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„Jeder Tag ist ’48“

Das Jahr 1948 hat sich in das kollektive Gedächtnis der Araber als „Nakba“ eingebrannt. Palästinenser berichten, wie „die Katastrophe“ bis heute ihr Leben prägt.
Die Zelte hinter einem Stacheldrahtzaun mit den aufgemalten Jahreszahlen sollen zeigen, dass die Araber aus und von Israel vertrieben wurden. Das Bild ist an der Wand eines Flüchtlingslagers im Westjor­danland aufgemalt.

Der Holocaust der Juden in Europa wird im Hebräischen als Scho‘ah, Unheil oder Katastrophe, bezeichnet. Davon abgeleitet legten die Araber den Begriff Nakba, Katastrophe, für das Phänomen der geflohenen Araber aus Palästina fest.

Als Israel seine Staatsgründung ausrief, verließen mehr als 700.000 Araber ihre Häuser und gingen in die benachbarten arabischen Länder. Diese hatten versprochen, sich der „Juden in Palästina anzunehmen“. Wenn das erledigt sei, könnten die Geflüchteten wieder ihre Häuser beziehen, inklusive derer, in denen die Juden wohnten. Doch die Juden gewannen den Krieg und ließen Araber, die sich zum Kriegsende in den feindlich-arabischen Nachbarstaaten befanden, nicht in ihre Häuser zurück.

Heute gibt es mehr als fünf Millionen Palästinenser, die als Flüchtlinge gelten. Darüber, wie es zur Flucht der Araber kam und in welchem Ausmaß Juden den Arabern Unrecht antaten, streiten sich Historiker bis heute. Die Fälle, in denen jüdische Soldaten der arabischen Zivilbevölkerung im Rahmen des Krieges Gewalt antaten, liegen jedoch weit unter dem, was immer wieder behauptet wird.

Eine israelische Organisation, „Zochrot“, dokumentiert auf ihrer Homepage die bekannten Ereignisse: In Filmen, Augenzeugenberichten, Landkarten und Fotos wird die Flucht der Araber von 1948 thematisiert. Trotzdem bleibt die genaue Zahl der Ereignisse im Dunkeln. Und doch ist fast jeder Palästinenser heute überzeugt, dass seine Vorfahren damals von den Juden gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Zeitzeugen sollen in Jerusalem zu finden sein, in Israel und im Westjordanland. Ein Muhtar, der Ortsvorsteher eines Jerusalemer Stadtteils, ein Fremdenführer und ein Mitarbeiter des UN-­Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) versichern einstimmig: „Es gibt sie noch“. Wo genau ich diese finde, können sie mir nicht sagen. Der palästinensische Reiseleiter Samir versicherte mir am Telefon, er bringe mich mit Zeitzeugen von 1948 zusammen. „Meine Mutter ist in einem Flüchtlingslager aufgewachsen. Vielleicht kann sie berichten.“

Geschäftsschädigende Wahrheit

Samir arbeitet eng mit Israelis zusammen und führt regelmäßig Touren für Besucher aus aller Welt in der Westbank durch. Die Gruppen trifft er nie in Israel, obwohl er jeden Monat mindestens einmal nach Jerusalem kommt: „Ich bekomme eine besondere Genehmigung wegen meines Geschäfts. Aber das müssen die Gruppen ja nicht wissen. Wenn sie mich auf der anderen Seite treffen, verstehen sie viel besser, was Besatzung bedeutet.“

Als wir uns treffen, ist von der Mutter keine Rede mehr. „Sie ist erst nach ‘48 geboren“, lautet seine knappe Antwort. „Doch schade, dass du meine Großmutter nicht mehr kennengelernt hast. Sie hätte dir erzählen können.“ Dann erzählt er selbst von den Geschichten, die er von seiner Großmutter als Kind zu hören bekam: „Sie erzählte uns, wie sie aus Angst vor den Juden ihr Dorf verlassen hätten. Wie schön es dort gewesen sei. Natürlich wussten wir, dass sie die Geschichte ausschmückte, dass sie übertrieb, auch wenn sie beim Erzählen weinte, obwohl das Ereignis Jahrzehnte zurücklag. Doch wir Kinder liebten es, ihr immer wieder zuzuhören.“

Seinen richtigen Namen möchte er lieber nicht genannt wissen. Das könne sich geschäftsschädigend auswirken. Doch versichert er: „Deutsche buchen ganz besonders gern meine Touren. Und sie mögen, was ich ihnen zu erzählen habe.“ Er zeige ihnen das „wirkliche Palästina“. Und er versteht sich als Sprachrohr der einfachen Palästinenser. „Die Nakba – das ist doch eigentlich immer. Wir leben die Vertreibung jeden Tag.“

„Das Problem ist der Zionismus“

Mit Samir ist ein Treffen in Ahmads Haus vereinbart. Dort wollen wir seinen Bruder treffen. „Der kennt ganz viele Geschichten von Leuten, die diese Zeit miterlebt haben“, versichern mir Ahmad und Samir. Doch weil der Bruder auf sich warten lässt, entspinnt sich ein Gespräch mit Ahmad, einem UNRWA-Mitarbeiter. Vielleicht kommt es letztlich gar nicht darauf an, ob man die Ereignisse selbst miterlebt hat oder nur Geschichten weitererzählt, die man in den vergangenen Jahrzehnten in der Nachbarschaft gehört hat? „Schau“, beginnt Ahmad: „Du suchst nach Menschen, die 1948 dabei waren. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter. 1948 ist für uns jeden Tag. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an das Haus zurückdenke, das meine Eltern damals verlassen mussten.“ Seine Frau Dana pflichtet ihm bei. Sie tischt süßlichen Kaffee auf, der in der arabischen Welt so gern getrunken wird.

Ahmad hätte kein Problem, mit den Juden zusammenzuleben, „das Problem ist der Zionismus“. Was das genau sei? „Eine politische Strömung, die die Vernichtung der Araber zum Ziel hat.“ Das wüssten alle, und auch die Nachrichten auf Facebook würden das bestätigen, ergänzt Dana. „Dabei sollten die Juden am besten alle in die Länder zurückgehen, aus denen sie ursprünglich gekommen sind. Sie wohnen ja erst seit kurzem hier.“ Stolz berichten viele Palästinenser, dass ihre Vorfahren vor zweihundert, dreihundert oder fünfhundert Jahren aus Saudi-Arabien, dem Jemen oder vor hundert Jahren aus Armenien gekommen sind. Dass auch nicht alle Palästinenser schon immer in Palästina gelebt hätten, sieht Dana nicht als Widerspruch.

Samir fasst in Worte, wovon heute die meisten Palästinenser überzeugt sind: „Unsere Kultur ist Jahrtausende alt. Und jeder weiß doch, dass wir unter den Arabern die gebildetsten sind.“ Übrigens verrät auch Samirs Nachname, dass er ursprünglich kein Araber ist. Darauf angesprochen grinst er: „Meine Familie ist mit den Kreuzfahrern ins Land gekommen. Und wahrscheinlich kamen sie aus Spanien oder Italien.“

Aus den Zeltlagern von 1948 sind längst ganze Städte geworden, wie hier in Deheische bei Bethlehem. Die Mehrheit der Flüchtlinge aus Israel wohnt bis heute in den engen Palästinenserstädten. Foto: Israelnetz/mh
Aus den Zeltlagern von 1948 sind längst ganze Städte geworden, wie hier in Deheische bei Bethlehem. Die Mehrheit der Flüchtlinge aus Israel wohnt bis heute in den engen Palästinenserstädten.

Ob Ahmad an die UNRWA glaube? „Auf keinen Fall“, sagt er, der selbst seit 15 Jahren als Sozialarbeiter für UNRWA arbeitet. „Sie haben uns verraten. Sie sollten sich dafür einsetzen, dass wir in unsere Häuser zurückkehren können.“ Für Ahmad ist klar: Eine Lösung kann nur sein, dass er das Haus seiner Familie von 1948 zurückbekommt. „Sa-na’ud“, „Wir kehren zurück“, ist ein viel zitierter Slogan, der von Palästinensern weltweit am Leben erhalten wird, selbst wenn diese längst in anderen Staaten leben und deren Staatsbürgerschaft besitzen.

Außerdem bewahren viele Familien auch den Schlüssel ihrer alten Häuser auf, als Symbol, dass sie jederzeit bereit sind, dorthin zurückzukehren. Nachgemachte Schlüssel lassen sich heute auch auf arabischen Märkten für wenig Geld erwerben, doch die Botschaft ist klar. Schlüssel und der Ruf nach „awda“, der „Rückkehr“, werden in den Familien lebendig gehalten, in Schulen und Sommerlagern wird dieser Ruf noch verstärkt, und UNRWA-Mitarbeiter stehen fast geschlossen hinter diesen unrealistischen Forderungen. Eine Normalisierung und Integration der Palästinenser in die jeweilige Gesellschaft ist so also gar nicht möglich.

Palästinenser klein gehalten

Palästinenser, vor allem die in den Flüchtlingslagern, werden von der arabischen und westlichen Welt finanziell und ideell in ihrer Opferrolle gehalten und gestärkt. Weder erwähnt jemand die Drohungen der arabischen Nachbarstaaten von 1948, den neu gegründeten Staat Israel zu vernichten. Noch wagt jemand einen Erklärungsversuch, warum die Nachfahren der etwa 120.000 Araber, die damals in Israel blieben, heute im jüdischen Staat als Bürger vor dem Gesetz gleich sind, und warum Israel das einzige Land ist, das es geschafft hat, seine arabischen Flüchtlinge zu integrieren und daher keine Flüchtlingslager benötigt. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Geschehnissen um die Staatsgründung Israels ist begrüßenswert. Dazu gehört das Hinterfragen des unkritischen Narrativs der Palästinenser jedoch ebenso wie das Brechen des Schweigens über das Tabuthema der jüdischen Flüchtlinge.

Noch habe ich die versprochenen Zeitzeugen nicht getroffen und auch Ahmads Bruder ist nach zweieinhalb Stunden nicht gekommen – doch Samir gibt mir Telefonnummern von Basel in Galiläa und Muhammad in Haifa: „Sie kennen auf jeden Fall Leute, die von 1948 berichten können.“ Ich bin gespannt, sie kennenzulernen und ihnen zuzuhören.

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 2/2018 des Israelnetz Magazins. Diese besondere Themenausgabe befasst sich mit dem 70-jährigen Bestehen des Staates Israel. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

Von: Merle Hofer

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