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„Was ist bildsamer, was ist verheißungsvoller als ein Kind?“

Die Schneller-Familie schuf mit dem Syrischen Waisenhaus in Jerusalem eine Einrichtung mit Strahlkraft. Die Wechselfälle des 20. Jahrhunderts bereiteten das Ende der Sozialarbeit in Jerusalem. Von Marcel Serr
Begründete das Syrische Waisenhaus in Jerusalem: Johann Ludwig Schneller

„Wenn überhaupt jemand den Titel verdient ‚Patriarch der Palästinamission‘, dann ist er es: Johann Ludwig Schneller“, urteilt Siegfried Hanselmann in seinem Buch über die evangelische Mission im Heiligen Land. Über drei Generationen hinweg entfaltete die Familie Schneller ihre Missions- und Bildungstätigkeit in Jerusalem. Im Zentrum stand das „Syrische Waisenhaus“ – ein Erziehungsinstitut, das im gesamten Nahen Osten seineshleichen suchte, und das nicht zuletzt zum Anwachsen der arabisch-protestantischen Gemeinde im Heiligen Land beitrug.

Die Anfänge: Johann Ludwig Schneller

Schon in jungen Jahren entwickelte Johann Ludwig Schneller (1820–1896) einen Hang zur Missionsarbeit. Bereits als Jugendlicher schrieb er in sein Tagebuch: „Nimm Dich besonders der Heiden an, die noch ganz in Finsternis und Todesschatten liegen, auch der Juden, (…) auch der Mohammedaner. Herr Jesu, ziehe sie alle zu Dir.“

Schneller, der in ein einfaches, pietistisches Elternhaus in einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb geboren wurde, erlernte den Lehrerberuf, und arbeitete später als Direktor einer Strafanstalt. 1847 zog er nach Basel und half Christian Friedrich Spittler (1782–1867) bei der Ausbildung von Handwerkern zur Mission in St. Chrischona, wo auch Conrad Schick auf seinen Aufenthalt in Jerusalem vorbereitet worden war. Nach sieben Jahren wurde Schneller gemeinsam mit seiner Frau Magdalena Böhringer ins Heilige Land entsandt, um sich dort dem angestrebten Brüderhaus zu widmen.

Mitte des 19. Jahrhunderts beschränkte sich Jerusalem im Wesentlichen auf das Innere der Stadtmauern. Nächtliche Beduinenüberfälle ließen die Einwohner abends den Schutz der Ringmauer aufsuchen. Gerade einmal schätzungsweise 15.000 bis 20.000 Menschen lebten in der Stadt. 1841 hatten England und Preußen ein anglikanisch-protestantisches Bistum gegründet. Die umtriebigen Mitglieder der kleinen Gemeinde kamen insbesondere aus Deutschland und England.

Als das Ehepaar Schneller 1854 in Jerusalem eintraf, war das von Spittler 1846 gegründete Missionshaus beinahe vollständig verlassen. Spittler hatte es als Kolonie von Handwerken zur Judenmission konzipiert; doch er hatte Conrad Schick und Ferdinand Palmer, die hierfür nach Jerusalem geschickt worden waren, nicht mit ausreichenden finanziellen Mittel ausgestattet. So mussten sich die beiden bald anderweitig durchschlagen.

Schneller merkte rasch, dass das Brüderhaus nicht zu retten war, und setzt alles auf eine Karte: 1856 kaufte er auf eigene Kosten ein Stück Land vor den Mauern Jerusalems. Warnungen, dass es zu gefährlich sei, außerhalb der Stadtmauern zu wohnen, schlug er in den Wind. Das Ehepaar renovierte ein verfallenes Steinhaus auf dem Gelände und schon bald wurden ihre ersten beiden Söhne, Theodor (1856–1935) und Ludwig (1858–1953), geboren.

Zunächst hatte sich Schneller die Mission der muslimischen Bevölkerung im nahegelegenen Dorf Lifta zum Ziel gesetzt. Doch das Unterfangen erwies sich als erfolglos. Die Bewohner überfielen sogar mehrmals sein Zuhause. Zu allem Überdruss verpasste Schneller Ludwigs Geburt, weil er auf dem Weg von Jerusalem nach Hause überfallen und ausgeraubt wurde. Die Familie war gezwungen, zeitweise in der Schule von Bischof Samuel Gobat auf dem Zionsberg, der das anglikanisch-protestantische Bistum in Jerusalem leitete, Zuflucht zu suchen. Doch bereits neun Monate später zogen die Schnellers wieder in ihr Haus.

Eine 80-jährige Erfolgsgeschichte

Das Jahr 1860 war eine Zäsur im Wirken Schnellers. Im heutigen Libanon (damals ein Teil Syriens) kam es zu blutigen Christenverfolgungen. Schneller handelte rasch und rettete neun Waisenkinder aus der Gefahrenzone. In Jerusalem eröffnete er auf seinem Grundstück nun das „Syrische Waisenhaus“. Dies markierte den Beginn einer 80-jährigen Erfolgsgeschichte.

Getreu Schnellers Motto „Was ist bildsamer, was ist verheißungsvoller als ein Kind?“ sollten den Kindern und Jugendlichen sowohl christliche Glaubensgrundsätze als auch eine praktische Berufsausbildung vermittelt werden. Auf diese Weise sollten sie zu „nützlichen Gliedern der Kirche Jesu Christi unseres Herrn erzogen und gebildet werden“. Schnellers Ziel war es, seine Schützlinge in die Lage zu versetzen, selbst für sich zu sorgen – „Hilfe zur Selbsthilfe“ nennt man das heute in der Entwicklungszusammenarbeit.

Nach einer Grundschule für die 6– bis 14-Jährigen folgte eine vierjährige Berufsausbildung. Dabei wurde viel Wert auf handwerkliche Tätigkeiten gelegt. Die Unterrichtssprache war Deutsch und Arabisch. Die Schüler kamen aus dem gesamten Nahen Osten; unter ihnen waren Protestanten, Griechisch-Orthodoxe, Katholiken, Kopten und Maroniten.

Schnellers Ansatz war eine Ausnahme im Heiligen Land. Andere christliche Einrichtungen konzentrierten sich in erster Linie auf das Predigen und die Bereitstellung von Sozialleistungen. Schneller war dies zu wenig; er wollte seinen Zöglingen einen nachhaltigen Start ins Leben bieten.

Trotz anfänglich widriger Umstände und großer Budgetzwänge erweiterte Schneller die Einrichtung schrittweise. Er organisierte Lehrer aus dem Ausland und weitete sukzessive die handwerklichen Fachabteilungen aus. Bis Ende der 1870er Jahre entwickelte sich das Syrische Waisenhaus zur größten protestantischen Erziehungsanstalt in Jerusalem. 1871 waren bereits 55 Kinder im Waisenhaus untergebracht und 1884 mehr als 90. 1882 wurde zusätzlich eine Abteilung zur Ausbildung von Blinden eröffnet. Ende der 1890er Jahre gab es eine Schmiede, eine Schreinerei und Töpferei sowie Werkstätten für Schuhmacher, Schneider, Bäcker, Buchdrucker, Buchbinder, Maurer und Schlosser. Mittlerweile waren rund 200 Schüler im Alter zwischen 4 und 17 Jahren eingeschrieben.

„Ein Flaggschiff deutsch-protestantischer Fortschrittlichkeit“

Am 18. Oktober 1896 verstarb Johann Ludwig Schneller; seine Beerdigung auf dem protestantischen Zionsfriedhof war eine der größten, die Jerusalem bislang erlebt hatte. Der älteste Sohn, Theodor, übernahm nun die Geschicke des Waisenhauses. Er hatte in Basel, Berlin und Tübingen Theologie studiert und war zum Diakon geweiht worden. 1885 war er nach Jerusalem zurückgekehrt und agierte seither als Assistent seines Vaters.

Unter seiner Leitung erreichte das Waisenhaus den Zenit seines Erfolges. Zumal die Bildungsarbeit des Syrischen Waisenhauses nun vom nationalen Großmachtstreben des Deutschen Kaiserreiches unterfüttert wurde. Damit avancierte die Schnellersche Anstalt „zum Flaggschiff der deutschen wie der protestantischen Fortschrittlichkeit“, wie der israelische Historiker Gil Gordon feststellte.

Gelungene PR-Aktion

So ließ es sich denn auch Kaiser Wilhelm II. bei seiner Reise ins Heilige Land 1898 zur Einweihung der protestantischen Erlöserkirche in Jerusalem nicht nehmen, dem Schneller-Anwesen einen Besuch abzustatten. Während Ludwig Schneller – der jüngere Sohn Johann Ludwigs und extra aus Deutschland angereist – dem Kaiser auf dem Glockenturm die Umgebung zeigte, betreute Theodor die Delegation der Kaiserin Auguste Victoria, und zeigte ihr die Einrichtung.

Dank dieser PR-Aktion dehnte sich der Spenderkreis erheblich aus. Damit entwickelte sich das Syrische Waisenhaus bis zur Jahrhundertwende zum größten christlichen Internat der südlichen Levante, das über 300 Schüler beherbergte – längst nicht mehr nur Waisen. Es gab einen regelrechten Bewerbungsboom; viele wollten in den Genuss der fortschrittlichen Erziehungs- und Bildungsarbeit kommen.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war das Schneller-Anwesen aus dem Stadtbild Jerusalems nicht mehr wegzudenken. Es handelte sich um eine gewaltige Einrichtung, das größte deutsche Grundstück in Jerusalem. Der Komplex bildete ein separates Stadtviertel mit einer eigenen Kirche, einem Mädchen- und Jungeninternat, einem Kindergarten sowie einer Grund- und Volksschule, ein Lehrerseminar und ein Gemeindezentrum.

Außerdem beherbergte die Schneller-Schule das einzige motorisierte Werkstatt- und Handwerkszentrum Jerusalems sowie die einzige moderne Ziegelfabrik im Nahen Osten. Das gesamte Erscheinungsbild des Viertels war durch und durch europäisch geprägt. Die Infrastruktur (Wasser, Abwasser, Wege) war die modernste von ganz Jerusalem. Dabei standen die Dienstleistungen des Schneller-Komplexes (wie etwa die Druckerei) allen offen – ungeachtet der Herkunft und des Glaubens. So wurde auch die Zeitung „Haschkafa“ von Elieser Ben-Jehuda dort gedruckt.

Niedergang

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges legte die Arbeit des Syrischen Waisenhauses vorübergehend auf Eis. Theodor Schneller wurde zum Vertreter aller Deutschen in Jerusalem ernannt. Ludwig war an der Westfront als Militärseelsorger aktiv. Die Einrichtungen in Jerusalem und an anderen Stellen im Heiligen Land wurden häufig vom deutschen und osmanischen Militär genutzt.

Mit der Einnahme Jerusalems durch die Briten kam Theodor unter Hausarrest. Erst 1922/23 genehmigten die Briten die Wiedereröffnung. Theodor Schneller übernahm erneut die Leitung; sein ältester Sohn, Pfarrer Hermann Schneller (1893–1993), war für die geistliche Verwaltung zuständig; er hatte in Tübingen und Marburg Theologie studiert. Als Theodor Schneller 1927 in den verdienten Ruhestand ging, kam mit seinem Sohn Hermann die dritte Generation als Direktor des Waisenhauses zum Zug.

Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges setzten die Briten dann sämtliche Deutsche in Palästina unter Arrest. Im Mai 1940 wurde das Syrische Waisenhaus schließlich geschlossen. Das Gelände wurde von den Briten in ein Militärlager umgewandelt und beherbergte das größte Munitionsdepot im Nahen Osten. Im März 1948 verließen die Briten das Gelände. Die Etzioni-Brigade nutze das Syrische Waisenhaus im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 als Operationsbasis. Anschließend ging es in den Besitz des Staates Israel über.

Nachtrag

Als klar wurde, dass ihm der Zugang zum israelischen Jerusalem verwehrt blieb, gründete Hermann Schneller Anfang der 1950er Jahre die Johann-Ludwig-Schneller-Schule im Libanon, und Mitte der 1960er Jahre mit Hilfe seines Sohnes Ernst Schneller (1901–1986) die Theodor-Schneller-Schule in Jordanien. Neben diesen Schulen existiert bis heute der Evangelische Verein für die Schneller-Schulen mit Sitz in Stuttgart, der die Bildungseinrichtungen unterhält.

In Israel erweckt das Syrische Waisenhaus aufgrund des Denkmalschutzpotentials starkes öffentliches Interesse. Das Gebäude wurde bereits in den 1980er Jahren in die Liste der 110 bedeutendsten historischen Stätten Jerusalems aufgenommen. Die israelischen Streitkräfte räumten das Gelände 2008. Die Stadtbehörde bewilligte den Bau von Wohnanlagen und eines Parks unter Erhalt der historischen Gebäude. 2013 wurde der Komplex an einen Bauunternehmer verkauft. Bei Erdarbeiten entdeckten Archäologen 2015/2016 antike Überreste, unter anderem ein römisches Badehaus und eine große Weinproduktionsstätte der 10. Legion.

Marcel Serr ist Politikwissenschaftler und Historiker. Von 2012 bis März 2017 lebte und arbeitete er in Jerusalem – unter anderem als wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der israelischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der Militärgeschichte des Nahen Ostens.

Von: Marcel Serr

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