlte „etwas richtig in mir brennen, dass ich etwas mehr brauche“.
So erhielt Gruder eine religiöse Erlaubnis, genannt „Heter“, um zurück zum Film zu gehen. Heute lebt er in Eilat, ist verheiratet, Vater von sechs Kindern und gehört der chassidischen-Strömung im ultra-orthodoxen Judentum an.
Alle seine Filme handeln von Themen verbunden mit Religion, Judentum und Glauben. Sie sind aber stets für ein säkulares Publikum. Das sei sein Weg, mit der Welt in Verbindung zu bleiben, die er verlassen hat. Auf seiner Agenda stehen neue Projekte, die er nach „Sacred Sperm“ verwirklichen will: Schächten, das Tierschlachten in der jüdischen Kultur, wie die Torah es lehrt, sowie eine Dokumentations-Reihe über den Rabbi, Sänger und Geschichtenerzähler Shlomo Carlebach.

Einblick in Verborgenes

Sein aktueller Film „Sacred Sperm“ erlaubt einen einzigartigen Einblick in eine Welt, die den meisten Menschen verborgen bleibt. Gruder erklärt das Thema aus dem religiösen, dem wissenschaftlichen Blickwinkel, aber auch aus der Sicht eines besorgten Vaters. Das macht die Dokumentation persönlich und emotional. Er klärt in der 60-minütigen Dokumentation auf, packt das Tabu-Thema mit Respekt an.
Während des Jüdischen Filmfestivals Berlin zwischen dem 10. und 20. Mai feiert „Sacred Sperm“ am Dienstag, den 19. Mai, Deutschland-Premiere. Er ist sehr sehenswert, nicht nur ein Mal. (ms)

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